Die Oppositionsproteste in Minsk gehen trotz staatlichen Drucks und etwas weniger Schlagzeilen im Ausland weiter. Über 200 Demonstrationsteilnehmer wurden gestern verhaftet, bestätigte die örtliche Polizei gegenüber der Onlinezeitung tut.by. Die Unzufriedenen lassen sich jedoch nicht einschüchtern, sondern passen ihre Taktik an. Statt an Orten im Stadtzentrum, wo es immer wieder zu Brutalitäten kam, sammeln sie sich nun in den eigenen Wohnbezirken zu zahlreichen dezentralen Demos und Kundgebungen, in Innenhöfen und auf Vorortstraßen. Die Proteste verlieren dadurch nicht an Wucht. „Man hat den Eindruck, dass ganz Minsk protestiert“ fasst die russische Nesawismaja Gaseta die aktuelle Stimmung in der weißrussischen Hauptstadt zusammen. Sorgen macht den Belarussen weiter, dass im Raum stehende Wirtschaftssanktionen des Westens ihre durch Corona ohnehin schon angespannte Situation weiter verschlechtern könnte.
Russland als umstrittener Rückhalt Lukaschenkos
Als mächtigster Rückhalt des also nach wie vor wankenden belarussischen Dauerpräsidenten Lukaschenko gilt der Kreml. Angst vor einer Machtübernahme der Straßenopposition und einer neuen, möglicherweise prowestlichen Regierungspolitik wie in Kiew sind dafür die wichtigsten Motivationen. Dieser Kurs ist in Moskau nicht unumstritten. Andrej Kortunow, Vorsitzender des wichtigen Russischen Rates für Auswärtige Angelegenheiten hält ihn sogar für gefährlich. Mit ihrer Haltung trage die russische Regierung eine Mitverantwortung für Gewaltexzesse, sagte er erst letzten Donnerstag in einem Interview dem Expertenportal russiancouncil.ru.
Es sei nach seiner Auffassung nachvollziehbar, dass Moskau eine Stabilisierung der Situation in Minsk wolle, an einer schrittweisen und nicht an einer revolutionären Entwicklung der Lage interessiert sei. Dafür brauche es jedoch auch Kontakt mit der Opposition, die nach seiner Auffassung nicht eindeutig antirussisch geprägt sei. Es bestehe sonst die Gefahr einer Änderung der Haltung vieler Belarussen gegenüber Russland.
Die Stimmung der Weißrussen kippt
Wie um den Experten zu bestätigen veröffentlichte dann gestern die russische Zeitung Kommersant die aktuellen Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung des weißrussischen Umfrageinstituts BAM, die regelmäßig durchgeführt wird. Dieses Mal mit einem sensationellen Ergebnis. Denn die Unterstützung für die Befürworter eines Bündnisses mit Russland ging innerhalb von zwei Monaten um 11 % zurück und sie haben damit erstmals seit langem keine Mehrheit mehr in der Bevölkerung (jetzt noch 40%). Sie lag vor den Protesten lange um die 60 %. Zugleich stieg der Anteil der Leute, die eine pro-EU-Ausrichtung ihres Landes wünschten, auf etwa ein Drittel.
So sind die Weißrussen tatsächlich hin- und hergerissen zwischen den großen Nachbarn im Westen und Osten – und die Unterstützung des Ostens für ihren Machthaber lässt das Pendel offensichtlich in die andere Richtung ausschlagen. Das ist auch ein deutliches Indiz dafür, wie wenig Rückhalt Lukaschenko in einer Mehrheit der eigenen Bevölkerung noch hat, was von deutschen Fans seines früheren Werdegangs gerne in Zweifel gezogen wird. Dieses Ergebnis zeigt aber auch noch etwas Anderes, wie Andrej Wardomazky von BAM gegenüber Kommersant feststellt: Der Konflikt um Lukaschenko in Minsk, der in den ersten Monaten im Inland vor allem als etwas internes empfunden wurde, bekomme zunehmend eine geopolitische Komponente. Das mache ihn doch ähnlicher zum Euromaidan im Nachbarland, der eine solche Komponente von Beginn an hatte.
Auch Wardomazky macht die russische Unterstützung als Ursache für den Stimmungswandel aus. Und wie um Kortunow zu bestätigen, gab er an, Experten hätten vor so einer Entwicklung bereits vorab gewarnt, die Leute auf der Straße folgen deren Prognosen nun naturgemäß zeitversetzt. Angesichts der Tatsache, dass die wichtigsten Förderer der oft schon im Exil befindlichen Oppositionsführer, Polen und Litauen, zu den russlandkritischsten Staaten in der EU gehören und man sich oft zwangsläufig der Meinung des eigenen Finanziers anschließt, könnte der Konflikt um die Macht in Minsk in den nächsten Monaten noch eine ganz neue Qualität bekommen – mit klaren Fronten. Russland steht dabei mit seiner Lukaschenko-Unterstützung weitgehend alleine da.
Kommentare 9
Ist Moskau - zumindest dem regierenden Kern - nicht schon die Vorstellung zuviel, es könne in Belarus überhaupt zu einem Machtwechsel kommen? Und dann noch gar durch die Bemühungen einer mutigen Zivilgesellschaft?
Ich staune selbst darüber, wie im Kreml aktuell die Lage beurteilt wird. Denn es ist eigentlich klar, dass Lukaschenkos Tage gezählt sind. Das blieb den dortigen Fachleuten mit Sicherheit nicht verborgen. Sie schwenken dann aber auf die Linie, irgendwann Verfassungsänderung und dann vielleicht jemand anderes (der dann nach der eigenen Hoffnung auf Einflussnahme Russlandfreundlich ist). Dass diese Strategie nichts wird, müsste aber spätestens jetzt klar werden. Lukaschenko ist ja kein echter Freund.
Ein russischer Journalist, ich glaube er hieß Frolow, meinte kürzlich, Russland würde bei Eingriffen im GUS-Bereich wegen schlechter Erfahrungen nicht mehr so viel machen. Den Text gibt es auch auf deutsch. Vielleicht handelt man wie aktuell, weil es auch bequem ist. Herumknüppeln tut aktiv ja nur Lukaschenkos eigene Truppe.
Wo gibt es diesen Text?
https://www.nzz.ch/meinung/abschied-vom-russki-mir-russlands-neue-aussenpolitik-ld.1586938
Na das ist doch mal eine frische Neuigkeit und knallharte Analyse!?
Wäre es dem Autor eventuell möglich darauf einzugehen, warum die angeführten Zahlen bzgl. Unterstützung für die Befürworter eines Bündnisses mit Russland für 2020 fast identisch sind mit den Umfragewerten aus dem Vorjahr 2019? Wann ist vor den Präsidentschaftswahlen in Belarus die Zustimmung zu einer Union mit Russland wieder auf 60% angestiegen um danach wieder so fallen zu können?
Hat der Kommersant für das "sensationelle" Ergebnis einen eigenen Artikel vom Februar dieses Jahres recycelt?
Beide Umfragen wurden ja vom selben Institut durchgeführt. Hat der Autor mal zu den Ausgangsdaten des "Weißrussischen Umfrageinstituts BAM" recherchiert? Ich habe nur finden können, dass das Weißrussische Institut in Warschau sitzt. Eine Webseite mit näheren Erläuterungen wie die Umfrageergebnisse ermittelt wurden, habe ich nicht gefunden?
Hier noch ein weiterer, neuer Artikel der russischen Onlinezeitung gazeta.ru zum aktuellen Vertrauensverlust der Weißrussen gegenüber Russland, der dort auch nicht in Frage gestellt, sondern analysiert wird: https://www.gazeta.ru/politics/2020/11/24_a_13373437.shtml
<<Hier noch ein weiterer, neuer Artikel der russischen Onlinezeitung gazeta.ru zum aktuellen Vertrauensverlust der Weißrussen gegenüber Russland, der dort auch nicht in Frage gestellt, sondern analysiert wird...>>
Neu ist da überhaupt nichts, die haben genau so wie Herr Bathon beim Kommersant abgeschrieben und ein paar "Experten" darum drapierte.
Für mich ist das ein schönes Beispiel für kritiklosen Sofajournalismus.
Am 22.11. haut der Kommersant seine "sensationelle" Analyse raus. Einen Tag später am 23.11. beruft sich die polnische RZECZPOSPOLITA in einem Artikel auf diesen Kommersant. Am 25.11. hat gazeta.ru das Thema für sich entdeckt, schreibt bei RZECZPOSPOLITA ab und wird von Herrn Bathon als weiterer Beleg präsentiert.
Komisch, keiner der Experten, die so oft über Belarus schreiben, fragt sich, ob die verwendeten Materialien überhaupt vertrauenswürdig sind. Letztes Jahr haben uns russische Medien noch erzählt, dass 90% der Belarusen eine Union mit Russland wollen. Im Oktober dieses Jahres veröffentlicht Chatham House seine Umfrageergebnisse, nachdem nur 9% einen EU-Beitritt wollen, aber 26% eine Union mit Russland anstreben (die meisten wollen eigentlich neutral bleiben) und jetzt die Sensation der Trendwende?
Bei echten Journalisten hätte ich da ja etwas Aufklärung erwartet.
sachliche Diskussionen führe ich immer gerne. Unsachliche, bei denen es nur um persönliche Diskreditierung geht, nicht. Und da hatten wir beide ja schon genug. Und jetzt ist es noch eine mehr.
Um wie viel sachlicher soll es denn noch gehen, als mit dem Aufzeigen der Quellen und ihrer Verknüpfungen?
<<Und da hatten wir beide ja schon genug. Und jetzt ist es noch eine mehr. >>
Das können Sie leicht ändern, indem Sie einfach mal sagen, was Sie davon halten, dass die von Ihnen als sensationell bezeichneten Umfragewerte denen vom Vorjahr gleichen? An welcher Stelle irre ich mich?