Sehr einfach ist das Weltbild vieler EU-Politiker, ein Gut-Böse-Schema – und die Rollen im Fall Belarus-Polen demnach klar verteilt: dort in Minsk ein böser Diktator, der Flüchtende für seine politische Agenda missbraucht und nicht mehr als eine Marionette des Kreml ist. Hier die freie EU, die den Ränken bösartiger Autokraten aus dem Osten ausgeliefert ist, wie es die Flüchtlinge sind.
Das Einzige, was an diesem Bild stimmt: Die Verhältnisse in Belarus gleichen tatsächlich mehr und mehr einer repressiven Diktatur. Alexander Lukaschenko hat nach der Opposition auch den unbequemen Teil der Presse und Zivilgesellschaft radikal mundtot gemacht.
Doch Lukaschenko war schon in früheren Jahren kein Demokrat – auch nicht, als die EU ihn in einer „Östlichen Partnerschaft“ aus der Freundschaft zu Russland herauslösen wollte, mit viel finanzieller Förderung.
Der Minsker Autokrat nahm die Finanzspritzen der Europäer dankbar an und bezog zugleich von den russischen Freunden verbilligt Rohstoffe. „Öl gegen Küsse“ hieß diese Schaukelpolitik, die der Diktator heute noch erfolgreich praktizieren würde, hätte ihn die eigene unzufriedene Bevölkerung 2020 nicht ganz in die Arme Moskaus getrieben. Dort misstraut man ihm, denn er gilt als unberechen- und unkontrollierbar. Das zeigte er erst kürzlich, als er eine mächtige Kreml-treue Zeitung aus dem Land vergraulte, wobei aus dem angeblich dominanten Moskau nur kleinlaut Protest zu hören war. Ein hemdsärmeliger Stratege ist der Diktator auch in Zeiten eigener Bedrängnis. Die Anführer der gegen ihn gerichteten demokratischen Opposition verleitete er mehrheitlich zur Flucht in die EU, wo er sie gegenüber dem russischen Verbündeten perfekt als „vom Westen gesteuert“ in Szene setzen kann. Die Paranoia des russischen Polit-Establishments vor „westlichen Agenten“ nutzt er dabei perfekt aus.
Das Ausnutzen psychologischer Schwachpunkte praktiziert er nun beim Flüchtlingsthema gleichermaßen. Er erkannte die EU-Doppelmoral in Bezug auf Geflüchtete, gegenüber denen man sich als Teil des „Guten“ auf der Welt gerne moralisierend hilfsbereit gibt, sie jedoch in Wirklichkeit auf keinen Fall im eigenen Land haben will. Viel musste der Weißrusse gar nicht tun, sondern nur verkünden, er würde niemanden an der Weiterreise in die EU hindern und „Touristenvisa“ ausstellen lassen. Es gibt durchaus Indizien, dass den Migranten im Land mit Transportmöglichkeiten geholfen wurde, damit sie nicht in Belarus verweilen.
Was bei aller Lukaschenko-Verteufelung jedoch in vielen Zeitungen vergessen wird: Das ist nicht der Grund, warum diese Leute aus dem Nahen Osten kommen. Sie fliehen vor Kriegen und kriegerischen Folgeschäden aus dem Irak, Syrien oder Afghanistan. Die zugrunde liegenden Konflikte, die ihre Heimat destabilisierten, fanden ohne Beteiligung von Belarus, sehr wohl aber unter maßgeblichem Mitmischen des Westens, darunter EU-Mitgliedern, statt.
An deren Außengrenze stehen jetzt die Geflüchteten und werden mit Tränengas und Pushbacks abgewehrt. Während – wie in einer verkehrten Welt – eine regierungstreue Belarus-Presse über Flüchtlingselend tränenreich berichtet. Eine verkehrte Welt liegt hier aber nicht vor, sondern rücksichtslose Geopolitik. So wie Lukaschenko Geflüchtete für seine Sanktionsrache nutzt, nutzt sie auch die EU, um die moralische Verantwortung für Flüchtlingselend und Fluchtursachen auf willkommene Feindbilder im Osten zu übertragen.
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