Berauschet euch

Trunken Frank Castorf inszeniert Dostojewski – in Köln. Und ganz ohne Castorf-Schauspieler. Doch alles ist, wie es sein soll
Ausgabe 45/2018

Fragt die Frau in der Reihe vor mir: „Hast du das Stück schon mal gesehen?“ Wohl eine Scherzfrage. Ein grüner Junge wird heute uraufgeführt. „Weißt du, was eine Uraufführung ist?“, fragt sie ihren Begleiter launig weiter, die Antwort geht unter, kurz vor Beginn. Nach den Dämonen und Brüdern Karamasow, dem Idioten, Spieler, Schuld und Sühne und den Aufzeichnungen aus einem Totenhaus bringt Castorf in Köln nun einen nicht ganz so bekannten Dostojewski-Roman auf die Bühne. Premiere.

Die Berliner Politik wollte ihn nicht mehr als Intendanten an der Volksbühne haben, und der einst so „diskursive“ Bau steht als ein stummes Denkmal dieser Zeit am Rosa-Luxemburg-Platz herum. Castorf hingegen ist unermüdlich unterwegs, in Zürich, Salzburg, am Berliner Ensemble, in Bayreuth und nun also am Schauspiel Köln.

Sechs Stunden dauert der Abend, beinahe so lang wie die Zugfahrt von Berlin nach Köln. Nach den Profanitäten der Reise durchs halbe Deutschland, nach all dem Bahncard-Vorzeigen, Käsebrötchen-Verzehren und Äpfelchen-Essen und den ständigen Ansagen der „nächsten Anschlusszüge“, nach dem erschlagenden Anblick des grauschwarzen Doms vor dem grauschwarzen Kölner Himmel und der Straßenbahnfahrt samt Rollkoffer nach Köln-Mülheim empfinde ich beim Anblick des Bühnenbildes von Aleksandar Denić (der eigentlich vom Film kommt, Castorf und er lernten sich in Belgrad kennen) Heimatgefühle.

Wie viele Stunden Castorf habe ich in meinem Leben schon gesehen? Das prägt. Beim Anblick des prächtig geschmückten russischen Holzhauses und dem Kiosk mit der Aufschrift „Pepsi Cola“ auf Kyrillisch entspanne ich mich. 18 Uhr, ich bin zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und gegen null Uhr, am Ende des langen Abends sind zwar nicht alle geblieben, die gute Laune aber doch. Es gibt kräftigen Beifall und kein einziges Buh.

Man hat sich aneinander gewöhnt, Castorf und das Publikum. Mittlerweile wird bei ihm auch nur noch mit Wasser gespritzt, nicht mehr mit Sperma oder Scheiße. Dennoch, alles was zu einer Castorf-Inszenierung gehört, wird geboten. Halbnackte Frauen mit grellen Stimmen und hohen Schuhen, rebellische, krasse, versoffene junge und alte Männer. Alle zusammen miteinander verstrickt, sich verknäulend, voneinander lösend, lange Monologe haltend, Boxkämpfe führend, hinfallend und aufstehend, kletternd und Möbelstücke schleppend, sich anziehend und ausziehend. Und all das, natürlich, präsentiert als castorfscher Film im Theater. Immer wenn das Geschehen im Inneren des Holzhauses stattfindet, hält die Kamera drauf, und die Zuschauer sehen auf Leinwand, was drinnen gespielt wird. Fast die ganze Zeit wabert ein Soundteppich über dem Geschehen. Zeit und Raum lösen sich auf. Man weiß nicht: Sitze ich hier erst eine Stunde oder schon drei oder zehn?

Ganz am Anfang ist man noch irritiert, ein Castorf-Abend ohne Castorf-Schauspieler, geht das denn überhaupt? Wo sind Rois, Angerer, Wuttke, Scheer? Wer sind denn diese anderen Hanseln da? Sie sehen irgendwie genauso aus, sie sind es aber nicht. Aber sie geben sich Mühe und haben Spaß dabei. Sechs Stunden Castorf sind Festspiele – Leistungssport für Stimme, Körper und Gedächtnis. Er scheint es zu wissen, im Inneren der Holzhütte hat Denić Sprossenwand und Sonnenbank installiert. Die Ensemblemitglieder vom Schauspiel Köln wollen es gut machen, und sie machen es gut. Sie müssen ja hier nicht nur Castorfs Dostojewski-Figuren spielen, sondern gleichzeitig auch noch Castorf-Darsteller darstellen, also die alte Volksbühnen-Crew. Mit Boa, Gummimaske, Hackschuhen und Pailletten, großen Augen, lauten Stimmen. Wenn der Schweizer und altgediente Volksbühnenheld Bruno Cathomas auftritt oder der in Moskau geborene 25-jährige Nikolay Sidorenko in der Titelrolle, geht die Sache am besten auf.

Komm zur Sache jetzt

Bevor man sich Castorfs Grünen Jungen ansieht, ist es gut, etwas über die Handlung zu wissen. Die Handlung des 900-Seiten- Romans ist aber wiederum so komplex, dass sich trotz mehrfacher Lektüre des Wikipedia-Eintrags wenig darüber sagen lässt. Zentraler Satz: „Zentrales Thema des Romans ist eine gestörte Kommunikationssituation, die als Ursache, Symptom und Folge einer ins Chaos gleitenden Gesellschaft zu verstehen ist“. Passt. Sowieso: „Nichts ist schwieriger, als zur Sache zu kommen“, sagt der grüne Junge im Grünen Jungen.

Die Inszenierung ist ein locker zusammengestellter Bogen von Begegnungen. Ein Brief wird übergeben, Frauen werden verführt und Männer erobert. Aus dem rasanten Chaos schält sich ab und zu ein großer Monolog, ein Super-Auftritt, ein Geschenk für Darsteller und Publikum.

Eine Vision wäre: Castorf-Exporte deutschlandweit. Vielleicht leistet sich bald jede große Stadt, die etwas auf sich hält, ihre eigene Castorf-Inszenierung. So wie jede ordentliche Großstadt ihre Chipperfield-Glaspyramide braucht oder einen Gehry-Bau direkt neben Starbucks.

Nach der Pause hat sich der Zuschauerraum weiter geleert, und auch das gehört dazu: Ab und zu ein Schläfchen, die wohlbekannte trunkene castorfsche Theatermüdigkeit, mitten in einem Kreischmonolog auf Französisch fallen einem die Augen zu, und wenn man wieder aufwacht, dann freut man sich über eine intensivst-intime Vater-Sohn-Szene. Castorf bleibt Castorf. Man freut sich, dass alles da ist, dass der alte weiße Meister nichts vergessen hat, dass er um Himmels Willen nichts Neues-Neues ausprobieren wollte.

„Wir sind eine Boy-Band“, sagt mir ein Schauspieler in der Pause, auch er eine Legende, wie heißt er gleich nochmal? „Wenn er Mick Jagger ist, bin ich Keith Richards“. Der Vergleich trifft es ganz gut. Wenn man auf ein Konzert der Stones geht, dann will man alles, nur keine neuen Songs, please.

Ich sitze im Dunkeln und schreibe mir zwischen meinen Schlafsequenzen beständig Zitate auf. Zum Beispiel: „Die Menschen sind von Natur aus niedrig und lieben gern aus Furcht; geh du auf eine solche Liebe nicht ein und höre nicht auf, ihnen gegenüber Verachtung zu empfinden. Allah befiehlt irgendwo im Koran dem Propheten, er solle die ‚Störrischen‘ wie Mäuse betrachten, ihnen Gutes tun und an ihnen vorübergehen ...“ Oder das Baudelaire-Gedicht Berauschet euch: „Man muß immer trunken sein. Das ist alles: die einzige Lösung. Um nicht das furchtbare Joch der Zeit zu fühlen, das eure Schultern zerbricht und euch zur Erde beugt, müsset ihr euch berauschen, zügellos.“

Von so einem Castorf-Abend kann man lange zehren. Er fordert viel Aufmerksamkeit, aber irgendwie ist es auch wurscht, ob man sechs Stunden lang voll da ist oder einen der Sekundenschlaf ereilt. Alles wirkt ein bisschen schizophren, auch größenwahnsinnig. Da ist immer noch dieser Anarchismus, gehen Sie weiter, es gibt hier nichts zu begreifen.

„Es war ja sehr gut, aber warum denn so lang?“, wird danach gestöhnt, auch so ein Ritual. Genau deswegen war es ja so lang, weil das eben so sein muss.

Info

Ein grüner Junge Regie: Frank Castorf Schauspiel Köln

Ruth Herzberg liest am 8. November bei der Lesereihe Das Bunte Reh in Berlin

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