„Wir können nicht gleichzeitig aus Kohle und Atom aussteigen“, lautet ein Motto von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD). Er meint damit: Der deutsche Atomausstieg erzwingt, dass wir unsere Energieversorgung noch lange auf Kohlekraftwerke stützen, damit die Lichter nicht ausgehen.
Die CO2-Schleudern laufen nicht nur weiter, sondern im 21. Jahrhundert werden in Deutschland sogar noch weitere gebaut. Als im Sommer 2012 in Neurath bei Köln zwei neue Braunkohle-Kraftwerksblöcke eingeweiht wurden, sagte Gabriels Parteifreundin, die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, diese sogenannten BoA-Blöcke hätten eine „besondere Bedeutung“ für die Energiewende. Bei gleicher Gelegenheit bekräftigte der damalige Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU), die neuen Braunkohlemeiler könnten einen „herausragenden Beitrag zum Gelingen der Energiewende leisten“.
Damals stand man noch unter dem Schock der Atomkatastrophe von Fukushima. Für viele war „Energiewende“ identisch mit „Atomausstieg“; und wenn man es so sah, dann schienen die Äußerungen von Altmaier und Kraft fast schon plausibel.
Atomgemeinde wittert Morgenluft
Inzwischen ist der anthropogene Klimawandel als epochale Herausforderung stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Die Betreiber von Braunkohlekraftwerken sehen sich mit der peinlichen Tatsache konfrontiert, dass es keine klimaschädlichere Art der Stromproduktion gibt als eben die Braunkohleverbrennung. Insgesamt muss die Menschheit vom Verfeuern fossiler Brennstoffe abkommen.
Diese Einsicht hat nun die durch Fukushima in die Defensive gedrängte Atomgemeinde Morgenluft wittern lassen. Anlässlich der Klimakonferenz von Paris kam sie im vergangenen November mit der Kehrseite von Sigmar Gabriels Glaubensbekenntnis hervor. In einer Erklärung forderte die „World Nuclear Association“ eine weltweite Verdreifachung der Atomkraftwerks-Kapazitäten bis 2050 – aus Gründen des Klimaschutzes.
Im Reden über Energiepolitik hat sich auf diese Weise eine bemerkenswerte Arbeitsteilung eingeschlichen, bei der fossile und nukleare Brennstoffe sich wechselseitig über die Gefahren des jeweils anderen legitimieren. Uns soll weisgemacht werden, dass wir die Cholera nur mit Pest, und die Pest nur mit Cholera bekämpfen können. Den Klimawandel nur mit Atomenergie, und die radioaktiven Gefahren nur mit fossilen Kraftwerken. Eine solche Alternative hat für Umweltschützer etwas Lähmendes. Aber stimmt sie?
Erneuerbare werden ausgebremst
In dem Jahr, als Herr Altmaier und Frau Kraft Braunkohle als „Beitrag zur Energiewende“ feierten, wurden in Deutschland neue Photovoltaikanlagen (PV) mit einer Kapazität von 7.600 Megawatt installiert. Das „Erneuerbare-Energien-Gesetz“ (EEG) erwies sich seit mehreren Jahren als echtes Erfolgsmodell, obwohl es bereits mehrfach durch Novellierungen verschlechtert worden war.
Insbesondere durch die extreme Kürzung der Einspeisevergütung für PV-Strom gelang es der Bundesregierung im darauffolgenden Jahr, den Positivtrend zu brechen. 2013 wurden nur noch 3300 Megawatt zugebaut. Umweltminister Altmaier nannte dies in einer Pressemitteilung seines Hauses einen „großen Erfolg“. Bis heute war die Bundesregierung noch „erfolgreicher“: 2015 wurden nur noch knapp 1.500 Megawatt zugebaut. Zehntausende Arbeitsplätze wurden in der Erneuerbaren-Branche inzwischen durch Regierungshandeln wieder vernichtet. Der Ruf Deutschlands in der Welt als Energiewendeland wird verspielt. Und mit dem jetzt verabschiedeten EEG 2016 soll nun auch dem Windenergie-Ausbau in Deutschland der Garaus gemacht werden.
Dass wir beim Atomausstieg noch lange Kohlekraftwerke brauchen – das soll durch solches Regierungshandeln mit Brachialgewalt herbeigeführt werden. Oder – auch das werden wir bald wieder hören – dass wir für die Dekarbonisierung weiter Atomkraftwerke benötigen.
Die Konzerne sind dieselben
Zweck dieses üblen Spiels ist es, der traditionellen Energiewirtschaft, die wie kaum eine andere Branche mit der Politik vernetzt und verflochten ist, ihr Geschäftsmodell noch möglichst lange zu sichern. Die Macht hat diese Strom-Riesen wie RWE so selbstsicher gemacht, dass sie die Energiewende verschlafen haben. Genau wie die Großbanken in der Finanzkrise ab 2007 sind sie „systemrelevant“ und müssen deshalb für ihre Fehler nicht geradestehen. Selbst wenn der Planet dabei vor die Hunde geht.
Eine weitere wichtige Funktion dieser Scheinalternative „Kohle oder Atom“ ist es, die Umweltschutzbewegung energiepolitisch zu lähmen. Darin dürfte zumindest bei einigen Akteuren auch eine Absicht liegen. Wenn die „World Nuclear Association“ sich als Sachwalter des Klimaschutzes kostümiert, dann muss man nur einmal schauen, wie klimafreundlich die Betreiber von Atomkraftwerken denn sonst so agieren. Und wenn RWE-Manager sich in Neurath von Bundes- und Landespolitikern bebauchpinseln ließen, ihre neuen Braunkohlestinker seien ideal für die Energiewende, dann muss man sich den RWE-Kraftwerksmix einmal anschauen. Zur Zeit dieser peinlichen Feier hatte der Konzern bereits Verfassungsbeschwerde gegen den Atomausstieg eingelegt.
Die Betreiberfirmen von Kohlekraftwerken und von Atomkraftwerken sind nämlich weithin dieselben. Und beide Kraftwerkstypen folgen derselben Logik einer zentralistischen Stromversorgung mit relativ wenigen Erzeugungseinheiten und mit Höchstspannungs-Fernübertragungsleitungen durchs ganze Land. Genau dieses Modell wird durch die Energiewende gefährdet. Die erlaubt es nämlich, Stromproduktion, Speicherung und Stromverbrauch dezentral in räumlicher Nähe zueinander zu gestalten, und die Wertschöpfung auf viele Regionen und viele Akteure zu verteilen.
Wollen wäre schonmal gut
Das ist also die Frontstellung in der Energiepolitik. Erneuerbare stehen auf der einen Seite der Barrikade, Kohle- und Atom-Konzerne stehen auf der anderen. Keineswegs: Kohle gegen Atom! Die Bundesminister Altmaier und Gabriel hatten und haben keine Probleme damit, parallel zum Atomausstieg den Ausbau der Erneuerbaren zu deckeln, um die alte Energiewirtschaft zu schonen. Das hat dazu geführt, dass wir heute zwei Stromerzeugungssysteme nebeneinander finanzieren müssen, statt den Übergang möglichst zügig zu gestalten. Volkswirtschaftlich betrachtet, ist das kein Meisterstück.
Die Klimaschutzziele sind ohne Steigerung der atomaren Gefahren zu erreichen, wenn die erstickenden Deckel von der Förderung der erneuerbaren Energien – Windkraft an Land und Photovoltaik – entfernt werden; und wenn endlich ein mutiges Förderprogramm für die bisher noch fehlenden bzw. noch zu teuren Speichertechniken aufgelegt wird. Das „deutsche Solarwunder“ ließe sich nämlich bei der Speichertechnik wiederholen: dass eine teure Technik durch Massenproduktion infolge eines klugen staatlichen Anreizprogramms billig gemacht wird. Es ist nur eine Frage des politischen Willens.
Vielleicht hat Sigmar Gabriel dennoch recht mit seinem Satz: „Wir können nicht gleichzeitig aus Kohle und Atom aussteigen.“ Freilich nur in dem Sinne, wie einer seiner Amtsvorgänger im Wirtschaftsministerium, Werner Müller, einmal über das Verhältnis von Energiewirtschaft und Bundespolitik sagte: Er habe „immer das Gefühl gehabt einer Zweiklassengesellschaft: oben die Stromunternehmer und -unternehmen, und dann eben etwas tiefer die Politik“. Dann ist es natürlich schwer mit dem „können“. Immerhin wäre es aber nicht verkehrt, erst einmal zu „wollen“. Wir, die Umwelt- und Klimaschutzbewegung, helfen auch gerne dabei.
Rüdiger Haude ist Öffentlichkeitsreferent beim Solarenergie-Förderverein Deutschland e.V. und Privatdozent für Historisch Orientierte Kulturwissenschaften an der RWTH Aachen
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