Das BGB

Alte Werte

Solon von Athen wurde 594 vor unserer Zeitrechnung zum Archonten berufen, und er verordnete seiner Heimatstadt umfassende Reformen: Er entschuldete die Bevölkerung, beschnitt die Privilegien des Geburtsadels und änderte Maße und Münzen. Kaum geschehen, nahm er den Athenern das Versprechen ab, seine Gesetze für zehn Jahre nicht zu ändern. Und dann verschwand er. Ab ins selbstgewählte Exil. Er wird gewusst haben, warum.

Diese Selbsterkenntnis wünscht manch ein Jurist auch Herta Däubler-Gmelin. Die Energie, mit der die Bundesjustizministerin seit ihrem Amtsantritt das deutsche Recht umkrempelt, verstört den konservativen Berufsstand. Nicht genug damit, dass ihr Ministerium die doppelte Staatsbürgerschaft und die Homo-Ehe durchpaukt, im Urhebervertragsrecht einschneidende Änderungen plant und - gottseibeiuns - den Zivilprozess fairer und effizienter gestalten will. Jetzt vergreift sich die schwäbische Powerfrau am Allerheiligsten der deutschen Rechtsgelehrten: Am Bürgerlichen Gesetzbuch, dem guten, alten BGB. Hintergrund: Das deutsche Zivilrecht muss bis 2002 wegen einer EU-Richtlinie in einigen Punkten geändert werden. Aus dieser Reform-Not will die Schwaben-Connection im Justizministerium eine Tugend machen - und gleich das gesamte Schuldrecht im BGB neu fassen. Das Schuldrecht ist das Kernstück des Gesetzes: Hier steht geschrieben, was passiert, wenn einer ein Auto kauft oder einen Unfall baut oder ein Darlehen braucht. Das Schuldrecht ist das Grundgesetz des Alltags - und wer sich einmal als Student damit zu befassen hatte, der wird so schnell die Obsessionen nicht mehr los; der fängt an, schon beim Brötchen-Kauf die verschiedenen Willenserklärungen zu analysieren. Kurzum: Herta will ans Eingemachte.

Das Objekt der Reform-Begierde ist kaum zu überschätzen: Das Bürgerliche Gesetzbuch ist ein Dauerbrenner. Ein Bestseller. Ein Exportschlager. Seit dem 1. Januar 1900 gilt es in Deutschland, in seinen Grundzügen ist es unverändert geblieben. Die Versuche der Nazis, ein deutsches "Volksgesetzbuch" zu entwerfen, scheiterten kläglich. Zwar verdiente sich manch ein noch heute angesehener Rechtslehrer seine nationalsozialistischen Sporen damit, hier und da eine Norm in braunem Sinne zu interpretieren. Doch an der Substanz vermochte niemand zu rütteln. So blieb das BGB über die Weltkriege hinweg in Kraft. Selbst die DDR brauchte bis 1975, um ein eigenes Zivilgesetzbuch auf die Beine zu stellen. Noch heute ist das BGB, wann immer eine handliche Ausgabe vom Münchner Beck-Verlag auf den Markt geworfen wird, auf den Bestseller-Listen zu finden. Nicht nur in Deutschland: Zahlreiche Staaten, von Brasilien über Griechenland bis Thailand, haben sich in ihren Kodifikationen am BGB orientiert.

Dieser Erfolg kommt nicht von ungefähr. Denn an der Ausarbeitung des BGB waren hervorragende Männer beteiligt. Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 sollte das zersplitterte deutsche Landesrecht vereinheitlicht werden. Eine erste, elfköpfige Kommission unter Leitung des Richters Eduard Pape tagte von 1874 bis 1887 - mit dabei war der Professor Bernhard Windscheid, der das alte römische Recht für die Bedürfnisse des 19. Jahrhunderts fruchtbar machte. Nachdem die Öffentlichkeit den ersten Entwurf gefleddert hatte, überarbeitete eine zweite Kommission den Entwurf noch einmal vier Jahre lang. Diesmal war der blinde Hannoveraner Gottlieb Planck - ein Liberaler - die treibende Kraft. 1896 schließlich nahm der Reichstag das Gesetz mit großer Mehrheit an, vier Jahre hatte die Praxis Zeit, sich auf das Jahrhundertwerk einzustellen.

Die Sorgfalt und die Ruhe, mit der das BGB geschaffen wurden, waren beispielhaft. Es liest sich nicht runter wie ein Krimi, doch Aufbau und Stringenz sind bestechend. Allein technisch gesehen ein Meisterwerk. Erfolgsgarant aber war die inhaltliche Basis des Gesetzes: Indem man sich aufs Römische Recht und den Liberalismus besann, schuf man ein Werk, das die Moden überdauern konnte. Denn das BGB war geschaffen von aufgeklärten Bürgern für aufgeklärte Bürger. Es nimmt den Menschen ernst, bevormundet ihn nicht. Freiheit und Selbstbestimmung, das sind die Forderungen, die aus den 2385 Paragraphen blinken. Kein Wunder, dass die DDR-Oberen damit nichts anzufangen wussten; kein Wunder allerdings auch, dass das BGB manch einer Ergänzung bedurfte. Schon Otto von Gierke bemängelte 1888 das Fehlen des sozialen Öls in der perfekten Maschinerie. Die BGB-Autoren hatten zwar erkannt, wie wichtig es ist, dass Bürger frei verhandeln. Doch sie hatten übersehen, dass nicht alle Bürger gleich stark sind - und also nicht alle auf gleicher Ebene frei verhandeln können. Dieses Ungleichgewicht bedroht die Privatautonomie, also mussten Arbeitnehmer- und Verbraucherschutzrechte her.

Hier setzt der aktuelle Reformplan an: Die zahlreichen Nebengesetze zum Verbraucherschutz sollen ins BGB integriert werden. Plus: All die Defizite, die im letzten Jahrhundert entdeckt wurden, sollen ausgebügelt werden. Denn so perfekt das Buch auch ist, beim Wust der Regelungen und der zu regelnden Probleme bleibt das eine oder andere auf der Strecke. Mehr Klarheit, mehr Rechtssicherheit und auch mehr Verbraucherfreundlichkeit jedoch könnten bei der Reform herausspringen. Nur große inhaltliche Sprünge sind nicht geplant. Ohnehin lehren die Jahrzehnte mit dem BGB, dass im Zweifel die Gerichte sich das Gesetz schon passend machen. Notfalls schiebt man den BGB-Schöpfern halt ein "Redaktionsversehen" unter. Solange die Rechtsprechung Freiheit, Selbstbestimmung und ein Gleichgewicht der Kräfte achtet und den gesunden Menschenverstand einsetzt (eine Fähigkeit, die manch ein Jurist über das Studium verlernt), kann auch ein neues Schuldrecht nichts kaputt machen.

Professoren und Praktiker schreien trotzdem Zeter und Mordio. Ihnen geht auf einmal alles viel zu schnell und viel zu radikal. Oder auch nicht radikal genug. Dabei sind gerade sie es gewesen, die sich noch vor einigen Jahren über der verschleppten Reform des Schuldrechts die Hälse wund schrieen. Jetzt ist jeder Eingriff ins gute, alte BGB ein Sakrileg.

Fakt ist: Däubler-Gmelin greift endlich auf, was seit Jahren fertig in den Schubladen liegt, durchdacht von den besten Köpfen der Rechtswissenschaft. Alle hatten sich wohl damit abgefunden, dass das in den Schubladen bleiben würde, und sich getrost weiter ereifert. Inzwischen haben sie sich argumentativ aufgestellt und pusten heftigen Gegenwind in die Papierberge aus dem Ministerium. Dass nun noch ein Gesetz aus einem Guss herauskommt, ist unwahrscheinlich, jede Reform der Reform der Reform verwässert ein ursprünglich ordentliches Konzept. Am Ende werden - wie so häufig vor Gericht - die Parteien einen faulen Vergleich schließen. Im Namen des Volkes.

Solon übrigens, der als einer der Sieben Weisen den Spruch "Erkenne Dich selbst!" prägte, verlegte sich nach seinen gesetzgeberischen Taten auf die Dichtung und wurde damit selig. Vielleicht eine Alternative für Herta Däubler-Gmelin, um den Anfeindungen aus dem Weg zu gehen? Ludwig Uhland, Jurist und Tübinger wie sie, brachte es mit Lyrik weiter als mit Juristerei. Eines seiner bekannteren Gedichte beginnt so: "Wo je bei altem guten Wein / der Württemberger zecht / da soll der erste Trinkspruch sein / Das alte, gute Recht!" Prost, Herta.

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