How are you today?

Kehrseite Der Aufzug kommt. Die Fahrt wird in mehreren Stockwerken unterbrochen. Wir kommen unten an, die Türen öffnen sich, wir hasten alle gleichzeitig durch ...

Der Aufzug kommt. Die Fahrt wird in mehreren Stockwerken unterbrochen. Wir kommen unten an, die Türen öffnen sich, wir hasten alle gleichzeitig durch die Halle. Ein älterer Mexikaner poliert mit einem flauschigen Tuch die Mahagonivertäfelung, bis sie glänzt, und er sich darin spiegeln kann. Am Ende der Halle, gegenüber den Türen, sitzt der Doorman.

Hello Michael, rufe ich ihm zu.

Hi, Mister van Laak, how are you today?

Er hebt die Hand und winkt zu mir herüber.

I am fine, Michael.

Good, that´s very good, ruft er zurück und lacht.

Ich frage ihn nie, wie es ihm geht.

You have a nice day, ruft er mir nach, wenn ich schon vor der Ausgangstür stehe.

You too, sage ich und blicke zurück.

Mit anderen Doormen wechsele ich kaum ein Wort. Ich grüße sie nur, nicke mit dem Kopf, bin freundlich zu ihnen, aber reserviert. Mit Michael ist das anders. Er lacht so erfrischend. Manchmal bleibe ich bei ihm stehen, und wir wechseln ein paar Sätze. Nichts Besonderes. Ich weiß nicht einmal, ob er verheiratet ist. Michael meint, ich sei Holländer.

Ich gehe nach draußen und an den Blumenbeeten vorbei, die das Hochhaus einrahmen, als müssten sie den Beton des Bürgersteiges von den Hauswänden fernhalten. Gärtner sind damit beschäftigt, die Blumen zu gießen, die Pflanzen für die Hitze des Tages vorzubereiten. Obwohl alle in Eile sind, geht es nicht hektisch zu. Die Taxen warten mit laufendem Motor, Leute steigen ein, sie fahren davon, neue Taxen rücken auf. Ich gehe zu Fuß zu meinem Büro. Es liegt nur einige Blocks von dem Hochhaus entfernt, in dem ich wohne. An der ersten Ecke bleibe ich stehen, schaue auf die Reihe von Zeitungsautomaten, lese Überschriften. Die White Sox haben die World Series gewonnen, oder Chicago stöhnt unter der Hitze. Ich belasse es dabei, die Schlagzeilen zu lesen, werfe keine Münze ein, kaufe keine Zeitung.

Es ist schon sehr warm, obwohl es noch so früh ist. Die Sonne sticht vom Himmel, und es scheint ein Tag zu werden, der wieder einen Rekord aufstellen wird. Welchen, werde ich erfahren, wenn ich abends die Fernsehnachrichten anschaue. Vielleicht war es der wärmste Tag seit zwanzig Jahren. Oder einundzwanzig.

Ein Polizist auf einem Pferd kommt mir entgegen. Er reitet mitten auf der Straße und sieht aus wie ein Cowboy, den es in die Großstadt verschlagen hat. Mit einem breitkrempigen Hut, der ihn vor der Sonne schützen soll. Die Autos fahren rechts und links an ihm vorbei. Das Tier nimmt die Wagen nicht mehr wahr. Mir tut es Leid, dass es auf Beton und Asphalt laufen und die Abgase einatmen muss.

Ich biege um die Ecke und sehe den kleinen, weißen Bus vor mir, der auf die Leute wartet, die zur Shopping Mall gebracht werden wollen. Der dicke Fahrer, der sich selber die Schuhe nicht mehr zubinden kann, steht neben der offenen Tür, der Motor läuft, um den Bus kühl zu halten, und er lächelt mich an und nickt. Wie er es jeden Morgen macht. Ich gehe an ihm vorbei und biege um die nächste Ecke. Dort arbeite ich.

Ich betrete das Büro, das im vierzigsten Stock liegt. Die Autos und Menschen in den Straßen sind winzig klein. Alles wirkt so aufgeräumt und friedlich.

Michael ist nicht mehr da. Zuerst ist mir das nicht aufgefallen. Dass ich ihn für eine Woche nicht sehe, ist nichts Ungewöhnliches. Der Schichtdienst bringt es mit sich, dass er manchmal zur Arbeit kommt, wenn ich meine bereits beendet habe und schon zu Hause bin. Aber irgendwann, wenn unsere Uhren erneut gleich laufen, sehe ich ihn wieder, er lächelt mich an, ruft meinen Namen, fragt, wie es mir geht. Dann komme ich mir vor, als spielten wir beide in einem Boulevardstück, das nicht abgesetzt werden kann, obwohl keine Zuschauer da sind. Immer die gleiche Situation, immer der gleiche Dialog, immer der gleiche Abgang.

Dieses Mal ist es anders. Ich sehe ihn für eine lange Zeit nicht und beginne, ihn zu vergessen. Einmal muss ich noch an ihn denken, als eines Morgens ein Doorman in der Halle sitzt, den ich nicht kenne und der mich so anlächelt, wie Michael es getan hatte. Er grüßt mich, ohne meinen Namen zu nennen, ich grüße zurück.

Ein Neuer, denke ich, und jetzt fällt mir auf, dass ich Michael lange nicht mehr gesehen habe. Wann war es das letzte Mal? Vor einem Monat? Er wird in einem anderen Hochhaus sitzen und zehn Cent pro Stunde mehr verdienen. Und bestimmt so freundlich sein wie hier. Er wird einen anderen Mister van Laak gefunden haben und den fragen, wie es ihm geht. Ich hoffe, er antwortet ihm.

Als ich auf die Straße trete, habe ich Michael schon wieder vergessen. Die Taxen warten, die Gärtner wässern die Blumen, aber bald wird der Regen kommen. Eine erwünschte Abwechslung, die auch einen neuen Rekord mit sich bringen wird. Ich bin gespannt, welchen.

Der Sommer geht in den Herbst über. Das Leben ändert sich nicht. Nur die Tage werden langsam kälter und kürzer. Ich ziehe morgens einen Mantel an, schalte das Licht aus, wenn ich abends mein Büro verlasse. Meine Freizeit verbringe ich ausschließlich unter Kunstlicht. Gärtner graben die verblühten Pflanzen in den Beeten rund um die Häuser aus, bedecken die Erde mit Immergrün. Die Taxen fahren häufiger, weil der Regen einsetzt, und die Menschen nicht nass werden wollen. Den reitenden Polizisten sehe ich nicht mehr, obwohl der Verkehr der gleiche geblieben ist. Es wird ihm zu ungemütlich geworden sein, die Hutkrempe schützt nicht gegen Unwetter. Und die Autos, die durch Pfützen fahren, würden ihn anspritzen. Dem Pferd wäre das wohl egal.

Der Herbst geht in den Winter über. Die Gärtner binden Lichtergirlanden in die blattlosen Bäume, die Weihnachten ankündigen. Der erste Schnee fällt. Die Taxen fahren vorsichtiger, weil die Reifen kaum noch Profil aufweisen. Der Schnee wird auf die Bürgersteige geschoben. Ich schimpfe, als ob sich die schmutzig-weiße Pracht deswegen auflösen würden. Gegen den eisigen Wind im Winter hilft nur eine totale Vermummung. Die Gärtner brauchen nicht zu arbeiten, die Blumenbeete liegen unter einer dicken Eis- und Schneeschicht. Die Zeitungsautomaten an der Ecke sind freigeschaufelt. Die Überschriften sind besorgniserregend. Die Benzinpreise erreichen einsame Höhen.

Der kleine Bus um die Ecke wartet. Der dicke Fahrer sitzt eingeklemmt zwischen der Rückenlehne des Sitzes und dem Lenkrad. Ich wundere mich, wie er das geschafft und ob ihm jemand dabei geholfen hat. Es wird angenehm warm sein im Auto. Aus dem Auspuffrohr steigen die Abgase in die Luft.

Ich betrete mein Büro. Von hier oben sehe ich, dass der Lake Michigan zugefroren ist. Man könnte gut auf ihm Schlittschuh laufen, wenn das nicht verboten wäre. Es ist zu gefährlich.

Ich stehe vor dem Aufzug meines Wohnhauses, warte, bis sich die Türen öffnen, und ich einsteigen kann. Die Luft ist voll Parfum, als würden sich die Menschen im Winter nicht waschen, sondern ihre Ausdünstungen mit einem Duft überdecken. Die Fahrt nach unten nehme ich nicht mehr wahr, erst als sich alle Menschen in Bewegung setzen, weiß ich, dass ich angekommen bin und folge ihnen. Haste wie sie durch die Lobby. Vorbei an dem Mexikaner, der die Mahagonivertäfelung mit einem Spray bearbeitet und mit einem flauschigen Tuch poliert. Er spiegelt sich im glänzenden Holz und ist mit seiner Arbeit zufrieden.

Hi, Mr. van Laak. How are you today?

Ich brauche einige Sekunden, um die Stimme in mich eindringen zu lassen. Woher kenne ich sie? Langsam kommt die Erinnerung zurück. Michael ist wieder da. Ich schaue auf und sehe Michael, der mich anlächelt und aufsteht und seine Krawatte zurechtrückt und auf mich zukommt und mir seine Hand entgegenstreckt.

Hi, Mr. van Laak. How are you today?, wiederholt er.

Ich will schon antworten, aber ich zögere.

Michael, sage ich statt dessen, where have you been ? It´s been such a long time since I last saw you.

It´s been a year, sagt er und dreht den Kopf so, als erwarte er immer noch Antwort auf seine Frage.

I am fine, sage ich und schaue ihn verwundert an. Ich kann immer noch nicht glauben, dass er wieder hier ist.

Good, that´s very good, gibt er zurück und lacht dabei.

But where were you all that time, frage ich.

In Iraq, sagt er, in Baghdad, with the National Guard. It was hell. I can thank my lucky star I´m still alive. You have a nice day.

You too, sage ich und blicke ihm in die Augen.

Rüdiger van den Boom, geboren in Emmerich am Niederrhein, studierte Germanistik und Philosophie in Köln, lehrte am Hertford College der University of Oxfort und an der Tong Ji Universität in Shanghai. Er lebt seit 2002 als Direktor des Goethe Instituts in Chicago.


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