Rot auf Schwarz

Preisträger Berlin ist immer noch die Stadt der Projekträume. Im Decad Room etwa kann man betörende Schönheit erleben
Ausgabe 37/2018

Es gibt mehr als 27 unabhängige künstlerische Projekträume in Berlin, jedenfalls so viele haben am Project Space Festival 2018 im August teilgenommen. Unter ihnen sind der „Spor Klübü“ in Wedding und das „tête“ in Prenzlauer Berg. Der „Decad Room“ liegt in der Gneisenaustraße 52, auf der Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln, man könnte auch sagen: im schon nicht mehr neuen Epizentrum der Gentrifizierung, first they took Kreuzberg, then they took Neukölln.

Die Website des Decad Room ist auf Englisch und dazu in der typisch kryptischen Sprache gehalten, die Kunst und den Kunstbetrieb für den sogenannten normalen Menschen so suspekt macht. Laut Website ist Decad ein nicht profitorientierter Kunstraum, der sich auf die Reziprozität zwischen zeitgenössischer Kunst und dem kritischen Diskurs in der Öffentlichkeit fokussiert. So weit komme ich mit dem Übersetzen, mein Englisch ist begrenzt, deswegen hier der Text noch einmal im Original: „Decad is a not-for-profit art space in Berlin which takes as its focus the reciprocity between contemporary art and critical discourse within the public sphere.“

Es geht noch weiter, aber hier kann ich beim besten Willen nicht mehr folgen: „With this purview, a particular emphasis is placed on socially and critically engaged art practices, understood as following in the lineage of postminimalism, institutional critique and art-in-public-space.“

Mit leichter Antihaltung

Aber jetzt will ich es doch gerne wissen. Wer sind die und was wollen die? Mit einer leichten Anti-Haltung mache ich mich auf den Weg, von hier aus gesehen in den Berliner Südosten. Dorthin hat es mich schon lange nicht mehr verschlagen, ja, ich gebe es zu: Ich verlasse meinen Kiez, den Prenzlberg, nur selten. Ich verabrede mich per Mail mit Rachel Alliston, der Gründerin und Betreiberin des Decad Room. So entsteige ich eines Montagmorgens im Halbschlaf der U8, kaufe mir im erfreulich warmen Herbstsonnenschein einen halben Liter Kaffee beim am U-Bahn-Ausgang geparkten Barista-Mobil. Ich werde mit „Meine Liebe“ angesprochen und bekomme eine Stempelkarte in die Hand gedrückt. Davon wird meine Stimmung schon erheblich besser. Ich gehe die Hasenheide hinunter und erkenne Berlin nicht wieder. Wie breit die Straßen hier sind, wie großzügig und schön die Häuser, wie grün die Nebenstraßen. Ich überlege, auch nach Neukölln zu ziehen, ins alte Westberlin.

off space, no name

Sitz in Berlin, kontinuierliche Aktivität, nicht marktorientiert. So lauten die Vorraussetzungen für die Bewerbung bei der alljährlichen Preisausschreibung für künstlerische Projekträume und -initiativen. 105 off spaces hatten sich dieses Mal beworben. Mit 37.000 Euro ist der Preis seit diesem Jahr dotiert. Berlin boomt, mit dem Boom findet Verdrängung statt, der Rest ist bekannt: Mieterhöhungen, Kündigungen, Raummangel. Um diesen Trend abzumildern, wird der Preis an unabhängige, programmatisch eigenwillige Projekte vergeben. Der Jury gehörten dieses Mal u.a. an: Anna Bromley, Nele Heinvetter, Hubi W. Jäger. Unter den 20 Preisträgern ist der Decad Room. Die Preis soll vor allem „der Würdigung und Sichtbarmachung, sowie der Sicherung der vorhandenen Vielfalt dienen“. Die Preisverleihung findet am 28. September traditionell in der Bar Babette statt, die übrigens nach 14 Jahren schließen muss, der Mietvertrag wurde nicht verlängert.

Ja, noch mal von vorne anfangen, einen Projektraum in Neukölln gründen – oder bin ich schon wieder in Kreuzberg? Dann stehe ich vor dem Gebäude, die Rollos sind heruntergelassen, ich bin schließlich außerhalb der offiziellen Öffnungszeiten da, (Donnerstag und Freitag, 14 – 19 Uhr). Die Tür ist angelehnt und ich gehe ins Halbdunkel. An einem weißen Empfangstisch sitzt Rachel Alliston. Sie ist schlicht gekleidet, ungeschminkt, Haare verwuschelt, schwanger und hat ein schönes Puppengesicht. Sie sieht aus wie die Hauptfigur aus einem Kinderbuch. Rachel führt mich herum. Der Decad Room ist ein sehr geräumiges Ladenlokal mit abgeschliffenen Dielen und geweißten Wänden, es gibt eine Leinwand und einen Beamer, dort wird sie mir nachher die aktuell ausgestellte Arbeit zeigen, den Film Beyond the Nation State I Want to Dream der niederländischen Künstlerin Dorine van Meel.

Hinter dem Showroom führt eine Tür in einen langen Gang, hier gibt es noch weitere Räume, die an diverse Künstler untervermietet sind, auch um die Miete für die Räumlichkeiten aufbringen zu können.

To dislike is not to intervene

Dann gelangt man auf einen kleinen Hof, eher einen Lichtschacht, und dahinter gibt es einen Raum mit nackten Backsteinwänden und einem großen weißen Tisch, einer Küche und einem Bücherregal und weißen Stühlen, wo auch Veranstaltungen stattfinden, Gespräche mit Künstlern, die sogenannten Artist Talks.

Wir setzen uns an den Tisch und unterhalten uns auf Englisch. Rachel lebt seit fünf Jahren in Berlin, aber auf Englisch kommuniziert es sich besser. Es kommuniziert sich besser, aber leider habe ich immer noch Verständnisprobleme, ähnlich wie bei der Lektüre der Website. Im Großen und Ganzen verstehe ich, dass Rachel aus New York kommt und Kunstgeschichte in Bristol studiert hat und in London auch noch irgendwas (Kunst?) – und dass sie 2012 den Decad Room gegründet hat und dass es hier eine Bibliothek gibt und Veranstaltungen und Kunstgespräche und dass sie alles selbst renoviert hat.

Wir stellen fest, dass es schwer ist, in den Kunstbetrieb einzudringen, leichter wird es, wenn man seinen eigenen Betrieb gründet. Es ist leichter, eine Galerie zu eröffnen, als einen Galeristen zu finden. Ich muss an Brecht denken: Was ist der Überfall auf eine Bank gegen die Gründung einer Bank?

Ich entschlüssele mir im Nachhinein die Sprache der Webseite so: Im Decad Room zeigen Künstler anderen Künstlern Kunst von anderen Künstlern. Das kann man aber nicht einfach so sagen. Gerade ist der Decad Room vom Senat für die nächsten zwei Jahre gefördert worden. So kann Alliston im Voraus Ausstellungen planen. Derzeit ist eine Serie von Arbeiten geplant, die sich mit Staaten auseinandersetzen, also im weitesten Sinne politisch ist. So auch die aktuell gezeigte Arbeit, der Film von Dorine van Meel. Der Film ist betörend schön. Da gibt es Windräder und Tulpen und Tulpenfelder und ein Segelschiff, das sich um sich selbst dreht – und das alles in Rot auf Schwarz und die Bilder drehen sich und zerfallen und setzen sich wieder zusammen und dazu gibt es hypnotische Musik und eine monotone Frauenstimme, die auch hypnotisch wirkt und die unter anderem schöne Sätze wie diesen sagt: „Collective questions need collective answers.“ Und: „To know is not to act, to dislike ist not to intervene.“ Und ich dachte: Hey, genau so ist es.

Info

Decad Room: Dorine van Meel Beyond the Nation State I Want to Dream 19.07. – 30.09.2018

Ruth Herzberg ist freie Autorin, Zeichnerin und festes Mitglied der Berliner Lesebühne Surfpoeten

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