Nein, Angst haben sie nicht, die jungen Theatermacher, auch wenn sie mit Stoffen hantieren, die offizieller Propaganda entgegenlaufen. Sie offenbaren moderne künstlerische Denkweisen, offen oder verhüllt provozierend, und sie schaffen frische Luft zum Atmen für alle, die es wollen. So wurde im altehrwürdigen Petersburger Alexandrinsky-Theater vor einigen Jahren eine dritte experimentelle Spielstätte eröffnet, die ihren Namen zu Recht trägt, ist sie doch für Nachwuchsregisseure gedacht. Etwa für einen wie den 31-jährigen Anton Okoneschnikow, der zwar als neuer Stern des Kindermusiktheaters gilt, aber ebenso die russische Avantgarde liebt. Mit seinem Team startet er kühne Experimente, wie mit dem Stück Sieg über die Sonne des Futuristen Alexej Krutschonych. Oder mit dem Poem Die Zwölf von Alexander Blok, der seine berühmten Verse 1918 im revolutionären Petrograd schrieb.
Rotarmisten-Patrouille
Nur wurde das Werk derart verrissen, dass Blok alle Drucke vernichten ließ und nur eine Abschrift blieb. Der Dichter starb schon 1921, als sein krankes Herz infolge des Hungers versagte und ihm die Ausreise verwehrt war. Sein Poem wurde seither mehrfach erfolgreich vertont, doch eine szenische Adaption? Und nun dies: Vier riesige Monitore markieren auf der ebenen Spielfläche einen großen Kreis mit Zwischenräumen. Vor jedem Gerät sitzen Zuschauer, im Zentrum bleibt ein kreisförmiger Freiraum. Junge in Schwarz gekleidete Schauspieler treten in die Leerräume oder vors Publikum, jeder erscheint simultan in Großaufnahme auf den Bildschirmen, jeder erzählt, welche Träume vom Leben ihn bewegen, welche Ereignisse. Doch halt! Die zwölf Monologe wurden vorher aufgezeichnet, die Spieler reden leicht verfremdet. Dann setzen sie sich zwischen die Zuschauer, und auf den Monitoren läuft ratternd ein Stummfilm mit dem Titel: Teil I. Und: Black. Der Wind heult, pfeift … was jetzt, ein Hörspiel?
Während wir noch rätseln, bricht das Chaos über uns herein, wir sehen nichts mehr, verlieren die Orientierung im Dunkeln. Jemand hustet, keucht, dort schreit einer, das rhythmische Stampfen von Stiefeln beginnt, steigert sich, dazwischen ist Lachen aus verschiedenen Richtungen zu hören, Fetzen von Stimmen, Straßenjargon, Weinen. Immer aggressiver schlagen die Stiefel, blutrot flammt ein Lämpchen auf, ein unheimliches Spiel entfaltet sich. Endlich dringt ein melodisches Summen durch das Stampfen und Flüstern: Schwarzer Abend, weißer Schnee, Sturmwind fegend, Mensch nicht steh’… Und wieder nähern sich die bedrohlichen Stiefel. Kreischen, Lachen, Anfeuern. Sozialistische Losungen hier, geflüsterte Anmache von Prostituierten dort, Rufe irgendwelcher Passanten, von Rotarmisten. Und dann schließlich die Zuschauer, die zu stummen Zeugen von Bloks grandiosem Revolutionspoem werden. Regisseur Okoneschnikow hat den ersten Teil in eine Collage von Stimmen, Geräuschen und Tönen verwandelt, die das Theater minutenlang in ein Revolutionsgeschehen wirft, dem keiner im Saal entfliehen kann. Dann flimmern ringsum die Monitore, schattenhafte Konturen der Rotarmisten, die im revolutionären Petrograd nachts Patrouille laufen, zeichnen sich ab.
Alles Fake
In krasser Montagetechnik nach dem Vorbild Sergej Eisensteins, die den Zuschauer in ein Wechselbad taucht zwischen Miterleben und Verfremdung, zwischen Theater und Kino in Stummfilm-Ästhetik, lässt Okoneschnikow Die Zwölf lebendig werden. Die Geschicke der Masse kulminieren in der Tragödie eines einzelnen Rotarmisten, der statt des Nebenbuhlers seine Geliebte Katja erschießt. In Großaufnahme betrachten wir auf der Leinwand die innere Wandlung des Mörders, von seiner Betroffenheit über eine emotionale Höllenfahrt bis zum trotzigen Aufbegehren. Es geht in einen grotesken Balztanz über, um später nach der Devise „Alles ist erlaubt“ in totaler Anarchie und Zerstörung zu enden. Vorwärts, marsch, vorwärts, Arbeitervolk – das anonyme Volk skandiert und marschiert zum Schluss schattenhaft im immer gleichen Kreis, schließlich hinkend und stumm, mit hängenden Köpfen und Schultern, von hinten unbarmherzig angetrieben. Und die letzten, rätselhaftesten Zeilen des Poems? Blok vergleicht die zwölf Apostel mit zwölf Rotarmisten, denen ein toter Christus als Anführer erscheint, mit blutiger Fahne, über den Wolken des Schnees, von Perlen umschneit. Er trägt das weiße, rosenbedruckte Stoffband, das in der orthodoxen Kirche einem Verstorbenen um die Stirn gelegt wird.
Einen kryptischen Hinweis hat sich Blok erlaubt durch den Verweis Isus Christos. Es ist nicht der Auferstandene, den er meint, es ist sein Schatten: ein Anti-Christus, der eine „neue Religion“ einführt. Die letzten Zeilen erscheinen schlicht als Text auf der Leinwand. Bravo!
Warum wählt ein junger Regisseur, der gern lacht, solchen Stoff? „Die Revolution war ein gigantisches Ereignis, das in Russland alles Leben verändert hat“, sagte mir Okoneschnikow. „Ob das gut oder schlecht ist, kann ich nicht sagen, sie hat Künstler umgebracht und Künstler hervorgebracht …“ Okoneschnikow meint, das Poem passe von der Atmosphäre her so unglaublich in die jetzige Zeit. Er spüre ein bedrohliches Chaos, das sich nähere, nicht nur in Russland – in Europa und überall.
Ursprünglich hatte Okoneschnikow Bloks Poem 2016 mit französischen Studenten in Limoges bei einem Workshop geprobt. Obwohl er alles genau erklären musste, bemerkte er ihr geradezu fantastisches Verständnis für die Revolution. Als Okoneschnikow die Inszenierung am Alexandrinsky-Theater in Petersburg zeigt, schlägt ihm Intendant Fokin vor, es hier mit jungen Schauspielern nochmals zu versuchen. Seitdem steht sie im Repertoire.
Für ein ganz anderes Sujet hat sich das Moskauer Jermolowa-Theater erwärmt, das nicht gerade für Schlagzeilen berühmt ist. Hier gibt es eine Inszenierung, für die der deutsche Romantiker E. T. A. Hoffmann Pate stand: Klein Zaches. Was der 35-jährige Regisseur Kirill Wytoptow da hingefetzt hat, ist eine von tragikomischer Phantastik durchzogene Persiflage der russischen Zweiklassen-Gesellschaft. Ihr wird ein Zerrspiegel vorgehalten, im Underground und in der Upperclass. Wytoptow wollte den Stoff schon lange adaptieren. Zu Beginn treiben sich merkwürdige Typen in der unteren Etage herum: Ein Mann in Armeehosen, der alles und jeden fotografiert, ein Allerweltstyp; dazu ein kleinwüchsiger Mann, der sich mit zwei Sängerinnen vergnügt und mit „allergnädigster Herr“ angeredet wird, ein offenbar brotloser Dichter. Wytopotows Verfremdung der Figuren ist heutig, seine künstlerische Sprache, in der auch magische Elemente in Farben, Bildern und Ton vorkommen, oft schrill. E. T. A. Hoffmanns satirische Linie der Aufklärung wird ersetzt, weil hier natürlich mit Hilfe des staatlichen Fernsehens aufgeklärt wird. Mal werden die Simpsons imitiert, mal gibt es andere Anspielungen – die Zuschauer reagieren mit vergnügtem Kichern. Unten aber, zwischen den Besuchern der Karaoke-Bar, steht plötzlich eine Frau, einer eisernen Lady ähnlicher als einer Fee.
Sie verwickelt einen Fahrradboten, wie sie zuhauf durch Moskaus Zentrum sausen, ins Gespräch. „Zaches-Botendienste“ steht auf seiner gelben Tasche, mit der er Pizzen ausliefert. Er ist alles andere als schön zu nennen. Und so nimmt die schrecklich-ergötzliche Geschichte von Klein Zaches ihren Lauf, der mit Hilfe von Fee Rosa sein schönes Land mit Zauber-Blendwerk massenhaft in die Irre führt. Fortan mutiert Böses, Hässliches und Dilettantisches zum Guten, Schönen und Talentierten. Alles Fake! Zaches klaut fremde Errungenschaften und erklimmt rasch die höchste Stufe der Macht. In Russland weiß jeder, dass der Staatschef im Volksmund so tituliert wird.
Wassilij Berezin, der die Titelrolle spielt, kommentiert jedoch weise: Jeder Mensch müsse Zaches in sich selbst finden. Und dann steht er im größten Triumph mit einem Cowboyhut auf dem Kopf da wie … nun ja! Dann platzt die ganze Blase, und zurück bleibt ein gekaufter und geprellter Dichter, der als Loser mit einer Einkaufskarre umherzieht. Regisseur Wytoptow hat das Happy End gestrichen, sein Klein Zaches ist eine Geschichte für Erwachsene, ihn interessiert der aktuelle Ansatz. Man kann seine provozierende Arbeit durchaus als Anti-Theater bezeichnen. In Moskau eine singuläre Erscheinung, die sicherlich nicht jedem gefällt.
Rot wie Blut sind die Samtsessel und Wände im Saal des Majakowski-Theaters, wo Nikita Kobelew Regie führt und die lettische Szenenbildnerin Monika Pormale ins Team geholt hat, die das Geschehen in den Saal verlegt hat und die Zuschauer auf die Bühne setzt. Im Stück Moskauer Chor von Ljudmila Petruschewskaja, der Grande Dame unter den Autoren, geht es um das Schicksal einer einst großen Familie während des Tauwetters nach Stalins Tod 1953. Anhand von drei Generationen wird die tiefe Zerrüttung, die Krieg und Stalinismus in den Menschen hinterlassen haben, sicht- und fühlbar.
Zwei Schwestern sind die Antipoden: Lika hat versucht, über die schweren Jahre die Familie trotz allen Zwistes gütlich zusammenzuhalten. Neta kehrt mit der Tochter aus Gulag und Verbannung in Sibirien zurück. Sie entpuppt sich als Vertreterin der alten Ideologie und denunziert Familienmitglieder, um an Entschädigungen zu kommen. Nichts haben sie reflektiert oder aufgearbeitet, soll das wohl heißen. Sie sind Prototypen der ewigen Stalinisten. Die großformatigen Fotos von unter Stalin Ermordeten dagegen, die auf leeren Sesseln im Saal ausgestellt sind, stilisieren keinen Heldenmythos, sie stehen symbolisch für die offiziell verschwiegenen Opfer. Es geht um Würdigung und die Lücke, die sie hinterließen. Ein Chor, der sich gleich zu Beginn auf der Bühne verteilt, ein Lied probt und für den roten Faden der Handlung sorgt, weist auf den Ausweg aus allem Leid: die zeitlose Musik von Bach, Mozart und des italienischen Komponisten Giovanni Battista Pergolesi. Beim Finale vereint sie die Menschen und soll Frieden stiften.
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