Verliert Putin den Draht zu den Russen?

Volksnah? Die alljährliche Bürgersprechstunde von Russlands Präsident Putin wurde abgesagt, weil er angeblich schon genug direkten Draht zum Volk hatte

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Russlands Präsident Putin bei einer Videokonferenz in der Residenz Nowo-Ogarjowo am Rande Moskaus
Russlands Präsident Putin bei einer Videokonferenz in der Residenz Nowo-Ogarjowo am Rande Moskaus

Foto: Alexey Nikolsky/Sputnik/AFP/Getty Images

Für seine Kritiker ist es Inszenierung, für seine Fans authentisch, dass sich Russlands Präsident Putin volksnah gibt – gerne auch hemdsärmelig, oder mal ohne Hemd, wie man sich einen russischen Naturburschen vorstellt. Oder im Bad der russischen Menge, scheinbar ohne Personenschutz, wie an früheren Siegestagen beim Brauch des „Ewigen Regiments“ zur Erinnerung an Kriegsgefallene.

Als Gipfel dieser echten oder vermeintlichen Nähe gilt einmal im Jahr die „Direkte Linie“, eine mehrstündige Bürgersprechstunde, die in mehreren landesweiten russischen TV-Stationen übertragen wird und in der Putin seinem Volk Rede und Antwort steht.

Dabei läuft alles, auch nach Experteneinschätzungen, nach einem unsichtbaren Drehplan ab – zu perfekt ist der jährliche Ablauf für die scheinbar spontan verlaufenden Veranstaltung von drei bis vier Stunden Dauer. Aber man muss dem Event zugute halten, dass dabei eine gewisse Portion kritischer Fragen zugelassen werden. Oder dass Putin darin klare Worte zu durchaus kontroversen Entscheidungen findet, wie im vergangenen Jahr zu der Mehrwertsteuererhöhung von 18 auf 20 Prozent. Gerade westliche Journalisten, die sonst die Übertragung als Schein-Offenheit verteufeln, beziehen sich danach gerne auf dortige Ausführungen.

Reden im Bunker

Die „Direkte Linie“ wurde diese Woche für dieses Jahr überraschend abgesagt, so Kreml-Sprecher Peskow gegenüber der Nachrichtenagentur TASS – mit einer interessanten Begründung. Putin habe angesichts der aktuellen Lage in den vergangenen Monaten schon einen direkten Kontakt zu den Leuten gehalten. So sei es überflüssig, den direkten Draht in der üblichen Form herzustellen. Ist es tatsächlich so, dass Putin im Jahr der Coronakrise besondere Volksnähe gezeigt, die Menschen vor Ort bewegt und mitgerissen hat? Zumindest optisch kaum, denn die Mehrzahl seiner Reden und Besprechungen, denen man auf der Kremlseite lauschen durfte, fanden coronabedingt 2020 in seinem Bunker in Nowo-Ogarjowo unweit der russischen Hauptstadt statt – eher abgeschieden.

Nur einmal gönnte er sich einen der typischen Putinauftritte in einem Corona-Krankenhaus, im Ganzkörper-Vollschutz, durch die Hallen der Infizierten. Dies war aber auch kein so großer Publikumserfolg wie frühere Events dieser Art. Die größte Schlagzeile in den darauffolgenden Wochen war, dass sich der ihn begleitende Arzt kurz danach selbst infizierte. Doch auch abseits von der Optik gibt es in Russland Beobachter, die Putin gerade einen fehlenden Draht zum Volk bescheinigen. So sagte der Politiker und Publizist Gennadi Gudkow gegenüber dem Radiosender Echo Moskwy, Putin habe sonst die Verbindung zum Volk über sein überzeugendes öffentliches Auftreten hergestellt. Seine stilistischen und rednerischen Leistungen hätten in diesem Jahr aber abgenommen. Putin habe sich auch passiv verhalten, wo mitreißende Reaktionen gefragt gewesen wäre, wie aktuell beim kontroversen Vergiftungsfall Nawalny.

Die russische Forschungsgruppe Belanowski machte in einer im deutschsprachigen Raum nur in wenigen Beiträgen beachteten Studie 2020 zwei russische Bevölkerungsgruppen aus, zu der Putin den Draht verloren habe. Das seien nicht Liberale oder Sozialisten, die ohnehin schon längere Zeit oppositionell eingestellt gewesen seien, sondern verlorene Wähler.

Es seien zum einen frühere Anhänger, die ihm von der Ideologie her nahe stehen, also konservativ und antiwestlich sind, teilweise auch Sowjetnostalgiker. Putin habe es nach ihrer Meinung trotz seiner langen Regierungszeit nicht geschafft, ein System nach ihren Vorstellungen aufzubauen und Russland wieder zur alten Macht zu verhelfen. Sie hätten ihn unterstützt, da er als starke Hand Russland wieder groß machen wollte. Aktuell habe er nach ihrer Meinung nur ein System aus Seilschaften geschaffen, und gerade angesichts der Krise vermissten sie bei seinen Bunkerauftritten 2020 seine Führungsqualität.

Zum anderen seien da aber auch apolitische Russen. Bei ihnen sei keine Ideologie tiefer verwurzelt. Nach der Krim seien sie putinbegeistert gewesen, das habe sich schon seit 2018 immer weiter abgeschwächt. Die Gründe sind hier nicht ideologisch, sondern eher eine Folge sinkender Realeinkommen in Russland. Wegen ihres fehlenden Politikinteresses sei diesem Teil der Bevölkerung der Wohlstand am wichtigsten, den das System Putin in den 00er Jahren vielen Russen gebracht und ihm Zustimmung verschafft hat. Jetzt aber führe die schlechte wirtschaftliche Lage, verstärkt durch die Coronakrise, zum Gegenteil.

Sie wissen, was sie tun

Wenn nun die Bürgersprechstunde „Direkte Linie“ als Kernstück der Bürgerkommunikation offiziell ausgesetzt wird, weil Putins Draht zu den Menschen so intensiv sei wie noch nie, darf man nicht von einer Fehleinschätzung der Stimmung der Russen ausgehen. Denn der Kreml nutzt eine Reihe von Wegen, um diese echte Stimmung in der Bevölkerung Russlands zu erfassen – eine ganze soziologische Abteilung des Präsidentengeheimdienstes FSO beschäftigt sich damit – und die dortigen Kommuniqués gelten nicht als beschönigend. So verzichtet man also weitgehend auf den demonstrativen Bürgerdialog (einzelne Elemente sollen wohl in die Jahrespressekonferenz im Dezember einfließen) obwohl man weiß, dass er aktuell vielleicht nötiger wäre als in früheren Jahren.

Warum das geschieht, darüber ließe sich zum aktuellen Zeitpunkt nur spekulieren. Hat Putin an Schwung verloren, der die Menschen gerade bei früheren Veranstaltungen dieser Art mitriss? Gehen ihm kleine Anspielungen oder große Worte, die die Menschen früher bei Großevents begeisterten, nicht mehr so leicht von der Zunge, wie man angesichts vieler eher schwerfälligen Reden aus dem „Bunker“ vermuten könnte? Wenn ja, warum? Aufgrund der ebenfalls in diesem Jahr beschlossenen Amtszeitenverlängerung des russischen Staatenlenkers werden wir diese Frage über kurz oder lang beantwortet bekommen. Denn öffentliche Auftritte und Untersuchungen zur Analyse wird es zu seiner Person noch genug geben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Roland Bathon

Journalist und Politblogger über Russland und Osteuropa /// www.journalismus.ru

Roland Bathon

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