Vom Vagabunden zum Professor - so der Titel eines Gesprächs mit Ursula und Leo Kofler, das 1989 in Köln geführt wurde. Als Kofler noch zu Zeiten der "Sowjetisch besetzten Zone" in Halle an der Saale zum Universitätslehrer berufen wurde, hieß es ähnlich: Vom Autodidakten zum Professor. Tatsächlich hat Koflers Leben wenig gemein mit üblichen akademischen Karrieren und Gepflogenheiten. Seine Biografie ist in mancher Hinsicht das Gegenbild zu der des von ihm verehrten ungarischen Philosophen Georg Lukács. Kofler entstammt einer jüdischen Bauernfamilie aus Ost-Galicien, die dem Landleben eng verbundene Mutter sprach kein Deutsch, während der Vater auf seinem (kleinen) Gutshof für Lassalle schwärmte und seinem Sohn weniger jüdische religiöse Traditionen als deutsches Kulturgut nahe legte.
Wie die jüngst erschienene Monographie des Bochumer Historikers Christoph Jünke, der erste umfassende Versuch einer Darstellung von Koflers Werk und Leben, minutiös aufzeigt, ist das Leben des österreichisch-deutschen Philosophen jüdischer Abstammung gezeichnet durch eine Abfolge von Fluchten. Die erste, verursacht durch die russische Armee, führt die Familie ins Rote Wien (1915-1938), wo er die Handelsakademie besucht und sich mit unterschiedlichen Brotberufen über Wasser hält, die zweite in Schweizer Flüchtlingslager (1938-1947). Kofler, der auf dem Heldenplatz Hitlers Einzug in Wien miterlebt, kann sich vor den Nazis retten, während seine Eltern im Krieg Opfer der Judenvernichtung werden. Für den überzeugten Marxisten, der noch in den Schweizer Lagern die - man muss das schon so sagen - Maloche im Straßenbau mit dem Theoretisieren und Studieren zu verbinden weiß, kommt dann aus der SBZ der Ruf nach Halle.
Der Weg in den sozialistischen Teil Deutschlands ist mit Träumen verbunden, die sich rasch als Illusionen erweisen. Für den sich an einem authentischen Marxismus orientierenden Novizen in der sozialistisch-akademischen Welt ist im Reich der Hager kein Platz. Bereits 1950 muss Kofler erneut fliehen. Und er wird in der BRD der Restaurationszeit ein kümmerliches Dasein fristen müssen. Das gilt nicht nur in persönlicher Hinsicht (Jünke beschreibt eindrucksvoll die Lebensumstände, des Stalinismus-Kritikers, der aber Marxist bleibt und nicht bereit ist, den Weg der Wolfgang Leonhards zu gehen), sondern auch theoretisch. Erst die Neue Linke der 68er spült auch Koflers Werk aus den Randzonen des intellektuellen Diskurses wieder in das Licht linker Öffentlichkeit. Obwohl Kofler für den SDS und die Neue Linke insgesamt eine persona non grata bleibt, erhält der Philosoph in einem Alter, in dem normaliter die Emeritierung ansteht, einen Ruf nach Bochum (als Nachfolger Urs Jaeggis). Mit dem Abstieg der APO und nach der Wende gerät mit dem Marxismus insgesamt auch das Werk Koflers erneut an den Rand der akademischen Welt.
Die von Jünke stets in einen größeren Kontext eingebettet dargebotene romanreife Lebensgeschichte des Mannes, der auch unter den Pseudonymen Stanislaw Warynski und Jules Dévérité publizieren musste, zeigt eindrucksvoll und spannend dessen Sonderstellung im marxistischen Universum (Sebastian Kleinschmidt, Chefredakteur von Sinn und Form, würde es vermutlich vorziehen vom marxistischen Orden zu sprechen). Kofler verkörpert (vielleicht wie Sartre und Marcuse, so zumindest der britische Historiker Perry Anderson) den Gegentyp zu Georg Lukács und Althusser, die Mitglieder der KP wurden, deren strenge Disziplin akzeptierten und so den Kontakt zum Leben der Arbeiterklasse und deren Kämpfen aufrecht erhalten konnten. Die andere Option war es, als unabhängiger Intellektueller außerhalb der Parteiorganisationen zu verbleiben. Die damit verbundene Freiheit wurde erkauft durch das Fehlen einer "Verankerung innerhalb der Gesellschaftsklasse, um derentwillen die theoretische Arbeit am Marxismus letztlich einzig bedeutungsvoll ist" (Anderson).
Kofler hielt trotz zeitweiliger Mitgliedschaft in SED und dann SPD stets Abstand zu den Organisationen der Arbeiterbewegung. Das blieb auch so während der Blütezeit der Neuen Linken. Der Sachverhalt ist eigentlich erstaunlich angesichts des polemischen Temperaments Koflers, das sich nicht gerade durch akademische Differenzierung oder gar Vornehmheit auszeichnete. Bereits Überschriften mancher Artikel sind verräterisch, so zum Beispiel Ein vulgo-sophistischer Denker. Über Jürgen Habermas (1977) oder Haut den Lukács - Realismus und Subjektivismus (ebenfalls 1977).
Adorno fand eine direkte Auseinandersetzung mit Koflers Kritik an der Frankfurter Schule unter seinem standesgemäßen Niveau. In einem Privatbrief schreibt der Kopf der Kritischen Theorie an Kofler, er verstehe nicht, warum sich der Polemiker zu einer "Primitivierung der zur Diskussion stehenden Fragen, die kaum mehr ermöglicht, sich auch nur über das zu verständigen, worüber diskutiert wird" verleiten lasse, einer Primitivierung "diesseits des Niveaus", auf dem er (Adorno) arbeite. Adorno erkennt in Kofler "den verhängnisvollen Dogmatismus, den Sie (Kofler), so will mir scheinen, beibehalten haben, obwohl Sie so bitter erfahren haben, wohin er in praxi führt".
Als Polemiker ein Talent nicht immer mit Erfolg, hat Kofler doch in Jünkes Augen einige theoretische Leistungen erbracht, die es wert erscheinen lassen, seiner mit Respekt zu gedenken. Mindestens fünf Aspekte können angesprochen werden: In seinen theoretischen Hauptwerken Die Wissenschaft von der Gesellschaft (1944) und Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (1948, vollständig erst 1992 erschienen), vertritt und reaktualisiert Kofler Positionen des Westlichen Marxismus - zu einer Zeit, als sich zum Beispiel der Begründer dieser Schule unnötig schroff von den Intuitionen seines genialen Frühwerks Geschichte und Klassenbewusstsein verabschiedet hat.
Kofler verbindet - so Jünke - in origineller Weise Positionen Lukács´ und des Austromarxisten Max Adler, dessen Vorlesungen er in Wien eifrig besucht hatte. Von ersterem übernimmt er das Modell materialistischer Dialektik (mit dem Kernbegriff der konkreten Totalität), von letzterem - und darauf legt Jünke besonderen Wert - das Konzept einer verstehenden Soziologe, die sich einer streng rationalistischen, kausalgesetzlichen Gesellschaftswissenschaft verpflichtet weiß. Er transformiert Adlers Lehre von den Sozialprioris in eine marxistische Anthropologie, während Lukács sich auf den Weg macht, eine marxistische Ontologie zu begründen. In Koflers Anthropologie findet auch das dionysische Prinzip seinen Raum, der Eros wird Moment der materialistisch recht verstandenen Praxis.
Für Kofler ist der Mensch auch ein "im schöpferischen Tun erotisch genießender und im Genuss sich tätig verwirklichender Mensch", insofern gehört zur menschlichen Praxis auch ein wesenhaft irrationales, eben erotisches Element. Neben den eher grundsätzlichen theoretischen Statements zählen zeitdiagnostische Arbeiten Koflers zu den starken Seiten seines Werkes. In Jünkes Augen ist Koflers Stalinismus-Kritik radikaler noch als die Lukács´ - und sie wurde wesentlich eher (in den frühen fünfziger Jahren) formuliert. Frustriert von den Unsäglichkeiten des Stalinismus und von der Lethargie des Proletariats in den Zeiten der Wohlstandsgesellschaft, formuliert Kofler sein Konzept einer neuen Avantgarde, die er die progressive Elite nennt. Darunter versteht er unabhängige Individuen aus allen politischen und sozialen Milieus, die am Rande der gesellschaftlichen Organisationen eine Art Pariadasein führen. Gemeint sind humanistisch-progressive Menschen unterschiedlicher Couleur, die, sich dem Nihilismus widersetzend, "quer durch alle traditionellen, sozialen und weltanschaulichen Fronten hindurch" (Kofler) wirksam sind, sozusagen den Marsch durch die Institutionen bereits angetreten haben.
Zweifellos ist nicht nur Koflers Leben und Werk bemerkenswert, auch Jünkes Arbeit verdient Anerkennung. Wie er in vielen Jahren die schwierige Materiallage bewältigt hat, verdient Respekt. Kofler selbst hatte weder Buch geführt über seine Publikationen, noch diese systematisch aufbewahrt. Der Nachlass besteht, wie Jünke schildert, gerade einmal aus einer Handvoll von Pappkartons mit Zeitungsausschnitten, "unleserlichen handschriftlichen Notizen und einer Mappe mit (zumeist unwichtigem) Briefwechsel". Erschwerend wurde Jünke die Arbeit gemacht, dass Teile des koflerschen Nachlasses noch zu Lebzeiten bei "Schülern" ausgelagert wurden, von denen einige die Einsichtnahme verweigerten. Dennoch findet der Leser viele interessante Details, nicht zuletzt Korrekturen an Koflers Selbstbild.
Unter anderem weist Jünke in einer Analyse des 62-seitigen Manuskripts Ideologie und Mythos. Zur erkenntnistheoretischen Grundlegung der Politik nach, dass dieser mit Georg Lukács´ frühem Werk bereits 1937 vertraut war und nicht erst in der Schweiz bekannt gemacht wurde. Bei aller Sympathie für den Gegenstand seiner Untersuchung scheut der Biograf nicht einen kritischen Blick auf die Schwächen., wobei eine Vorliebe des Autors für Lefèbvre oder Jameson sowie Peter Cardorffs Studien über Irrationalismus und Rationalismus in der sozialistischen Bewegung deutlicher sichtbar wird als eine etwa für Herbert Marcuse.
Defizite bemerkt Jünke vor allem in den letzten Lebensjahren. Während Koflers immer noch größer werdendes theoretisches Vorbild Lukács zu seinen bedeutenden Synthesen, der Eigenart des Ästhetischen und der Ontologie des gesellschaftlichen Seins, gelangt, beobachtet der Chronist bei Kofler eine Art Regression. Der durch das Scheitern der 68er Revolte Frustrierte entschärft seine einst so radikale Stalinismus-Kritik, er rechtfertigt den Einmarsch der Sowjets in Prag (Lukács schreibt unterdessen seine Demokratisierungsschrift, in der er die Tradition der Rätedemokratie zu aktualisieren versucht), wird später Anhänger Gorbatschows. Zuletzt neigt er zu Ironie, Sarkasmus, ja Zynismus.
In summa: Oskar Negt hatte sicher nicht unrecht, als er den Eigensinn (eine durchaus positive Eigenschaft) als Merkmal Koflers hervorhob. Frank Benseler schrieb über Kofler 1961 in einer Hausmitteilung an den Luchterhand-Verlag: "Kofler ist in der Tat in einer Reihe mit Lukács, Bloch und Mayer zu sehen. In der Bundesrepublik dürfte Kofler der einzige namhafte Vertreter des Marxismus sein, dessen Werkmaßstab der Humanismus ist. Innerhalb der Diskussion um den Marxismus stellt das Buch über die bürgerliche Gesellschaft eine unentbehrliche Stimme dar." Diese 1961er Einschätzung ist eventuell heute etwas zu modifizieren: Mayer auf Augenhöhe mit Georg Lukács und Ernst Bloch? Und zum Glück gibt es inzwischen neuere Stimmen, die innerhalb der Marxismus-Diskussion unentbehrlich sind. Freilich nicht sehr viele.
Christoph Jünke: Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler - Leben und Werk. VSA, Hamburg 2007, 700 S., 39,80 EUR
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