Apologeten des Westens

Literatur Marxismus müsste antikolonialer und weniger eurozentristisch sein, schrieb Domenico Losurdo
Ausgabe 15/2021

Es gibt in diesen Tagen wenige Marxisten, die so provokativ und originell schreiben können wie der 2018 verstorbene Philosoph und Ideengeschichtler Domenico Losurdo. Auch das Buch über den Westlichen Marxismus, das jetzt endlich in deutscher Sprache erscheint, geht mit den heiligen Kühen dieser Denkschule – und da handelt es sich immerhin um Großintellektuelle von Bloch, Adorno, Horkheimer, Sartre bis zu Althusser, Foucault, Negri/Hardt, den unvermeidlichen Žižek und andere – keineswegs zimperlich um. Losurdo liest ihnen genussvoll die Leviten. Der Sündenfall beginnt bereits in der ersten Generation: Bloch, Benjamin, dann die Repräsentanten der entstehenden Kritischen Theorie sind nach dem Ersten Weltkrieg Propheten einer totalen Revolution, die dem Monstrum „Staat“ und der Geldwirtschaft endgültig den Garaus macht, beseelt von einem utopischen Messianismus, der einen „Umbruch der Macht zur Liebe“ (Bloch) anstrebt.

Den Puristen geht anders als Lenin der Sinn für politische Realität ab. Sie sind frustriert, ja abgestoßen, als sie beobachten, wie nach der Oktoberrevolution die Realpolitik der „roten Zaren“ (Bloch) sich entwickelt. In ihrem Eifer übersehen sie nicht nur, dass etwa Lenin 1921 seine Neue Ökonomische Politik einführt, um das Überleben der Revolution zu retten. Sie ignorieren, dass er den Kampf gegen den Kolonialismus zu einer zentralen Aufgabe der Komintern macht. Hier beginnt für Losurdo der fundamentale Irrweg des westlichen Marxismus. Dessen bedeutende Repräsentanten (und der Autor nimmt da nur Lukács aus, dem er Isolation bescheinigt) haben keinen Sinn für den antikolonialen Kampf, den sie bagatellisieren, sie bleiben befangen im Eurozentrismus (und dem Fokus auf die westliche Welt). Dabei ist, so der Autor, die antikoloniale Revolution „der Hauptinhalt des 20. Jahrhunderts“.

Rassistische Einflüsse

Losurdo zeichnet die auch außerhalb des Dritten Reichs tief sitzenden rassistischen Vorurteile nach, die den Kolonialismus erst möglich gemacht haben. Er findet sie bei amerikanischen Präsidenten (selbst bei Theodore Roosevelt), die zum Teil wie Jefferson und Washington selbst Sklavenhalter waren, bei amerikanischen wie europäischen Theoretikern und Philosophen wie dem Utilitaristen Bentham oder dem US-Autor Lothrop Stoddard, dessen Ideen „für Hitlers Feldzug zur Kolonialisierung Osteuropas und der Versklavung der Slawen“ Anleitung boten. Der italienische Marxist vergisst auch nicht auf die in England verbreiteten rassistischen Vorurteile einzugehen, die bei Churchill nachzuweisen sind und die Kolonialpolitik in Indien erst ermöglicht haben. Was Losurdo an rassistischen Entgleisungen entdeckt, verstört.

Nicht unproblematisch ist, wie der Provokateur Losurdo mit Reizfiguren wie Stalin oder Mao umgeht. Ihm geht es darum, zu einer unvoreingenommeneren Bewertung zu kommen, indem er dem Schwarzbuch des Kommunismus eine Art „Schwarzbuch des Liberalismus“ gegenüberstellt. Der auf seinen Liberalismus stolze Westen ist, wie sich an vielen historischen Beispielen zeigt, allzu bereit zu imperialen Aktivitäten in den ehemaligen Kolonien beziehungsweise den „Staaten des Bösen“: von ökonomischen Boykotts bis hin zu unter der Flagge humaner Interventionen geführten Kriegen, die in Wahrheit auf die Sicherung von Macht abzielten, die bis in die Gegenwart mit der „white supremacy“ praktisch identisch blieb. Gegen die Überläufer zur Totalitarismustheorie à la Hannah Arendt verweist Losurdo auf den emanzipatorischen Gehalt des östlichen Marxismus, der in seinen Augen in China, Vietnam und Kuba der drohenden Allmacht des durch Rassismus unterfütterten American Way of Life Grenzen gesetzt hat. Den über die tatsächlich nicht wie gedacht ablaufenden postrevolutionären Entwicklungen frustrierten Idealisten des westlichen Marxismus hält er vor: Ihr Purismus schlägt regelmäßig in eine Apologie des liberalen Westens um, die sich nicht mehr von den handelsüblichen Lobliedern auf die amerikanische Demokratie abhebt (Horkheimer oder Lucio Coletti sind da einschlägige Beispiele).

Losurdos zweifellos zugespitzte Argumentation macht nachdenklich. Waren die subtil argumentierenden Intellektuellen des westlichen Marxismus nicht tatsächlich überraschend einäugig? Haben sie den antikolonialistischen Kampf nicht ignoriert (gar verachtet) und so den Kampf gegen den Rassismus lange bagatellisiert (Ausnahmen wie Fanon bestätigen die Regel)? Und ist das Scheitern der Revolution im Westen tatsächlich gleichzusetzen mit dem Scheitern des Marxismus insgesamt?

Mit der elitären Verachtung der antikolonialistischen Errungenschaften in den ehemaligen Kolonien möchte Losurdo Schluss machen. Das Schisma zwischen westlichem und östlichem Marxismus soll der Vergangenheit angehören. Dieser Ansatz ist aber nur zukunftsfähig, wenn er zweigleisig verfährt: Die westlichen Marxisten sollten sich die trotz aller subtilen Brillanz vorhandenen blinden Flecken ihrer Sicht der Dinge bewusst machen. Die Protagonisten der östlichen Variante können aus der inzwischen reichen Geschichte des westlichen Marxismus lernen, wie Kritische Theorie mit den blutigen Seiten des vergangenen Jahrhunderts (zumal dem Antisemitismus) und mit durch ökonomischen Fortschritt auftauchenden neuartigen Krisenphänomenen umzugehen hat.

Info

Der westliche Marxismus. Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte Domenico Losurdo PapyRossa 2021, 279 S., 19,90 €

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