Ich habe die Kinder zu meiner Mutter gebracht, und der Handy-Akku steht auf 100 Prozent, falls jemand später Kinderfotos sehen will. (Keiner wird wollen.) Aber was soll ich anziehen? Was zieht man an, um Leuten gegenüberzutreten, die man beinahe 30 Jahre nicht gesehen hat? Von der fünften bis zur neunten Klasse war ich fast jeden Tag mit denen zusammen. 1986 – 1990. Eine POS in Pankow. Eine sogenannte polytechnische Oberschule. Von der ersten bis zur zehnten Klasse wurden die Kinder damals gemeinsam unterrichtet. Also: sollten es werden. Im Schuljahr 1989/90 kam die Wende. Bis zum Sommer 1990 blieben wir noch zusammen. Bis kurz nach der Währungsunion. Danach trennten sich unsere Wege. Ein paar kamen aufs Gymnasium. Ein paar blieben. Ein paar gingen in die Schweiz, an die Hotelfachschule. Ich kam erst 1986 in die Klasse, als wir von Weißensee nach Pankow gezogen sind. Pankow war definitiv ein Aufstieg. Die Schüler waren entspannter, die Lehrer netter und umgekehrt. Auch wenn Nadia beim Fahnenappell ganz hinten stehen musste, weil sie mangels Taschentuch ins blaue Pionierhalstuch gerotzt hat, genau in dem Moment, als die Lehrerin hinsah. Dafür gab’s einen Tadel, das weiß ich noch.
Samt und Seide in Karow
Also was trägt man? Samt und Seide natürlich. Das Klassentreffen findet am Nachmittag statt, im Garten eines sogenannten Eigenheims in Berlin-Karow. Von der S- Bahn-Station bis dorthin ist man 20 Minuten zu Fuß unterwegs. Das Eigenheim gehört meiner einst besten Freundin. Das Treffen ist am Nachmittag, aber später will ich noch zu einer Vernissage, und danach bin ich verabredet. Das Outfit muss für den Nachmittag und für den Abend passen. Also weißes Seidenhemd und schwarze Samtleggings. Doch – es ist wichtig, was ich heute anziehe. Wie sie mich jetzt sehen, daraus werden sie schließen, ob aus mir denn etwas geworden ist. Ich habe mit den Schulfreunden von damals gar nichts mehr zu tun, aber ich werde mich für ein paar Stunden mit ihren Augen sehen, und diesem Blick will ich standhalten.
Ich habe mir extra die Haare gewaschen und die Nägel neu lackiert. Ich finde den Weg nicht sofort, hier draußen im Speckgürtel steht das Internet auf Edge, und die Karten-App lädt nicht. Bei meiner Ankunft stehen die anderen schon auf dem kleinen Stückchen Kunstrasen vor dem gelben Häuschen wie Darsteller auf einer Bühne. Ich gehe von einem zum anderen, umarme oder schüttle Hände, je nach Sympathiegrad. Das hat sich eingespeichert, das ist geblieben. Ich weiß noch genau, wen ich damals wie sehr mochte.
Beinahe alle Namen fallen mir sofort wieder ein. Vier Jahre war ich mit denen in einer Klasse. Vier Jahre beinahe täglich mit Kerstin Schmidt, Claudia Brenner und Jürgen Bielefeld (Namen geändert!). Tatsächlich haben sich die meisten kaum verändert. Ich erkenne sie sofort wieder. Ich umarme die alte BFF (Best Friend Forever), die Eigenheimbesitzerin. Das ist Vertrauen, Nähe, Wärme, als wären wir nie getrennt gewesen. Sofort feuchte Augen und ein bewegtes Herz. Wir drücken unsere Köpfe aneinander und machen Selfies. Ich sehe auf das Display. Oh Gott, sehe ich knittrig aus! Unbearbeitet! Ich bin alt geworden, die anderen gar nicht! Ich mache mir sofort ein Bier auf, die anderen trinken noch Kaffee. Ist ja noch hell, ist ja noch nachmittags. Ich bin eine knittrige Alkoholikerin, die anderen sind fit und haben alle feste Jobs, Ehen und geregelte Einkommen. Als ob meine Knittrigkeit nicht reichen würde, höre ich jetzt, wie sehr ich meiner Mutter ähnlich sehen würde. Wieso können die sich an meine Mutter erinnern? Ich kann mich doch auch nicht an deren Mütter erinnern, schon gar nicht an Ähnlichkeiten. Ich weiß höchstens, wie die Väter aussahen, wenn sie die Tür geöffnet haben, wenn wir Altstoffe sammeln mussten.
Unsere Klasse war groß im Altstoffesammeln. Alle paar Monate gab es eine solche Aktion. Das meiste Geld kam leider nicht in die Klassenkasse, sondern wurde für Nicaragua gespendet. Das hat uns in unserem Fleiß nicht abgehalten. Die Klasse wurde in Vierergruppen eingeteilt und wir trafen uns samstags nach der Schule und gingen die Straßenzüge ab, von Tür zu Tür. Klingelten überall. „Haben Sie Altstoffe?“ Meistens hatten wir Glück. Schleppten Flaschen und gebündelte Zeitungen die Treppen hinunter, stapelten sie im Bollerwagen, fuhren den Bollerwagen zur SERO (Sekundärrohstoffannahmestelle).
Fünf Pfennig pro Kilo Zeitungen, sechs Pfennig pro Glasflasche. Oder so ähnlich. Kleckerbeträge, die sich läpperten. Am Ende stand unsere Klasse immer ganz oben auf der Liste, die im Schulfoyer hing. Doch, das hat mich stolz gemacht.
Die Väter der Ost-Achtziger hatten am Samstagnachmittag gern schon mal ein Bier in der Hand, so wie ich jetzt, und öffneten die Tür im gerippten weißen Unterhemd. Trotz des Biers waren sie erstaunlich schlecht gelaunt. Manche von ihnen verdroschen ihre Töchter mit dem Teppichklopfer, erfahre ich an diesem Nachmittag.
„Ich glaube, mein Vater war bei der Stasi, er hat’s aber nie zugegeben“, sagt eine jetzt, an dieser langen Kaffeetafel. Die anderen nicken. „Unsere ganzen Nachbarn waren bei der Stasi“, sagt eine andere. „Meine Eltern wussten das, und deswegen durften die Nachbarskinder nie zu uns. Ich hab nur damals nie verstanden, warum.“ Sie sei nur deswegen nach Magdeburg aufs Sportinternat gekommen, weil sie so eine Chance gehabt hätte, das Abitur zu machen. Sie hätte nicht an die Erweiterte Oberschule gedurft, weil ihre Eltern katholisch und nicht in der Partei waren. In der DDR durften immer nur zwei bis drei Kinder pro Klasse an die EOS zum Abiturmachen und späteren Studieren. Immer nur die mit den linientreuen Eltern. Mich hat das damals nicht gekümmert.
Plötzlich wird mir etwas klar
Ich hatte den festen Plan, sofort mit 18 einen Ausreiseantrag zu stellen. Ich wollte in Westberlin, Paris und New York leben. Die Wende kam mir reisetechnisch dazwischen. Ich habe Ostberlin seither nie verlassen. Die anderen schon. Eine ist extra für diesen Nachmittag aus Baltimore angereist. Wie es ihr dort gefällt? Nicht gut. Sie will zurück. Aber ihr Mann sei Amerikaner, und zwar der einzige, den sie kenne, der nicht in Europa leben möchte. Und zwar auf keinen Fall. Alle anderen Amerikaner träumten von Europa. Das Gesundheitssystem. Die Sozialleistungen. Weniger Arbeit. Sie selbst sei nur am Arbeiten. Maximal zwei Wochen Urlaub pro Jahr. Sie hat dafür schöne weiße, gebleichte Zähne und schwarz gefärbte Haare. Manikürte Fingernägel und einen leichten amerikanischen Akzent.
Alle haben es geschafft, ich nicht. Sind weg aus Berlin. Leben woanders. In der Schweiz, im Ruhrgebiet, in Nürnberg oder wenigstens hier draußen in Karow. Alle haben Kinder. Ja, das können wir Ostdeutschen. Kinder bekommen und arbeiten. Es gibt: einen Zahnklinikchef, einen Kneipenbesitzer, Kita-Personalleiterinnen, ReNo- Fachangestellte, die Inhaberin eines mobilen Friseursalons, Bilanzbuchhalterinnen, Tierpfleger. Und eine Künstlerin. Mich.
Die anderen können sich ganz genau an mein damaliges Ich erinnern. Sie wissen noch, dass ich immer so gute Aufsätze in Deutsch geschrieben und so schön gezeichnet hätte. Und unsere Wohnung sei so unfassbar groß gewesen. Ich habe mich damals immer für unsere Sieben-Zimmer-Chaosbude geschämt. „Seid ihr gerade eingezogen?“, haben sie immer gefragt, wenn sie zu Besuch kamen. So chaotisch und provisorisch war alles bei uns. Kein Vergleich zu den immer frisch gesaugten Sitzgarnitur/Fliesentisch/Fernseher/Spannteppichboden/Tapete/Schrankwand-Wohnungen der Klassenkameraden. Ja, unsere Wohnung war riesig, einige Zimmer haben wir nie richtig bewohnt. Es gab ein Tischtenniszimmer, und meine kleinen Geschwister sind mit dem Roller durch die Gänge gefahren. Wir haben Frisbee im Erkerzimmer gespielt und Fußball im Flur. 70 Mark Miete hat das gekostet.
„Wie groß war eure Wohnung? 90 Quadratmeter?“, fragt Nadia, immer noch voller Bewunderung. „190“, antworte ich leise. „Oder mehr“, füge ich noch leiser hinzu. Mir wird plötzlich klar, wie privilegiert ich war. Mich hat keiner mit dem Teppichklopfer verdroschen. Wir hatten einen Fensterputzer und einen Putzmann, ein Kindermädchen, und jeden Donnerstag wurde die schmutzige Wäsche abgeholt und am nächsten Donnerstag gewaschen und gebügelt zurückgebracht. Das war der Osten. Kinderreiche hatten Privilegien. Unsere Nachbarn waren Schauspieler, Schriftsteller, Architekten, Theaterregisseure, und ja, in der Wohnung gegenüber hat einer von der Stasi gelebt.
Der Nachmittag neigt sich dem Abend entgegen. Ich trinke jetzt Sekt auf Eis mit Gerard, dem Zahnklinikchef. Er sieht genau so aus, wie man sich einen erfolgreichen Zahnarzt vorstellt. Ein bisschen schnöselig, Schnurrbärtchen und Seitenscheitel. Der Sekt auf Eis war seine Idee. Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass ihn die Zahnarzthelfer*innen und Patient*innen anschmachten. Vielleicht lasse ich mir von ihm mal das Gebiss sanieren. Vielleicht ist das eine gute Idee. Vielleicht bin ich jetzt betrunken. Zeit, auf die Vernissage zu gehen. Seltsam, wie wir hier alle genau so aussehen und uns so benehmen wie das, was wir sind. Die Friseurin sieht aus wie eine Friseurin, weißblonde Zöpfchen, starkes Make-up, verblichene Rosentattoos auf dem Dekolleté, der Zahnarzt wie ein Zahnarzt, der Kneipenwirt poltrig und sanft wie ein Kneipenwirt, meine alte Freundin mit dem Eigenheim wie eine sehr knorke Vorstadtfrau. Und ich, etwas überspannt, in weißem Seidenhemd und schwarzen Samtleggings. Narzisstische Künstlerin eben. Ich bin froh, alle glücklich und gesund vorgefunden zu haben. Zeit, zu gehen. Mein Gesicht will ich heute Abend woanders verlieren. Den Rückweg finde ich ohne App.
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