Angenommen, in einem Theater käme es beim Kulissenbau mehrfach zu Unfällen. Niemand käme auf die Idee, den Intendanten von seiner Aufsichtspflicht freizusprechen und ihm zu sagen: da sollte er doch erst einmal abwarten, bis der TÜV geprüft hat, was da los ist. Horst Köhler ist kein Intendant, aber einem Berliner Theater steht er dennoch vor, und die Unfälle dort häufen sich. Mit der Amtsführung des Bundespräsidenten ist manch einer nicht glücklich, weil dieser zum zweiten Mal binnen kurzer Frist ein Gesetz nicht unterzeichnet hat, das der Bundestag verabschiedet hatte. Die Folge: Die Gesetze können nicht in Kraft treten, das Parlament muss nachbessern. Dass Köhler durfte, was er tat, wird kaum bezweifelt. Aber ist das guter Stil? Johannes Rau hat als Bundespräsident braver agiert: Er unterzeichnete das Zuwanderungsgesetz mit Bedenken, auf dass es dem "eigentlich" dazu berufenen Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt werden konnte.
Die - natürlich gedämpfte ("Würde des Amtes!") - Diskussion um Köhler wird befeuert von Fragen, die für Berliner Politikjunkies reinster Stoff sind: Schlampt die Bundesregierung, deren Juristen verfassungswidrige Gesetze entwerfen oder passieren lassen? Wächst der Bundespräsident in die Rolle der Opposition zu einer sich mächtig wähnenden Großen Koalition? Und hat Horst Köhler eine Profilneurose, die er nun in gar nicht präsidialer Manier auslebt?
Die Antwort ist dreimal nein. Hier nimmt nur jemand seine Aufgabe ernst und schützt die Verfassung. Diese Lesart ist etwas unbequem - denn Horst Köhler wurde von Angela Merkel ja in erster Linie eingesetzt als Grüßaugust der Republik, aber nicht als jemand mit einer eigenen Verantwortung. Und ausgerechnet der tut das, was andere vorher versäumt haben: er passt auf, lässt sorgsam Gesetz und Verfassung lesen und verweigert eine Unterschrift, wo zuvor die Bundestagsabgeordneten und Ministerpräsidenten ihre Hände hoben. Wer den Köhler-Kritikern zuhört, könnte meinen, ein Verfassungsverstoß sei nicht einmal mehr ein Kavaliersdelikt, sondern nur noch eine formale Nickeligkeit, über die andere Verfassungsorgane geflissentlich hinweg sehen sollten. Dabei ist Köhlers "Nickeligkeit" schon deshalb geboten, weil die Oppositionsparteien im Bundestag das Quorum für einen Normenkontrollantrag beim Bundesverfassungsgericht in Zeiten größtmöglicher Koalitionen nicht erreichen würden. Dies Koalitionäre fühlen sich gekränkt. Niemand lässt sich gern kritisieren. Aber beleidigt zu sein, das ist unangemessen, wenn einer das Grundgesetz ernst nimmt, denn es ist das Allerheiligste der deutschen Demokratie. Dieser Bundespräsident weigert sich, die Verfassung dafür herzugeben, dass andere Leute ihre Arbeit nicht mehr sorgfältig erledigen. Damit könnte er geradezu Vorbild sein für all die anderen Kontrolleure, die gern großzügig Fehler übersehen, weil das Benennen von Fehlern selten honoriert wird. Aufsichtsräte, die bei Schmiergeld-Geschichten die Augen verschließen, könnten von Köhler genauso lernen wie Hausmeister, die nicht prüfen, ob das Hallendach noch den Schneemassen standhält.
An Köhlers Ausflug in die Merkel-Opposition zeigt sich, dass das Grundgesetz ein Meisterwerk ist. Es ermöglicht selbst einem IWF-Präsidenten a. D., der im Herzen Ministerialbeamter geblieben ist, seine Rolle zu finden. Köhler überdehnt seine Befugnisse nicht, aber er schöpft sie aus. Er hat es auch nötiger als seine charismatischen Vorgänger Theodor Heuss, Gustav Heinemann oder Richard von Weizsäcker, denn die Gabe des Redens ist ihm nicht verliehen, sprühende Intellektualität ist seine Sache ebenso wenig. Banalitäten werden nicht dadurch geadelt, dass ein Bundespräsident sie ausspricht, das haben Vorgänger von Köhler schon lernen müssen. "BDI-Präsident" hat Wolfgang Storz ihn in dieser Zeitung genannt, jetzt nennen ihn einige schon einen "Bürgerpräsidenten". Vielleicht ist er am ehesten ein Bundespräsident, der, nun ja, seinen Job macht. Ohne Glanz, aber mit zunehmender Freude und doch recht ordentlich. Teil dieses Jobs ist es, wie ein Wächter vor dem Allerheiligsten zu stehen und Tempelschänder abzuwehren, auch ohne dass gleich die ehrwürdigen Hüter des Grundgesetzes angerufen werden müssen. Es spricht gegen diese Zeiten, dass eine solide Aufgabenerfüllung inzwischen beinahe für eine Fußnote in der Ruhmesgeschichte der Demokratie genügen kann. Mehr als eine Fußnote wird von der Präsidentschaft Köhler nach heutigem Ermessen allerdings nicht bleiben. Das Grundgesetz lässt einen Präsidenten eben nur so gut werden, wie er kann.
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