Georg Lukács

A–Z Als Bankierssohn beging er Klassenverrat, widmete Leben und Werk der Utopie. Zum 50. Todestag erinnert Lukács-Kenner Rüdiger Dannemann an den großen Philosophen
Ausgabe 22/2021

A

Aufbau Georg Lukács (1985 – 1971) war einer der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts und gilt als der bedeutendste Philosoph in der Geschichte des Marxismus. Er stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Budapester Familie, studierte in Berlin und Heidelberg, Marxist wurde er nach dem Ersten Weltkrieg. Nach der Räterepublik verbrachte er lange Jahre im Moskauer Exil und konnte erst nach dem Zweiten Weltkrieg in seine Heimat zurückkehren. Im Aufbau Verlag fand er eine neue publizistische Heimat, bis 1956. Dann fiel der ewige Dissident in Ungnade, weil er während des Ungarn-Aufstands der Regierung Nagy angehörte. In den letzten Jahren der DDR erschienen wieder Schriften von ihm, konnten nur noch den Untergang des „realen Sozialismus“ (➝ Klassenverrat) begleiten. Die für 1990 geplante Ausgabe von Lukács’ politischem Testament Sozialismus und Demokratisierung wurde nicht mehr realisiert. Er übte starken Einfluss auf die Kritische Theorie und die 68er-Bewegung aus.

G

Grand Hotel Abgrund Dass kluge Intellektuelle sich in radikalsten Denk-Experimenten austoben, ist eine schöne und wichtige Spielerei. 1933, fand Lukács, war die Zeit der Unverbindlichkeiten vorbei. Es galt Farbe zu bekennen. Rot oder braun, Sozialismus oder Barbarei. Lukács verzweifelte angesichts haufenweise Intellektueller, die die bestehende Gesellschaft scharf kritisierten, aber nicht bereit waren, sich politisch zu engagieren (➝ Aufbau). In der einzig wirksamen antifaschistischen Bewegung, der bewusst war, dass Faschismus und Kapitalismus Zwillingsbrüder sind. Später betrachtete er Adorno als prominenten Bewohner dieses Hotels, der in der Theorie hyperkritisch war, in der Praxis aber zahnlos. Der, wenn es darauf ankam, vornehm mit der Achsel zuckte und sagte, der Marquis de Sade sei die notwendige Konsequenz der Französischen Revolution.

H

Humor Sein Schüler István Eörsi nannte 2001 drei Gründe für die enorme Anziehungskraft von Lukács: dessen hohes geistiges Niveau, die Bereitschaft, sein Leben für eine Sache hinzugeben, und seinen Sinn für Humor. Letzterer wird vor allem in seinen Gesprächen sichtbar, etwa im Spiegel (1970): Zum Vietnam-Krieg befragt, erzählt er folgenden Budapester Witz. „Jemand fragt die kybernetische Abteilung des amerikanischen Kriegsministeriums, wann die Vietcong nach ihren Berechnungen besiegt werden. Die Antwort ist: die sind schon seit zwei Jahren vernichtet. Das ist meiner Ansicht nach wie viele Budapester Witze ein ganz guter Witz.“ Im Nachruf auf seinen frühen Lehrer Georg Simmel lobte er schon 1918 dessen meisterlichen Witz, der auf philosophischen Geist verweise:Denn „Geistreichsein bedeutet das blitzschnelle Erfassen und das frappant-prägnante Ausdrücken eines noch unentdeckten philosophischen Tatbestandes, die Fähigkeit, die kleinste und unwesentlichste Erscheinung des alltäglichen Lebens so stark sub specie philosophiae zu sehen, daß sie durchsichtig wird“. Noch der späte Lukács sah sich diesem Ziel verpflichtet.

J

Journalismus Lukács’ Beschreibung des unter den Bedingungen der Warenproduktion schreibenden Journalisten in seinem Meisterwerk Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) ist nicht schmeichelhaft. Er sei ein spezialistischer „Virtuose“, Verkäufer seiner objektivierten und versachlichten geistigen Fähigkeiten. Im Journalismus werden die Subjektivität selbst, Wissen, Temperament, Ausdrucksfähigkeit zu einer Ware. Das sei „nur als Gipfelpunkt der kapitalistischen Verdinglichung begreifbar“. Die verdinglichte Struktur des Daseins praktisch zu durchbrechen, ist für alle, die in dieser Gesellschaft arbeiten, das Problem. Eine neue Kultur kann nur Teil des revolutionären Transformationsprozesses sein.

K

Klassenverrat Der Bankierssohn war lebenslang stolz darauf, Klassenverrat begangen zu haben. Er habe nie, wie viele andere Linke, den Kapitalismus insgeheim wegen seiner Potenz bewundert. Sein Hass auf dieses Gesellschaftssystem stammte aus Kindheitstagen. Er entschied sich für die Sache des Sozialismus mit aller Konsequenz, ordnete ihr Leben und Werk unter. Noch in seinen letzten Jahren sagte er: „Der schlechteste Sozialismus ist immer noch besser als der beste Kapitalismus.“ Es überkamen ihn aber auch Zweifel. Als der Prager Frühling 1968 niedergeschlagen wurde, äußerte er die Befürchtung, das Experiment, das 1917 in Russland begann, sei gescheitert.

L

Lukács-Archiv Seit mehr als 1.000 Tagen ist das Lukács-Archiv geschlossen. Das nach dem Tod in der Wohnung am Budapester Donaukai beheimatete Archiv war wissenschaftliche Forschungsstätte, Treffpunkt der internationalen Lukács-Forschung, Ort unabhängigen Denkens. Als sich 2016 die Ungarische Akademie der Wissenschaften für die Eliminierung des Archivs entschied, gab es eine Protestwelle der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft. Die zeigte, wie tief sich Lukács’ Werk im Bewusstsein der linken Intelligenz eingenistet hat. Unter dem Druck der Proteste nahm die Akademie von ihrem Vorhaben Abstand, das Schicksal des Archivs ist aber prekär: Es bleibt geschlossen; dass die Akademie das Archiv in all seinen früheren Funktionen wieder öffnen wird, gehört ins Reich des Unwahrscheinlichen. Ein Vorstoß der Linken, den Erwerb von Lukács’ Wohnung zu prüfen, stieß im Kulturausschuss des Bundestags auf wenig Gegenliebe.

Ö

Östlicher Marxismus Er hat nicht zu Unrecht seinen schlechten Ruf, man identifiziert ihn mit dem öden Konstrukt des „Marxismus-Leninismus“. Ihm wird seit Merleau-Ponty der bessere, weil undogmatische und intellektuell-subtilere „Westliche Marxismus“ gegenübergestellt. Als dessen Begründer gilt weltweit Georg Lukács. Übersehen wird, dass es ein Pendant gab, eben den Östlichen Marxismus der Dissidenz, zu dem Intellektuelle aus Jugoslawien, Polen, der Tschechoslowakei gehörten. Lukács’ Budapester Schule, die dessen ontologischen Ansatz mit seinen subjekttheoretischen Einsichten im Frühwerk zu verbinden suchte, war vielleicht das wichtigste Beispiel dieser Richtung. Während bei uns die östliche Variante fast vergessen ist, erinnert man sich ihrer recht genau in sogenannten „Schwellenländern“. In Lateinamerika wie in der chinesischen Volksrepublik. Dort wird Lukács heute sehr geschätzt. Als marxistischer Klassiker, der in keine der beiden Schubladen passt.

R

Revolution Für Lukács war 1917, das Jahr der Oktoberrevolution, der entscheidende Wendepunkt seines Lebens. Aus dem „Zeitalter der Sündhaftigkeit“ scheint es doch einen Ausweg zu geben. Mit Geschichte und Klassenbewusstsein ( Journalismus) verfasst er das philosophische Pendant zu den revolutionären Ereignissen.Getragen von der messianischen Hoffnung, die Weltrevolution sei da. Lukács’ revolutionärer Optimismus ist keineswegs naiv. Er weiß um die ideologische Krise der Hoffnungsträger der Revolution unter den Vorzeichen universeller Verdinglichung. Um die Möglichkeit des Scheiterns. Auch nach Auschwitz wird er weiter danach suchen, wie die Barrieren in den Köpfen der Subjekte des großen Befreiungskampfes wegzuräumen sind.

S

Selbstkritik Die Fähigkeit zur Selbstkritik hat Lukács von jedem Angehörigen der kommunistischen Avantgarde verlangt. Stets muss der Gefahr vorgebeugt werden, den Kontakt zu den Massen zu verlieren. Und jeder Mensch existiert heute unter verdinglichten Lebensbedingungen, auch Avantgardisten. Mit sich selbst ist Lukács mit beispielloser Härte umgegangen, hat seine eigenen Werke wegen ihrer Unzulänglichkeiten harsch kritisiert: die Theorie des Romans (1916) wegen ihres bloß „romantischen“ Antikapitalismus, Geschichte und Klassenbewusstsein wegen eines allzu überbordenden Messianismus und „Überhegeln Hegels“. Eigensinn hat sich Lukács bei aller Parteidisziplin nie austreiben lassen. Er verstand sich als loyaler Partisan, der das Recht auf Deutungshoheit hat.

T

Transzendentale Obdachlosigkeit Mit seiner Theorie des Romans (➝ Selbstkritik) schrieb Lukács nicht nur einen Genreklassiker, ihm gelang es, in ingeniöser und bahnbrechender Weise den neuzeitlichen Roman als literarische Gattung zu beschreiben, die wie keine andere die tragische Situation des modernen Individuums auf den Begriff bringt. Die Antihelden des modernen Romans haben sich von den Verengungen der angeblich seligen Zeiten der Prämoderne befreit. Der Blick des romantisch-antikapitalistischen Geschichtsphilosophen diagnostiziert den Preis, den jeder sozialen Bindung verlustig gegangene Subjekte in der kapitalistischen Moderne zahlten: gefangen zu sein im Kerker der Innerlichkeit.

U

Unglückliche Liebe(n) Natürlich lag Lukács nicht selten daneben. Seine Beziehung zu der Malerin Irma Seidler endete so desaströs wie seine erste Ehe mit der RussinJelena Andrejewna Grabenko, Tochter eines Semstwo-Sekretärs in Cherson und emigrierte Sozialrevolutionärin, die er vielleicht als eine ins Leben geratene Dostojewski-Figur missverstand. Auch mit glücklichen literarischen Liebesbekundungen tat er sich schwer. Warum verehrte der junge Essayist einen Paul Ernst? Wieso missdeutete der alt gewordene Ontologe Solschenizyn als Erben der großen russischen Realisten? Lukács liebte die deutschsprachige Kultur. Besonders Goethe und Thomas Mann. Ihm ging während des Zweiten Weltkrieges (vermutlich im Zusammenhang mit seiner Verhaftung 1941) „das ganze Material“ der geplanten Goethe-Monografie verloren, er wurde aber aufgrund einer Intervention von Dimitroff, dem Generalsekretär der Komintern, freigelassen. Dass er Stalins SU überlebte, kommentierte er später lakonisch so: „Glück in Katastrophenzeit“.

Z

Zerstörung der Vernunft Lukács war ein großer Polemiker. Besonders, wenn es um alles oder nichts ging. Als der Nationalsozialismus siegte, ordnete er dem Kampf gegen diesen Feind der Menschheit alles unter. Wie konnte sich in Deutschland, dessen Kultur er so schätzte, dieses System der Barbarei etablieren? Lukács weigerte sich, es als kurzfristige zeitgeistige Verirrung abzutun, dass Philosophen wie Heidegger und Carl Schmitt Hitlers „nationale Revolution“, oft in der entscheidenden Phase der Machtergreifung, aktiv unterstützten. In Die Zerstörung der Vernunft (1954) sieht er die Ursachen in der Aufgabe eines starken Vernunftbegriffs und der damit verknüpften Abkehr von den Ideen der Französischen Revolution ( Grand Hotel Abgrund). Seine Kampfschrift ruft Interesse wie heftigste Ablehnung hervor, zumal er es wagt, die Ikone Nietzsche anzugreifen.

12 Monate für € 126 statt € 168

zum Geburtstag von F+

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden