Die EU macht es sich zu einfach

Geflüchtete Viele Politiker machen Wladimir Putin für die Situation an der Außengrenze mitverantwortlich. Doch die Situation ist komplexer, auch weil Russland kein Interesse an einer Eskalation hat
Ausgabe 47/2021
Die Krise erschwert die Beziehungen zwischen Moskau und der EU und schwächt Russlands ökonomische Ambitionen
Die Krise erschwert die Beziehungen zwischen Moskau und der EU und schwächt Russlands ökonomische Ambitionen

foto: Leonid Shcheglov/Belta/AFP/Getty Images

Die brenzlige Lage an der Grenze zwischen Belarus und Polen hat ihren Zenit überschritten, die Suche nach Ursachen aber dauert an. Politiker aus Polen und Deutschland wie auch viele Journalisten suchen sie in Moskau, obwohl das weitgehend unlogisch ist. Die Flüchtlingskrise geht maßgeblich auf Alexander Lukaschenko zurück. Den Flüchtlingsdruck aus dem Nahen Osten, besondere dem Irak, nutzend, wurden von weißrussischer Seite „Touristenvisa“ ohne die sonst obligatorischen Kontrollen ausgegeben. Weitere Vorwürfe gelten dem Lufttransport der Migranten, der in Minsk organisiert worden sei. Natürlich gehen die Schuldzuweisungen noch in eine andere Richtung als nur nach Minsk, erhoben etwa vom Thinktank „Liberale Moderne“, der den deutschen Grünen nahesteht. Der stellt in einer Analyse die Frage, ob Moskau Mittäter oder „nur“ Trittbrettfahrer sei.

Dabei war die Krise überhaupt nicht im russischen Interesse. Ljubow Schischelina, Mittel- und Osteuropaexpertin von der Russischen Akademie der Wissenschaften, spricht aus, was der Kreml aus Rücksichtnahme auf Lukaschenko öffentlich verschweigt: Die Krise erschwere die Beziehungen zwischen Moskau und der EU, sie schwäche vor allem die ökonomischen Ambitionen Russlands in Europa. Zusätzlich störe sie das Verhältnis zu Moskau-freundlichen EU-Staaten wie Ungarn. Wladimir Putin selbst war Gereiztheit anzumerken, als Alexander Lukaschenko mit der Unterbrechung der Jamal-Erdgaspipeline drohte. Er pfiff ihn öffentlich zurück – gegenüber einem Verbündeten ein eher seltener Vorgang.

Ganz freizusprechen von einer Mitverantwortung für die Flüchtlingskrise ist Putins Administration freilich nicht, da sie Lukaschenko zuletzt bedingungslos gestützt hat. Und das, obwohl der in der Vergangenheit kaum als durchweg zuverlässiger Partner in Betracht kam. Aber darüber hinaus ist ein Schuldvorwurf Richtung Moskau unberechtigt. Warum wird er dennoch laut? Weil solcherart Aufwallung zu guter Letzt enge US-Verbündete vereint, die sich 2003 an der Intervention im Irak beteiligt haben. Von dort kommen die meisten Migranten, die miserablen Lebensverhältnissen entfliehen, wie sie ursächlich mit jenem Einmarsch und der folgenden Besatzungszeit zu tun haben. Statt der Schuldzuweisung ein Schuldbekenntnis abzugeben, dazu können sich die willigen Koalitionäre des einstigen US-Präsidenten George Bush nicht durchringen.

Stattdessen richtet sich der Finger auf Moskau. Das ist bequem und wird von vielen westlichen Medien gern „gekauft“, egal ob es dafür Belege gibt oder nicht, ob der Streit um die Flüchtlinge mit russischen Interessen korrespondiert oder nicht. Der Politologe Maxim Samorukow vom Carnegiezentrum in Moskau sieht für die polnischen Anklagen gegenüber Russland auch hausgemachte Gründe. Konservative Kräfte machten dort stetig Stimmung gegen „Überfremdung“ und „postsowjetische Diktaturen“. Der Kampf gegen beides ließe sich nun vereinen und damit innerhalb des Westens der Status eines „Frontstaates“ im Osten aufwerten, wodurch Warschau von Konflikten mit Brüssel ablenkt.

Alles in allem ist ein solches Aufwerfen von Schuldfragen in einer Zeit angespannter internationaler Beziehungen geeignet, diese weiter zu vergiften. Die Verantwortung hierfür trägt nicht Russland. Neben Lukaschenko sind es diejenigen, die aus einer Krise den Auftrag zum Angriff auf Dritte ableiten.

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Geschrieben von

Roland Bathon

Journalist und Politblogger über Russland und Osteuropa /// www.journalismus.ru

Roland Bathon

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