Das Bundesverfassungsgericht gab es den Beschwerdeführern schriftlich: Deutschland ist von der Parlaments- zur Kanzlerdemokratie geworden. Im Institutionengefüge des politischen Systems, so klang es bei den Richtern aus Karlsruhe im Votum zur Vertrauensfrage Gerhard Schröders, stehen die übrigen Staatsorgane im Schatten der Bundesregierung. "Der Gang nach Karlsruhe" hatte sich für Werner Schulz und Jelena Hoffmann als Sackgasse erwiesen. Der Gang nach Karlsruhe heißt auch das Buch von Uwe Wesel über das Bundesverfassungsgericht. Karlsruhe klingt in diesem Titel nach Canossa - und damit nach einer Macht, der sich letztlich alle, sogar der Kanzler zu beugen haben.
"Dat ham wir uns so nich vorjestellt", soll Konrad Adenauer denn auch gesagt haben, als das Ger
aben, als das Gericht erstmals spüren ließ, dass es durchaus eine wichtige Rolle zu spielen beabsichtigte, in Sachen "Europäische Verteidigungsgemeinschaft" war das, 1952. Fortan war klar: dieses Gericht ist unabhängig, ist sogar höchstes Verfassungsorgan (mit ganz eigenen roten Roben für die heute 16 Richter). Aber auch die Politik hatte ihre Lektion gelernt: statt mit der Brechstange - wie Adenauer und sein Justizminister Thomas Dehler es noch versucht hatten - ging man seither subtiler vor. Die Senatsmitglieder wurden sorgfältig und unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgekungelt. Das verhinderte nicht, dass es zuweilen Widerspruch gab, etwa als 1961 Adenauers Staatsfernsehen begraben wurde ("Eine Sensation."). Zu Zeiten der Großen Koalition wurde es ruhiger in Karlsruhe, was auch daran lag, dass sich im Bonner Konsens keine Kläger für die großen Fragen fanden. Die Richter bauten in dieser Zeit den Grundrechtsschutz aus. Das waren selten Entscheidungen, die schlagartig das Land veränderten. Doch in diesen Voten wurde entwickelt, was Jahre später - Kruzifix, "Soldaten sind Mörder", Sitzblockaden als Nötigung - die Konservativen auf die Barrikaden brachte: eine liberale, grundrechtsfreundliche Linie, die das hohe Ansehen der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit begründet.Wesel konstruiert die Geschichte der Bundesrepublik seit 1951 anhand der leading cases des Bundesverfassungsgerichts. Lesenswert ist diese Geschichte allemal, und das vor allem, weil der Autor sie so munter artistisch erzählt. Wenn es einen Preis für demokratische Sprache gibt - der unverblümte Uwe Wesel hätte ihn verdient. Dieser Professor aus Berlin ist sich nicht zu schade, verständlich darzulegen, was Recht ist. Getippte Demokratie. Sein elliptischer Stil ist nicht nur charakteristisch, ja, einzigartig durch seine Verständlichkeit. Noch auffälliger sind die Gelassenheit, die Ironie, die Schnoddrigkeit, mit der Wesel sich des hochheiligen Themas Verfassungsrecht annimmt. Wesel, so meint man, müsse ne richtje Baaliner Schnauze haben, so vorlaut wie der schreibt.Daran stimmt immerhin, dass Uwe Wesel von 1968 bis zu seiner Emeritierung 2001 an der Freien Universität Berlin Rechtsgeschichte und Zivilrecht gelehrt hat. Aber er ist gebürtiger Hamburger, hat in München und Hamburg studiert, ein vornehmer, zurückhaltender Mensch. Jura-Professor, eben, milde linksliberal. Aber schreiben kann er: "Da ham´ses, Herr Ramses", heißt es bei Wesel, wenn das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil die Politik der BRD gegenüber der DDR vorgibt.So rumst es in dieser Fallsammlung, die ein "Best Of" (und manchmal Worst Of) aus dem Karlsruher Schlossbezirk darstellt. Uwe Wesel erhellt den Hintergrund, erzählt von den Beschwerdeführern hinter den Leitsätzen, Wilhelm Elfes etwa oder Erich Lüth, mit deren Nachnamen wegweisende Entscheidungen zur Grundrechts-Dogmatik verknüpft sind. Aber die Personen und Mechanismen des Bundesverfassungsgerichts, die Anekdoten aus dem bescheidenen zweistöckigen Bau, spielen keine große Rolle. Die bedeutenden Richter, angefangen von dem ersten Präsidenten Hermann Höpker-Aschoff über Gerhard Leibholz, Ernst Benda, Helmut Simon, Dieter Grimm oder Paul Kirchhof, treten bestenfalls als Statisten auf. Vielleicht wird es dem Analysegegenstand gerecht, denn Nüchternheit, Diskretion und Seriosität zeichnen "Karlsruhe" aus. Dabei wäre zu Aufgeregtheit häufig Anlass gewesen, denn die Richter hatten die großen Fragen der bundesdeutschen Geschichte auf ihren Aktenstapeln: Sollten KPD und NPD verboten werden? Muss Hanns-Martin Schleyer gerettet werden? Ist der Maastricht-Vertrag verfassungskonform? Dürfen deutsche Awacs im Ausland eingesetzt werden?Bei den Entscheidungen mit staatspolitischer Tragweite bekleckerte sich das Gericht nicht immer mit Ruhm. Während der sozialliberalen Koalition verhinderte eine CDU-Mehrheit im relevanten Senat manches, was Wesel gern als Fortschritt gesehen hätte, etwa Reformen im Hochschulwesen oder zugunsten der Kriegsdienstverweigerer. Ausgewogener agierte man nach dem Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt: Wesel zählt, was in den Anfangsjahren zugunsten der Kohl-Regierung entschieden wurde (Neuwahlen, Atomraketen, Parteispenden, Sitzblockaden), und was nicht (Volkszählung, Flick-Akten, Brokdorf), und so kommt er auf ein 4:3, womit sich leben lasse. Diese Ausgewogenheit, ja, mitunter sogar ein "Klang von Freiheit" halte seither an, auch zu rot-grünen Zeiten sei das Bundesverfassungsgericht nicht parteiisch geworden. Die Richter und ihre Mitarbeiter (der "dritte Senat") sind, so Wesels Diagnose, inzwischen von 68 geprägt, haben andere Erfahrungen als noch die würdigen Herren der Anfangsphase, bei denen es unter der Robe noch ordentlich muffte. Die Bilanz sei "eher positiv", der Ruf gut, die Rolle beachtlich: Man dürfe nämlich "nicht unterschätzen, welche ermutigende Empfindung demokratischen Selbstvertrauens" durch gelegentliche Eingriffe Karlsruhes in die Politik entstehe.Nach Karlsruhe als dem Canossa der Bonner und Berliner Republik klingt das freilich nicht. Paukenschläge sind eher ausgeblieben, hier und da hat man im Schlossbezirk mal mit der Triangel einen Akzent gesetzt. Diese Zurückhaltung hat mehrere Gründe: Richter sind per se konservativ, die zwei achtköpfigen Senate sind ausgewogen (und politisch) besetzt. Die Herren und wenigen Damen sind Pragmatiker, dem Zeitgeist nicht fern, sonst wären sie nicht in den Olymp des Rechts aufgestiegen. Sie wissen, wie sie ihre Entscheidungen zu orchestrieren haben. Als sie einmal, beim Kruzifix-Urteil, auf die Pauke gehauen haben, ohne zu ahnen, wie laut das wird, lernten sie rasch: Beim nicht minder brisanten Streit ums Kopftuch einer muslimischen Lehrerin hat das Gericht 2003 vornehm die Entscheidung dem Gesetzgeber überlassen. Wer eindeutig Position bezieht, bezieht eben auch eindeutig Prügel, darauf schien man nach den unflätigen Angriffen aus dem konservativen Lager Mitte der neunziger Jahre keine Lust mehr zu haben. Manchmal können die Karlsruher auch gar nicht mehr tun, denn eine aktive Rolle ist den "Hütern der Verfassung" nicht zugedacht: die Initiative zu ihren Entscheidungen geht stets von anderen aus, das ist Teil der erfolgreichen Machtbalance.Wesel meint, in Anspielung auf eine berühmt gewordene Sentenz von 1779, als das Kammergericht den preußischen König in seine Schranken wies: "Es gibt noch Richter in Karlsruhe". Ob diese Einschätzung auch nach der Zustimmung zur Auflösung des Bundestags 2005 Bestand hat, lässt sich bezweifeln: das BVerfG, angeführt in diesem Fall vom Berichterstatter Udo di Fabio, zeigte sich dem Kanzler und der, die Kanzlerin werden will, sehr gefügig, Kanzler, Parlament und Präsident würden wohl schon wissen, was sie da tun. Kein Rums, keine Pauke, nicht mal die Triangel - das Gericht verneinte seine Prüfungskompetenz. Vielleicht läutete das Bundesverfassungsgericht, dieses glanzvollste Element des deutschen politischen Systems, damit seinen Abschied ein. Die Konkurrenz der Gerichte auf europäischer Ebene drängt, und nun entlässt man, nach über fünfzig Jahren, die Republik in die Kanzlerdemokratie. Da ham´ses, Herr Ramses - Uwe Wesels Buch ist ein Geschichtsbuch.Uwe Wesel: Der Gang nach Karlsruhe, Blessing, München 2005, 320 S., 22 EUR
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