Der Kreml und Berlin: Russische Expertensicht

Nawalnys Folgen Interview mit dem Moskauer Politologen und Generaldirektor des Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten Andrej Kortunow zu den deutsch-russischen Beziehungen

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Andrej Kortunow ist in Russland einer der angesehensten außenpolitischen Analysten. Er ist Chef des Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten, einem Zusammenschluss von führenden Diplomaten, Wissenschaftlern und Politikern, gegründet 2010 auf Anordnung von Putin unter anderem vom Russischen Außenministerium und der Akademie der Wissenschaften. Wir sprachen mit ihm in Moskau.

Andrei Wadimowitsch, im Winter vor knapp zwei Jahren haben Sie geschrieben, dass Russland im Westen keinen anderen Partner als Deutschland hat - im Bezug auf Zuverlässigkeit, Vorhersehbarkeit und Bedeutung. Kann man sagen, dass die Situation mit Nawalny in dieser Beziehung fatal war und sich rapide verschlechtert hat? Oder ist die Lage nur ein Ergebnis einer ganzen Reihe von Ereignissen, die einen kontinuierliche Niedergang zu Folge hatten?

Andrej Kortunow: Leider ist die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Deutschland und Russland ein Prozess, der schon vor längerem begonnen hat. Dabei haben ganz unterschiedliche Faktoren eine Rolle gespielt. Für Deutschland war es in erster Linie die Krise in der Ukraine. Man kann davon sprechen, dass die Rolle Russlands als Wirtschaftspartner Deutschlands nicht mehr so wichtig ist. Man kann auch von einem Generationswechsel in der deutschen Elite sprechen. An die Macht kommen Menschen, die sich mehr nicht so gut an geschichtlichen Ereignisse erinnern können, die Deutschland und Russland einander näher gebracht haben: Die Rolle Russlands bei der Wiedervereinigung Deutschlands, die Rolle Russlands im Zweiten Weltkrieg. Es gibt auch andere, subjektive Faktoren. Ich glaube, Russland hat viele Fehler gemacht, aber auch Deutschland trägt zum Teil die Verantwortung dafür. Aber all das ist ein langer Prozess und die Situation mit Nawalny toppt nur Ereignisse der letzten Jahre.

Welche Hauptfehler der russischen Regierung Deutschland gegenüber könnten Sie nennen?

Kortunow: Ich glaube, wenn man das im Großen und Ganzen sieht, es ist oft so, dass Deutschland in Russland als das Deutschland der Schröder-Zeit wahrgenommen wird. Das war die Zeit einer Entwicklung unserer Partnerschaft, es gab sehr persönliche und vertrauliche Beziehungen zwischen Gerhard Schröder und Wladimir Putin. Aber diese Zeit ist eben vorbei. Ich glaube, dass es für die russische Regierung viel komplizierter war, mit Angela Merkel zu kommunizieren. Sowohl was den Stil als auch was die Werte betrifft, da gab es schon sehr starke Unterschiede. Es gibt auch andere Fehler, zum Beispiel hat Russland die Bedeutung der europäischen Integration für die deutsche Regierung immer unterschätzt. Russland hat es immer bevorzugt, mit Berlin und nicht mit Brüssel zu verhandeln. Es ist klar, das ist sozusagen eine historische Tradition, aber wir verstehen, dass die Beziehungen innerhalb der EU, die Entwicklung der europäischen Integration für Deutschland eine immer wichtigere Rolle spielen. Meiner Meinung nach hat Russland diesen Faktor unterschätzt. Vielleicht hat man die öffentliche Meinung unterschätzt. Es gab auch Fehler im Informationsbereich. So kann man sich in Deutschland zum Beispiel immer noch sehr gut an die Situation mit dem Mädchen Lisa erinnern. So etwas kann auch ein Zeichen der Unterschätzung der politisch-psychologischen Folgen solcher Fälle sein. Der Mord an einem tschetschenischen Anführer in Deutschland hat eine Rolle gespielt. Es gab also viele Fehler, wohl auch von Deutschland. Nicht alle Möglichkeiten wurden genutzt. Zum Teil trägt auch Berlin die Verantwortung für die Verschlechterung dieser Beziehungen. Aber die Verantwortung von Moskau wird dadurch natürlich nicht geringer.

Andrei Wadimowitsch, Sie haben die Unterschiede im Bereich der Werte Russlands und Deutschlands erwähnt. Aktuell sind diese besonders offensichtlich, wenn man sich mit den Medien auseinandersetzt. Politiker sprechen radikalen Dinge nicht offen aus. Aber die Medien haben da volle Freiheit und neben der Förderung der so genannten „traditionellen russischen“ Werte kritisieren die russischen die westlichen Werte, die dort üblich sind. Können deswegen westliche Partner den Eindruck bekommen, dass die russische Elite aufgrund dessen, was dort Medien erzählen, Deutschland als einen feindlichen Staat betrachten? Können sie denken, dass Deutschland zu einem konstruktiven Dialog nicht bereit ist?

Den Streit der Meinungen und um Unterschiede, was Werte angeht, gibt es in der ersten Linie innerhalb der einzelnen Staaten. In Russland gibt es keine Einigkeit bei den Werten und in Deutschland auch nicht. Wir wissen, dass es in Deutschland die AfD gibt. Und diese Partei hat viele Anhänger. Das Russische Modell ist für bestimmte Kreise in Deutschland attraktiv. Deswegen ist es nicht so, dass Russland gegen Europa ist. Sowohl in Russland als auch in Europa gibt es diesen inneren Kampf wegen der Werte. Das darf man nie vergessen. Den Kampf gibt es auch in den USA und in anderen Ländern. Was Deutschland betrifft, so wäre es wahrscheinlich verfrüht zu sagen, dass Deutschland auf der Ebene der politischen Elite als Gegner wahrgenommen wird. Aber es gibt diese Meinung im Bereich der politischen Elite, wenn man in Russland überhaupt über eine stabile Elite sprechen kann. Es gibt die Meinung, dass Deutschland kein selbständiger Staat sei. Die Souveränität Deutschlands sei begrenzt und selbst wenn Deutschland die Beziehungen mit Russland entwickeln wollen würde, sei Deutschland durch seine Transatlantik-Verpflichtungen gefesselt. Und im Endeffekt würde Deutschland Entscheidungen treffen, die in Washington bestimmt werden. Und jetzt, wenn es wieder um die Nord-Stream2-Pipeline geht, sagen viele Beobachter in Russland, dass sich Deutschland früher oder später den amerikanischen Entscheidungen unterordnen muss, und eine mögliche Absage, die Pipeline zu bauen wäre noch eine Bestätigung dafür, dass Deutschland nicht komplett souverän ist.

Will sich die USA im Moment wirklich mit transatlantischer Politik beschäftigen, wenn die Situation im Land gerade so ist, wie sie ist, auch wenn es bald einen neuen Wahlkampf gibt?

Ich glaube, wir alle wissen, wie Trump sich den transatlantischen Beziehungen gegenüber verhält. Deutschland ist wahrscheinlich jetzt das Hauptziel der amerikanischen Administration. Deswegen ist es im Moment sehr kompliziert, irgendwelche Prognosen zu machen. Wenn Trump wiedergewählt wird, dann behält er sein kritisches Verhältnis gegenüber Deutschland bei. Und die Transatlantik-Beziehungen werden unter starkem Druck stehen. Wenn Biden gewinnt, dann kann sich die Situation ändern. Ich denke, potentiell neigt Biden viel mehr zu vielseitigen Ansätzen, was die Festigung von Beziehungen betrifft, unter anderem auch zu Deutschland. Aber es gibt Probleme, ernste Probleme, und auch wenn Biden Präsident ist, glaube ich nicht, dass diese Probleme leicht zu lösen sind.

Kehren wir zum Thema Nawalny zurück. Es gibt bestimmte Bedingungen, die Deutschland an Russland stellt. Man will Informationen nicht mitteilen. Russland befindet sich in einer Zwickmühle. Es sieht so aus, als ob jede Vorleistung wie eine große Niederlage aussehen würde. Deswegen macht die Regierung auch keine Schritte nach vorne. Wie kann man diese Situation klären, wenn es gerade dieses Misstrauen zwischen Russland und dem Westen gibt?

Es gibt leider keinen guten Ausweg aus dieser Situation. Ich glaube, dass man politische Verluste, Image-Verluste, nicht vermeiden kann. Es gibt schon einen großen Schaden für Russland. Und wenn es zu der Frage kommt, wem man glaubt, Russland oder Deutschland, wird die internationale Gemeinschaft der deutschen Position glauben und nicht der russischen. Das kann man aus der Erfahrung sagen, welchen Ruf die beiden Länder haben. Es wird fast unmöglich für Russland sein, diesen Informationskrieg zu gewinnen. So ist mein Rat – und er ist nicht neu – Russland sollte zu einem möglichst genauen, präzisen, objektiven und – was ganz wichtig ist – einem offenen Ermittlungsverfahren in dieser traurigen Situation bereit sein. Es geht da um den wahrscheinlich populärsten Politiker Russlands. Wenigstens unter den oppositionellen russischen Politikern. Wenn man über Nawalny wie über einen Blogger spricht, glaube ich, dieser Ausdruck entspricht nicht der Realität. Inwiefern Russland bereit sein wird, so ein Ermittlungsverfahren durchzuführen, ob dieses Ermittlungsverfahren zur Klärung der Lage führt, ist schwer zu sagen. Aber ich befürchte, dass Moskau keine anderen Möglichkeiten hat, diese Situation mit möglichst kleinen Verlusten zu lösen.

Sollte man mit Sanktionen von Seiten der USA und EU rechnen und welche würde es geben?

Es gibt wahrscheinlich Sanktionen. In den USA gibt es eine schon ausgearbeitete rechtliche Basis, um solche Sanktionen zu verhängen. Als Grund nennt man den Verstoß Russlands gegen die Konvention über das Verbot chemischer Waffen. Es ist in etwa klar, in welche Richtung die Arbeit an den Sanktionen gehen wird. Die EU hat so eine rechtliche Basis für die Einführung von Sanktionen nicht. Der Prozess der Sanktionsverhängung in der EU ist komplizierter als in den USA, deswegen kann es kaum ein synchrones Handeln zwischen der EU und den USA geben. Ich glaube, diese Frage wird auf der Tagesordnung der EU stehen und es werden einige Entscheidungen im Bezug auf Sanktionen getroffen. Der Umstand, dass Deutschland im Moment versucht das Thema auf die internationale Agenda zu bringen, Russland nicht alleine zu antworten, sondern das Problem an die EU zur Behandlung weiterzuleiten, macht die Lage Russlands noch komplizierter. Denn es gibt in der EU viele Länder, die sich Moskau gegenüber kritischer als Berlin verhalten. Und wenn diese Frage nicht im Kontext der bilateralen Beziehungen gelöst wird, sondern im Kontext der Beziehungen zwischen Russland und der EU, so können die Folgen für Russland viel ernster sein im Vergleich zu der Situation, wenn diese Frage zwischen Russland und Deutschland direkt geklärt wird.

Wenn man über den Prozess der Internationalisierung der Situation spricht, hat Maria Sacharowa (Anmerkung: Sprecherin des Russischen Außenministeriums) schon erwähnt, dass es einen Datenaustausch zwischen britischen, bulgarischen und deutschen Experten gibt. Ist das kein logischer Fehler, dass russische Experten daran nicht teilnehmen? Warum ist das so und warum kritisiert niemand Deutschland dafür?

Ich glaube, die Situation ist so, dass man Deutschland vertraut. Wenn man Russland überhaupt vertraut, dann auf jeden Fall weniger als Deutschland. Es gibt gegenüber Deutschland eine Unschuldsvermutung. Es gibt die Vorstellung, dass Deutschland wirklich die Situation klären und ein unabhängiges Ermittlungsverfahren durchführen möchte. Deswegen wird Deutschland nicht kritisiert. Außerdem ist Deutschland Mitglied der EU und der NATO, deswegen ist die Zusammenarbeit mit den anderen Mitgliedern dieser Organisationen wohl kein Wunder. Und was Russland betrifft, so gibt es schon einige Präzedenzfälle, die mit chemischen Waffe im Verbindung gebracht werden. Der bedeutendste ist der Skripal-Fall in Großbritannien, aber Russland wird auch bezüglich einer Nutzung chemischer Waffen in Syrien beschuldigt. Deswegen ist das Vertrauen des Westens gegenüber Moskau im Bereich der chemischen Waffen leider nicht sehr hoch. Deswegen habe ich schon gesagt: Im Fall des Informationskriegs wird es für Russland fast unmöglich sein, ihn zu gewinnen.

Wenn man über die Publikationen von Maria Sacharowa bei Facebook spricht. Kann man sagen, dass sie die Stimme der Position der russischen Regierung ist? Oder sollte man ihre Bedeutung nicht überschätzen und alles ist nur eine Meinung einer Politikerin, die über das Thema schreibt?

Ich glaube, Maria Sacharowa neigt dazu, Themen, die die russische Regierung bewegen, sehr hart zu formulieren. Wir haben es vor kurzem gesehen, wie sich der serbische Präsident geäußert hat und Putin musste sich dafür entschuldigen, als Maria Sacharowa sich zu heftig über den Besuch von Alexander Wutschitsch in Washington echauffiert hat. Deswegen glaube ich, dass Maria Sacharowa dazu neigt, vorzupreschen. Das ist aber Teil der russischen Diplomatie. Was Sacharowa äußert, erlaubt der russischen Regierung gemäßigtere Positionen zu besetzen und dadurch den Eindruck einer Flexibilität Russlands in die eine oder andere Richtung zu vermitteln. Es ist wichtig, was Sacharowa sagt, es entspricht der Meinung eines Teils der russischen Regierung. Aber ich würde nicht ihre Worte als die letzte Wahrheit sehen. Es kann Korrekturen geben und kann sein, dass es noch keine endgültige Position Russlands in bestimmten Fragen gibt. Dass noch Arbeit zu tun ist. Und es noch nicht ganz klar ist, wann sie abgeschlossen wird.

Sie haben auch erwähnt, dass die Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschland und Russland auf inoffizieller Ebene möglich ist. Auf dem kleinen Dienstweg. Wenn man die Erfahrung früherer Jahre analysiert, gibt es da Potential, mehr als nur Studentenaustausch oder Besprechungen im Bereich von Gesundheit und Umweltschutz zu machen? Zu umfassenden Themen?

Ich habe große und vielfältige Erfahrung der Arbeit auf informellem Weg. Ich kann Ihnen natürlich sagen, dass man die besten Experten holen und interessante Vorschläge besprechen kann. Man kann verschiedenste Dokumente und Roadmaps, gemeinsame Vorträge vorbereiten. Aber im Endeffekt hängt der Erfolg der Arbeit auf dem kleinen Dienstweg davon ab, ob es auf dem großen den Wunsch gibt, sich zu verständigen. Wenn es einen solchen Wunsch gibt, aber es aus irgendeinem Grund kompliziert ist, offizielle Kontakte voranzutreiben, dann kann der informelle Weg sehr effektiv sein. Wenn es keinen solchen Wunsch gibt, dann ist es leider egal, was auf informeller Basis vorgeschlagen wird, auf der offiziellen wird es ignoriert. Deswegen stellt sich hier die Frage, inwiefern beide Seiten daran interessiert sind, sich zu verständigen, wie stark der Wunsch ist, einen Kompromiss zu finden, und ob beide Seiten dabei flexibel sind. Wenn es einen solchen politischen Willen gibt, dann kann man informell viel schaffen. Wir kennen in Deutschland viele Experten und einflussreiche, namhafte Vertreter der Öffentlichkeit, die hier einen großen Beitrag leisten können. Auch in Russland gibt es Germanisten, die in Deutschland bekannt sind, sich für eine positive Entwicklung unserer Beziehungen einsetzen können. Es ist also noch Potential auf der Ebene der Fachwelt da. Es wurde aber nach meiner Meinung in den letzten Jahren etwas kleiner. Eine Generation von Experten verlässt uns, die früher viel informell gearbeitet hat. Zum Teil geht Vertrauen verloren, das es früher unter Experten gegeben hat. Aber es ist noch welches übrig. Ob die Politiker das nutzen wollen, hängt von den Politikern, nicht den Experten ab. Natürlich wäre es schön, wenn Politiker Ratschläge annehmen würden, die Experten bereit sind, ihnen zu geben.

Aus dem Russischen von Irina Schtscherbakowa / bearbeitet von Roland Bathon

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Roland Bathon

Journalist und Politblogger über Russland und Osteuropa /// www.journalismus.ru

Roland Bathon

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