Schlagzeilenträchtig war die Aktion allemal – und am Ende tödlich. Mehrere Dutzend exilrussischer Kämpfer der Einheiten „Legion Freiheit Russlands“ und des „Russischen Freiwilligenkorps“ drangen mit gepanzerten Fahrzeugen und umfassender Social-Media-Begleitung in der Region Belgorod von der Ukraine aus nach Russland vor. Es dauerte etwa 36 Stunden, bis russisches Militär sie von dort vertrieben oder getötet hatte.
Ein solches Ende der Aktion war vorprogrammiert – viele Beobachter rätseln seither, was von wem damit bezweckt werden sollte. Andrii Yusov vom ukrainischen Verteidigungsministerium stellte die Militäraktion als Werk von „Bürgern der Russischen Föderation“ dar, als hätte die Regierung
als Werk von „Bürgern der Russischen Föderation“ dar, als hätte die Regierung in Kiew damit nichts zu tun. Russische Regierungsmedien berichteten dagegen nach Vorlage von Kremlsprecher Dmitri Peskow von „ukrainischen Saboteuren“, die in das russische Mutterland eingedrungen seien.Ukraine rekrutiert russische KriegsgefangeneTatsächlich waren die Kämpfer russische Staatsangehörige und rekrutierten sich aus Russen, die gegen das Regime Wladimir Putins mit der Waffe kämpfen – mitunter als regulärer Teil der Ukrainischen Armee. Den Gründer und Führer des „Russischen Freiwilligenkorps“, den russischen Neonazi Denis Nikitin, zitiert die exilrussische Onlinezeitung Medusa mit den Worten: „Ich musste zum Präsidenten der Ukraine gehen, um uns anzumelden und um die Möglichkeit zu bitten, offiziell zu kämpfen. Der Präsident gab grünes Licht, und alles begann an einem einzigen Tag.“Die andere Gruppe, die „Legion Freiheit Russlands“, hielten manche Beobachter bisher eher für ein ukrainisches PR-Projekt, auch der Kreml propagierte das. Tatsächlich gab es offenbar noch im Sommer 2022 nur wenige Kämpfer. Inzwischen aber scheinen etliche russische Kriegsgefangene für die „Legion Freiheit Russlands“ als regulärer Teil der Ukrainischen Armee rekrutiert worden zu sein, der Beitritt wird von der Ukraine unter Gefangenen beworben. Zudem haben die russischen Behörden inzwischen harte Maßnahmen gegen Überläufer ergriffen, auch konkret gegen eine Mitgliedschaft in der Legion.Militärfahrzeuge aus den USADer Putin-Gegner Ilja Ponomarjow, der den ukrainischen Streitkräften beigetreten ist und zum Sturz des Regimes aufruft, sagte der Novaya Gazeta Europa im Oktober 2022: „Die Legion begann eigentlich als PR-Initiative, hat sich dann aber zu einer echten Kraft entwickelt.“ Bei Belgorod beklagt die Legion zwei Gefallene. In jedem Fall gehört die „Legion Freiheit Russlands“ offiziell zur Ukrainischen Territorialverteidigung und ist damit eine Einheit der Kiewer Streitkräfte wie die Fremdenlegion Teil der französischen.Bei einer Einheit unter ukrainischem Oberbefehl, angreifend von ukrainischem Staatsgebiet aus, bestehend aus vom ukrainischen Geheimdienst geprüften Kämpfern an einer Kiewer Planung zu zweifeln, ist lächerlich. Zudem waren die Truppen laut der Financial Times mit aus den USA an Kiew gelieferten Militärfahrzeugen ausgestattet. Die Legion spricht auf ihrer Homepage selbst davon „unter Führung des ukrainischen Oberkommandos“ zu agieren.Destabilisierung RusslandsWas wollte man mit diesem Vorstoß bezwecken? Auffällig ist die umfassende Social-Media-Begleitung: Jeder besetzte Ort wurde als „Befreiung“ von russischem Gebiet mit Namensnennung und Videos sofort in Szene gesetzt. Die Kämpfer versuchten nicht, ihr aktuelles Operationsgebiet zu kaschieren. Dies zeigt, dass die Öffentlichkeitswirkung der Attacke wichtiger war als ein militärischer Erfolg. Es ging um eine Destabilisierung in Russland, ebenso wie bei Drohnenangriffen oder Sabotageakten im russischen Hinterland. Was alle diese Aktionen in Russland selbst gemein haben, ist, dass sich Kiew nicht dazu bekennt, da sie nicht direkt zum Bild passen, man verteidige lediglich das Heimatland gegen eine aggressive russische Invasion, was für die Großereignisse des aktuellen Krieges ja zutreffend ist. Der Eindruck einer Destabilisierung ist auch größer, wenn von einheimischen Partisanen oder Saboteuren die Rede ist.Die Destabilisierung wurde regional erreicht. Russen flüchteten aus den betroffenen Orten, fühlten sich von der eigenen Regierung alleine gelassen angesichts einer zögerlichen Informationspolitik. „Ich verstehe nicht, warum sie in aller Ruhe einmarschierten und von unseren fast niemand da war“, gab eine Einheimische der exilrussischen Onlinezeitung Medusa zu Protokoll. „Die Behörden haben ein bisschen vergessen, dass unsere Region auch zu Russland gehört“, meint eine andere angesichts vom Kreml verkündeter Annexionen im Nachbarland.„Der Krieg ist in unserer Heimat“Eine wichtige Aussage traf gegenüber Medusa eine dritte Bewohnerin: „Früher schien es mir, als wäre der Krieg weit weg, aber jetzt ist er in unserer Heimat.“ Während nur Minderheiten in der russischen Bevölkerung aktiv für oder gegen die Invasion des Nachbarlandes Stellung beziehen, versuchen die meisten einfach politisch passiv ihr normales Leben weiterzuleben. So lange das so ist, ist die Stabilität des politischen Systems in Russland angesichts der Unterdrückung jeder Opposition nicht in Gefahr.Problematisch wird es für die russische Führung, wenn ihr Krieg das Leben breiterer Bevölkerungsteile berührt – wie etwa die Mobilisierung im vergangenen Herbst: Eine große Zahl von Männern musste zwangsweise und übereilt in den Kriegseinsatz. Auch spektakuläre Aktionen wie der Drohnenangriff auf den Kreml in Moskau, die Beschädigung der Krimbrücke oder eben ein Vorstoß auf originär russisches Gebiet schaffen Verunsicherung, die tiefer geht als jedes entfernte Kriegsgeschehen in der Ukraine.Ein gewollter Nebeneffekt der Aktion könnte gewesen sein, dass russische Truppen von anderen Regionen vorübergehend abgezogen wurden, um den für Russland peinlichen Einmarsch abzufangen. Die Novaya Gazeta Europa spricht in diesem Zusammenhang von 3.200 Soldaten, 1.000 Angehörigen von Spezialeinheiten und 60 Einheiten schwerer Ausrüstung wie Panzer. Zuvor war die Grenze zur Ukraine gemäß der Onlinezeitung 7x7 nur von kampfschwachen Trupps aus russischen Wehrpflichtigen gesichert worden – gerechnet hatte man mit einer solchen Aktion offensichtlich nicht. Das könnte sich ändern – und weitere Truppen binden.