Mit dem Entschluss des Kremls allein, die Armee durch mehr Reservisten aufzufüllen, steht noch kein zusätzlicher Soldat an der Front. Es braucht den Beistand der regionalen Behörden von den Gouverneuren über die Stadtverwaltungen bis zu den Wehrersatzämtern. Nur ein Drittel der Bevölkerung soll laut einer Umfrage der Stiftung FBK, die der Opposition um Alexej Nawalny zugerechnet wird, die Rekrutierungsaktion unterstützen. Von den Reservisten seien viele nicht gewillt, in der Ukraine zu kämpfen und zu sterben. Daraus folgt der Versuch, einer Einberufung zu entgehen. Wobei derzeit weniger in Großstädten als in entlegenen Gegenden im Osten Russlands rekrutiert wird, in Burjatien etwa an der Grenze zur Mongolei oder in der Republik Tatarstan.
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. Unter den staatlichen Behörden sind es auch diesmal zumeist die Kommunen, welche für den Vollzug einer wenig populären Regierungsentscheidung zuständig sind. Allein St. Petersburg hat 18 regionale Kommissionen eingerichtet, über die einberufen wird. Dass sich der Unmut von Reservisten gegen derartige Ad-hoc-Instanzen richtet, liegt auf der Hand. Schon in den ersten beiden Tagen nach der Putin-Rede vom 21. September gab es vier Brandanschläge – auf Stadtverwaltungen wie Rekrutierungsbüros.Im Fokus der westlichen Berichterstattung stehen nun Russen, die wegen einer drohenden Einberufung ins Ausland wollen. Es wird übersehen, dass schon wegen der hohen Kosten eines solchen Auswegs nur eine Minderheit die Möglichkeit dazu hat. Ohnehin ist es wegen der geltenden Einreisesperren und der durch die Sanktionen unterbrochenen Flugverbindungen nahezu ausgeschlossen, sich in einen EU-Staat abzusetzen. Auch wenn zumindest Deutschland angedeutet hat, Flüchtlinge eventuell aufzunehmen. Und Länder, in die russische Bürger ohne Visum ausweichen können, sind oft mit Moskau befreundet. Wer sich dorthin begibt, ist keineswegs gegen eine Auslieferung früher oder später gefeit. Die übliche Einberufungsprozedur bedeutet: Wer mobilisiert werden soll, erhält zunächst eine Vorladung ins Einberufungsamt, die nicht unbedingt an die Wohnadresse, sondern ebenso die Arbeitsstelle gehen kann. Dass festgenommene Antikriegsdemonstranten in Untersuchungshaft eine Aufforderung zur Einberufungsüberprüfung bekommen, ist nicht auszuschließen. Dies sei nach russischem Recht legal, betont Kremlsprecher Dmitri Peskow. Steht der Einberufungstermin fest, ist der Reservist von da an wieder Soldat – mit allen strafrechtlichen Folgen bei einer Verweigerung.Eine Option, noch im „Einberufungsprozess“ dem Dienst an der Waffe zu entgehen, sind Krankheiten und Gebrechen, die – geltend gemacht – zu attestierter Untauglichkeit führen. Listen der dafür in Frage kommenden Symptome verbreiteten sich noch am Tag von Putins Rede in Windeseile über soziale Netzwerke. Von den Behörden beauftragten Ärztekommissionen obliegt die Entscheidung. Ein gewagtes Spiel kann es sein, sich durch das Simulieren von Krankheiten der Armee entziehen zu wollen. Viele, die kein Geld haben, um sich aus Russland abzusetzen, werden darum eher in den Weiten des Landes Zuflucht suchen. Ihnen käme zugute, dass viele nicht dort wohnen, wo sie formal gemeldet sind. Wer indes einer geregelten Arbeit nachgeht, für den ist dieser Weg obsolet, zumal Behörden bereits Suchkommandos ankündigen, die nach entflohenen Reservisten fahnden würden. Die exilrussische Onlinezeitung Meduza sprach mit einem Anwalt für Militärrecht, was Personen tun sollten, die nicht in den Krieg ziehen wollen. Seine Auskunft: legale Möglichkeiten gäbe es kaum, wer einmal einberufen sei, müsse sich stellen und könne keinen Zivildienst mehr beantragen. Der Jurist wies darauf hin, dass vom Gesetz zur Mobilisierung auch Studenten erfasst würden. Dass man diese Gruppe nicht einziehen wolle, sei lediglich eine mündliche Zusage von Wladimir Putin, doch werde bereits davon berichtet, dass es in einzelnen Regionen auch an Hochschulen Rekrutierungen gebe. Die Behörden wissen um den Unwillen vieler, im Ukraine-Krieg ihr Leben aufs Spiel zu setzen, und haben Gegenstrategien vorbereitet. Ab Erhalt der Vorladung ist es beispielsweise nicht mehr opportun, Russland legal zu verlassen – ein Grund, warum Ausreisen so schnell erfolgten. Allerdings ist Vorsorge getroffen, notfalls an Bahnhöfen und Flughäfen den Einberufungsbescheid zu übergeben. Auf eine Zurückstellung haben Familienväter mit mindestens vier Kindern Anspruch, auch Männer mit pflegebedürftigen Angehörigen können auf Aufschub hoffen.Regierungsnahe wie -kritische Zeitungen bezweifeln, dass die Mobilisierung der Reservisten geregelt abläuft. Der Staatsapparat sei schon in friedlichen Zeiten kein Wunder an Effizienz, schreibt das Moskauer Blatt Nesawisimaja Gaseta. Die grassierende Korruption dürfte in jedem Fall darauf Einfluss nehmen, wer einrücken muss und wer nicht. Für die Kampfmoral vor Ort wird eine Zwangseinberufung kaum von Vorteil sein. Vor allem dann nicht, wenn zur „Abschreckung“ Kriegsgegner bevorzugt an die Front geschickt werden.