Belarus: Spaltung der Gesellschaft

Minsk Der Graben zwischen Oppositionellen und Regierungsanhängern geht durch Familien - er vertieft sich während dem andauernden Protest - für Mehrheiten gibt es nur Indizien.

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Seit sechs Monaten dauert der Protest vieler Bürger gegen die hochumstrittene letzte Wiederwahl des weißrussischen Dauerpräsidenten Alexander Lukaschenko an. Der Charakter der Aktionen hat sich in den letzten Monaten stark geändert - vor allem als Reaktion auf staatlichen Druck und Verhaftungen. Protestaktionen verlagern sich vom Zentrum der Hauptstadt in die Außenbezirke, werden dezentral vor Einkaufszentren, auf kleineren Plätzen oder sogar in Innenhöfen von großen Wohnkomplexen abgehalten.

Familienkampf um weiß-rot-weiß

Zu sehen ist die weiß-rot-weiße Fahnen oder ihre Farben als Protestsymbol. Darauf reagiert auch das Regime, wie die russische Onlinezeitung Lenta schreibt, bis ins absurde. So wurden in der Stadt Gomel Lehrerinnen in roten Jacken verhaftet, die an einem regionalen Denkmal weiße Blumen ablegen wollten. Durch die Straße von Minsk patroullieren laut Lenta „Tihars“, kleine Gruppen aus ehemaligen Strafvollzugsbeamten und Regierungsanhängern. Sie tragen Zivilkleidung, sind maskiert und unterstützen die Bereitschaftspolizei bei Verhaftungen. Die Oppositionellen reagieren auf ihr Auftreten, dass sie nur noch in größeren Gruppen zu ihrer Kundgebung gehen.

Wie das Phänomen dieser Tihars zeigt, gibt es natürlich auch weiter Anhänger von Lukaschenko in der Bevölkerung und der Graben zwischen Anhängern und Gegnern läuft manchmal direkt durch Familien. So berichtet die Moskauer Zeitung Kommersant, die mit eigenen Korrespondenten vor Ort ist, von einem Vorfall kürzlich in Minsk, wo ein Rentner die Polizei rief, weil seine Enkel weiß-rot-weiße Vorhänge ins Fenster gehängt hatten. Die Polizei kam - eine solche Sache wird aktuell wirklich als Verstoß gesehen. In der Wohnung lebte der Rentner mit Tochter, Sohn, Schwiegertochter und Enkeln und im Gegensatz zu den übrigen Bewohnern war der Opa Anhänger von Lukaschenko. Verhaftungen gab es in diesem Fall glücklicherweise nicht.

Es gibt auch prominente Fälle von politischem Familienzwist. So ist die Schwiegertochter des weißrussischen Bildungungsministers laut Kommersant eine bekennende Oppositionelle. Andere Familienstreitigkeiten führten dazu, dass oppositionelle junge Erwachsene bei regierungstreuen Eltern herausgeworfen wurden. Was all diese und noch viele andere Geschichten gemeinsam haben ist, dass in ihnen eine jüngere, oppositionell gesinnte Generation auf regierungstreue Ältere in der eigenen Familie trifft. Generalisieren kann man das nicht - es gab auch oppositionelle Rentnermärsche, aber ein gewisser Trend lässt sich ablesen. Ähnlich wie in Russland gelten in Belarus vor allem viele Ältere als Stütze der Regierung.

Zur Sympathie der Mehrheit gibt es nur Indizien

Allgemein ist es schwer auszumachen, welche Seite in der Bevölkerung die Mehrheit der Menschen hinter sich hat. Niemand glaubt an den überwältigenden offiziellen Wahlsieg Lukaschenkos ("80 %“), die massiven Betrugsvorwürfe bezüglich der Auszählung werden durch zahlreiche Augenzeugenberichte belegt. Also gibt es mehr Oppositionelle, als im amtlichen Ergebnis, aber haben sie die Mehrheit? Dass das schwer abzuschätzen ist, liegt auch daran, dass es in Weißrussland - übrigens im Gegensatz zu Russland - keine verlässliche, regelmäßige Meinungsforschung gibt, weil dieser Lukaschenko generell misstraut.

Indizien deuten eher auf eine oppositionelle Mehrheit hin. Eine der wenigen Umfragen in Belarus stellte im November einen Beliebtheitsverlust Russlands nach der weiteren Unterstützung Lukaschenkos durch den Kreml fest - Hauptaugenmerk der Befragung war das russisch-weißrussische Verhältnis. Die auch in Russland veröffentlichte Studie von Chatham House fragte daneben aber nach der Gesinnung der der Umfrageteilnehmer, von denen dann 38 % erklärten, die Proteste aktiv zu unterstützen, 34 % waren nicht zur aktiven Teilnahme bereit, hatten aber eher Sympathien für die Opposition und 28 % lehnten die Proteste ab und unterstützten den Präsidenten.

Die Auswahl der Studienteilnehmer hat aber einen Pferdefuß. Man bemühte sich nur unter der städtischen Bevölkerung des Landes repräsentativ die Leute zu erfassen. Die Landbevölkerung, knapp ein Viertel der Einwohner des Staates, wurde außer Betracht gelassen. Und gerade diese ist für einen höheren Anteil an Sympathien für die aktuelle Regierung bekannt. Weiterhin wurde die Studie online durchgeführt, was sie anfälliger für eine Unterrepräsentation der älteren Bevölkerung macht, die das Netz immer noch weniger nutzt als Jüngere. So lässt sich aus der Studie nur eine These recht sicher ableiten: Im jüngeren Teil der urbanen Bevölkerung von Belarus sind etwa zwei Drittel der Leute oppositionell gesinnt.

Lukaschenko bastelt an zustimmender Volksversammlung

In jedem Fall ist es Lukaschenko daran gelegen zu demonstrieren, dass so etwas wie eine „schweigende Mehrheit“ der Bevölkerung hinter ihm steht. Zu diesem Zweck will er im Februar 2021 eine große Volksversammlung mit 2.700 Teilnehmern aus dem ganzen Land in der Hauptstadt einberufen, wo er seine Erfolge schildern und eine geplante Verfassungsänderung vorstellen will. Offiziell sollten die Delegierten der Versammlung alle Schichten der Bevölkerung repräsentieren.

Die weißrussische Onlinezeitung tut.by versuchte zu dieser Versammlung herauszufinden, wie die Auswahl der Delegierten vor sich geht. Mehrere Anfragen an regionale Verwaltungsstellen, die hier unter anderem zuständig sind, brachten jedoch kein Ergebnis - man lehnte Stellungnahmen zum Auswahlverfahren ab. Das gleiche Ergebnis ernteten die Journalisten bei einer Anfrage beim Organisationskomitee der Versammlung. Ein offizielles Dokument zur Zusammensetzung der Versammlung steht noch aus, aber die Geheimniskrämerei deutet schon darauf hin, dass auf dem Event über die eine oder andere Methode künstlich eine große Mehrheit von Regierungsanhängern „hergestellt“ wird, die die Pläne ihres großen Präsidenten beklatscht.

All das wird die Spaltung der belorussischen Gesellschaft weiter voran treiben und die russischen Journalisten von Lenta vermuten bereits, dass die Straßenproteste im Land nach dem Ende des Winters und einem Abflauen der Covid-19-Pandemie eher wieder zu- als abnehmen. Unter Lukaschenko wird es kein wirklich einiges Land mehr geben - dafür ist der harte Kern der Präsidentengegner, die gegen ihn trotz verhafteter oder exilierter Anführer und staatlicher Repressionen demonstriert, zu groß.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Roland Bathon

Journalist und Politblogger über Russland und Osteuropa /// www.journalismus.ru

Roland Bathon

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