Erzählungen aus der Zukunft (II)

Wider das Arbeitsethos 1 Das Ende der Arbeitsgesellschaft ist unausweichlich. Ansätze für eine gerechtere postkapitalistische Zukunft jenseits der Arbeit

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Moderne Zeiten
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Foto: Breve Storia del Cinema/Flickr (Public Domain 1.0)

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I. Wo wir heute stehen

Die deutsche Politik nimmt neuerdings ab und zu tatsächlich das Wort ‘Digitalisierung’ in den Mund und beschwört die Notwendigkeit des Aufbruchs. Leider bleibt es weitestgehend bei der lahmen Beschwörung und alle Versuche wirken mehr als unbeholfen, wenn damit lediglich Breitband-Ausbau oder Anti-Funkloch-Apps gemeint sind (Dorothee Bär, CSU, Staatsministerin für Digitalisierung & Andreas Scheuer, CSU, Minister für digitale Infrastruktur)1 oder verstreute Projekte / Nebenbausstellen, wie digitalisierte Personalausweise oder Flugtaxis.2 Es gilt abzuwarten, ob der Hype um Bär, die nun endlich Deutschland zukunftsfähig mache, irgendeine Berechtigung hat.

Noch grotesker sind die arbeitsmarktpolitischen Ansätzen in Zeiten der Digitalisierung, die beispielsweise Zwangsarbeit als ‘Solidarisches Grundeinkommen’ verkaufen wollen (Michael Müller, SPD, Regierender OB Berlin),3 die ein ‘Hartz IV-Begriff abschaffen’ raushauen und damit dann neue Begriffe à la ein Hartz V oder VI meinen (Hubertus Heil, SPD, Minister für Arbeit und Soziales)4 oder die im aktuellen GroKo-Vertrag ˗ völlig irrwitzig angesichts der zunehmenden Automatisierung ˗ ahistorisch und realitätsfern tatsächlich lauten: Unser gemeinsames Ziel ist Vollbeschäftigung in Deutschland.5

So ist es kein Wunder, wenn der Talkshow-Liebling Richard David Precht konstatiert, dass in der Politik die Retropie, die rückwärtsgewandte Utopie, vorherrscht. Das Wort Digitalisierung löst überall Angst aus. [...] das finden Sie überall. Auch bei der Linken. Ein Großteil der Linken möchte in die Zeit von Willy Brandt zurück und sieht in der Technik überwiegend das Bedrohliche. Dabei wäre es Aufgabe der Linken, für das digitale Zeitalter eine Utopie zu entwerfen, weil das ein ur-linkes Thema ist.“ 6

Zu Prechts Argumentation gehört weiter das bedingungslose Grundeinkommen, das er aber explizit nicht mit den Argumenten der utopischen Linken (Grundeinkommen als Ausdruck von Freiheit & Kreativität) begründet, sondern aus der Notwendigkeit heraus. Denn, so Precht weiter, „kurzfristig werden wir durch starke Erschütterungen gehen. Mir geht es darum, den Menschen die Augen zu öffnen, damit diese Erschütterungen nicht allzu brutal ausfallen. Ich möchte in einer Umbruchphase das Schlimmste verhüten.“7

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Mit meinen Erzählungen aus der Zukunft versuche ich einerseits aufzuzeigen, dass für uns durchaus noch das Bestmögliche drin sein könnte, andererseits sollen aber auch abgründige Gefahren nicht unerwähnt bleiben. Habe ich in Teil I anhand neuerer SciFi-Literatur darauf verwiesen, dass wir utopische Narrationen benötigen, so sei dieses Postulat hier nun fortgesetzt. Dabei sind m.E. die größten Probleme, die uns den Weg versperren zu einer sozialen, gerechten Zukunft ˗ resp. Narrationen von einer selbigen ˗ von euroamerikanischer Natur: die Narrative des Arbeitsethos’.

Eben jene gilt es zu dekonstruieren und ihnen brauchbarere Erzählungen von einer sozialen und gerechten Gesellschaftsform der Zukunft entgegenzusetzen. Darum geht es in diesem Text und in zwei Folge-Aufsätzen. Letztere werden freigeistige Positionen seit dem 19. Jahrhundert aufzeigen, welche schon frühzeitig Gegenpositionen zum industriekapitalistischen wie marxistischen Arbeitsethos entwickelten (Wider das Arbeitsethos 2: Lafargue, Nietzsche, Read, Vaneigem) und weiter dem Marxismus grundsätzlich freundlich gesinnte Autor*innen vorstellen, denen es indes gelang Marx zu überschreiten und ein Jenseits der Arbeit zu antizipieren (Wider das Arbeitsethos 3: Bogdanow, Arendt, Gorz).

Im vorliegenden Aufsatz werde ich zunächst unsere gegenwärtige Situation umreißen (II.), die Probleme, die das Arbeitsethos nach wie vor gebiert thematisieren (III.), die Problematik aufwerfen, wie die Bevölkerungen im 21. Jahrhundert zu versorgen sind (IV.), etwas Marx-Schelte loswerden (V.) letztlich auf jene 15 Seiten der etwa 1500 Schriften in 42 Bänden der Marx-Engels-Werke eingehen, die auch für den linken Antimarxisten unserer Zeit noch von Interesse sind: das sogenannte Maschinenfragment (VI.).
Hauptsächlich stützen werde ich mich auf die akademischen politischen Denker und Politaktivisten Nick Srnicek & Alex Williams und ihr großes Buch
Die Zukunft erfinden. Postkapitalismus und eine Welt ohne Arbeit (2015; dt. 2016). An neueren Autoren sind für die Debatte weiterhin empfehelenswert: Dietmar Dath Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift (2008),

Michael Hardt & Antonio Negri mit ihrem Commonwealth. Das Ende des Eigentums (2009; dt. 2010), Paul Masons Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie (2015; dt. 2016) sowie André Gorzens Schriften Wege ins Paradies (1983), Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft (1989) und Arbeit zwischen Misere und Utopie (1997), wobei Gorz, wie gesagt, auch in Wider das Arbeitsethos 3 thematisiert werden wird. Alle Genannten gehen davon aus, und auch ich tue das, dass gerade durch Digitalisierung, Robotisierung und Ende der Arbeitsgesellschaft eine sozialer und gerechter Postkapitalismus möglich wird.

Was einerseits eine Frage der Haltung ist (und eine umgekehrt sklavenmoralische Haltung führt logischerweise destruktiv zu einer Sklavengesellschaft), wird andererseits sukzessive im Laufe des Textes inhaltlich gefüllt werden. Nun aber zunächst weiter in der Bestandsaufnahme.

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II. Fatale gesellschaftspolitische Entwicklungen aufhalten

Die notorischen Schwarzseher, denen grundsätzlich eine radikale Absage erteilt sei (denn entweder versuchen wir das Beste rauszuhauen für unser Leben, oder wir lassen es), kommen insofern auf ihre Kosten, da in der gegenwärtige Krise von System und Beschäftigungsverhältnissen die Dinge nun alles andere als rosig ausschauen (was freilich vor allem ein schlagendes Argument ist, daran etwas zu ändern). Darstellungen hierzu finden sich bei den verschiedensten Denker*innen, z.B. bei Gorz, Hardt/Negri oder Mason. Orientiert vor allem an Srnicek/Williams ist zu konstatieren:

Schon heute dominiert die ‘überschüssige Bevölkerung’ (Begriff nach Marx) bei weitem die aktiv im Kapitalismus Arbeitenden, sei es in Gestalt von Kindern, Jugendlichen und Alten, seien es die Arbeitslosen im Kapitalismus, der nichtkapitalistische Überschuss (Arbeiter*innen in Subsistenzwirtschaften der Entwicklungsländern, sie machen dort (je nach Land) 30-80% der Arbeitenden aus), die proto- und quasiproletarischen Bevölkerung (vom Kleinbauern bis zu akademischen Honorarkräften), die inaktive Schicht (Entmutigte, Invalide, Studierende etc.).8

Auf einen wichtigen Punkt macht Donna Haraway aufmerksam: Die prekären, neoliberalen Jobverhältnisse werden mit Männer wie Frauen besetzt, aber mit patriarchalem Frauenbild ‘feminisiert’, sprich: sie definieren sich über die Ausbeutung, die im Patriarchat stets der Frau ˗ als rechtelose Dienstmagd, als stets verfügbare Ehefrau und Gespielin, als ‘flexibel-dynamische’ (und ungelernte) Sklavin ˗ angetan wird.9

Global gesehen ist die Arbeitslosenrate nach der Wirtschaftskrise 2008 gestiegen, das Entstehen neuer Arbeitsplätze wurde ausgebremst, stattdessen die bekannten Phänomene: Teilzeitjobs, Prekarisierung der Arbeit, Werkverträge, ‘flexible Beschäftigung’, niedrigere Bezahlung, weniger Schutz, größere Unsicherheit.10

Bei Beibehalten des Modells der Lohnabhängigkeit, wird die Arbeitslosenrate weiter steigen. Die Automatisierung von Arbeitsplätzen verläuft dabei in 3 Wellen und wird bis in die 2030er Jahre in manchen Bereichen über 60% der Stellen betreffen.Unter Vrodo.de finden sich aktuelle detaillierte Statistiken hierzu.11 Es liegt in der Natur von Studien, dass jede unterschiedliche Bereiche und Zeitfenster untersucht und so auch zu verschiedenen Zahlen kommt. Eine McKinsey-Studie spricht von einer 50%-igen Digitalisierung bis 2055,12 was m.E. eine sehr schleppend verlaufende (sprich: politisch ausgebremste) Entwicklung ist. Eine ebenfalls aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt auf, dass gegenwärtig schon etwa 25% aller sozialversicherungspflichtigen Stellen von Robotern/KI ausgeführt werden könnten.13 Grundsätzlich ist zu sagen ˗ und das wird gerne übersehen oder anders kommuniziert ˗, dass heute Roboter auch in der Lage sind nicht routinisierte Aufgaben, wie das Verfassen von Nachrichtenmeldungen oder dem Vorbereiten einer juristischen Klage (Recherchieren der Gesetzeslage und der Präzedenzfälle), durchzuführen. Ob an der Börse oder auf der Baustelle, in der Küche oder in einer Redaktion, im OP oder im Einzelhandel: Roboter können alles besser.14

„Zur brutalen Wahrheit der Prekarisierung gehört aber auch, dass mit ihr Depression, Verzweiflung und die Zahl der Suizide zunehmen ˗ ein „Auswuchs“, den traditionelle Wirtschaftsstatistiken nicht erfassen.“15

Global gesehen konzentriert sich die Arbeitslosigkeit in den metropolen Ballungsräumen und auf dem Trikont wachsen Slums, Favelas und Shantytowns. Fortgesetzter Kolonialismus, ‘Strukturanpassungsprogramme’, globaler Wettbewerb, unökologische und überschnelle Industrialisierung und Klimawandel trieben die Kleinbauern in die prekären Verhältnisse der städtischen Peripherien.16

Solange Lohnabhängigkeit als alternativlose Einkommensquelle gilt, kann das Kapital die ‘überschüssige Bevölkerung’ als Disziplinierungsinstrument gegenüber den Arbeitenden verwenden: Wer nicht spurt (wer sich nicht in rassistische, nationalistische, sexistische Kategorien oder die prekären, flexiblen Verhältnisse einfügt), gehört bald dito zum Überschuss.17

Auch Arbeitslose entkommen der Arbeits- und Leistungsideologie nicht, denn die geringsten Sozialleistungen sind gekoppelt an permanentes Bewerben, Weiterqualifizierungen, Sanktionen, 1-Euro-Jobs: „Dies alles sowie die zunehmende Überwachung und Kontrolle dienen dazu, eine gefügige, qualifizierte und flexible überschüssige Bevölkerung heranzubilden, die zudem Druck auf die Beschäftigten ausübt. Es ist daher letztlich Unterschied, ob die Programme und Agenden die Arbeitslosigkeit tatsächlich reduzieren oder nicht, ihr Zweck ist ein anderer. Der Sozialstaat wird sukzessive zu einem Arrangement, dessen Aufgabe vermehrt darin besteht, die Überschüssigen gegen die Arbeitenden auszuspielen.“18

Scrnicek/Williams gehen ˗ ähnlich wie die oben genannte verlinkte Analyse von Vrodo ˗ davon aus, dass die Digitalisierung sich vor allem in den nächsten beiden Jahrzehnten vollzieht und es damit heißt, dass „die Weltwirtschaft immer weniger imstande sein wird, ausreichend Arbeit zu schaffen (ganz zu schweigen von wirklich guten Jobs), wir indes, um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten, weiterhin auf Arbeit angewiesen sein werden. Politische Parteien und die Gewerkschaften scheinen vor dieser Krise die Augen zu verschließen, oder aber sie sind bemüht, Symptome in den Griff zu bekommen, während die Automatisierung immer mehr menschliche Arbeit überflüssig macht.“19 (Neben Parteien und Gewerkschaften blockieren freilich auch Unternehmen die Zukunft, wenn die Politik keine neue Technologien subventioniert und prekär Beschäftigte schlicht billiger sind als Roboter.20)

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Erfolgt die Digitalisierung, ohne dass das politische & ökonomische System angepasst wird, wird sie also nicht zu Gunsten der Multitude (den Bevölkerungen) verlaufen. Schon Gorz antizipierte die Probleme, die uns heute Google, Amazon oder Facebook mit ihrer Art & Weise bereiten, wie sie personenbezogene Daten gebrauchen:

„Max Webers Schreckenvision einer völlig bürokratisierten, rationalisierten, funktionalisierten Gesellschafts-Maschine, in der jedes Individuum wie ein Rädchen funktioniert, ohne auch nur zu versuchen, den Sinn (wenn es ihn denn gibt) der von ihm ausgeführten Teilaufgabe zu verstehen ˗ diese Gegenutopie könnte sich weit eher in einer geschmeidigen „kybernetischen“ Version verwirklichen: An die Stelle der offenen Indoktrinierung und Militarisierung durch den „großen Bruder“ träte eine „individuell angepaßte“ Vollversorgung durch fürsorgliche informatische Netzwerke. Das Ziel ist gleichwohl dasselbe; und auch die Ergebnisse unterscheiden sich nur durch die Feinheit der verwandten Instrumente: Die funktionale Rationalisierung dder Individuen wird nicht mehr erzwungen durch „Gedankenpolizei“ und Propaganda, sondern durch den sanften zwang einer Manipulation, die die nicht-ökonomischen Werte für ökonomische Zwecke instrumentalisiert.“21

Dietmar Dath, der bereits vor 10 Jahren (Und wurde in dieser Zeit immer wieder gerne von mir gegenüber einer bildungsresistenten Umwelt zitiert. Smiley.) sein Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift (2008) vorlegte, macht ebenfalls auf die Gefahr aufmerksam, die ‘den Überflüssigen’ (also uns) drohen könnte, nämlich die Rückkehr in den Feudalismus.22 Dath macht ebenfalls das Arbeitsethos als unser größtes Hindernis aus und schreibt:

„Wenn der Aberglaube an den lohnabhängigen Arbeitsplatz als einzig denkbares Instrument der Vergesellschaftung nicht besiegt wird, geht er früher oder später in ältere, robustere Formen des Mythos über ˗ vielleicht die ägyptische: Warum soll man, wenn die Leute Arbeit brauchen statt Wohlstand, der sich aus der tendenziellen Zurückdrängung der Schufterei ziehen ließe, nicht auch wieder Pyramiden bauen lassen, oder deren postmoderne Äquivalente? Das schafft Beschäftigung, wenn schon sonst nichts, und dazu passen Priesterkasse (vielleicht im Fernsehen zu installieren), Peitsche und Halseisen (vielleicht elektronisch einzurichten). Wozu einen Weltbankchef, wenn wir den Pharao wiederhaben können?“23

Das Dath’sche Modell, damit es nicht soweit kommt, kombiniert neueste Technologien und klassisch sozialistische Ansätze (zu meiner Positionierung gegenüber Daths Marxismus-Leninismus vgl. meine Erzählungen aus der Zukunft I. Die Brisanz von Sci-Fi), so z:B. in Form eines Supercomputers, einer KI, der/die eine Planwirtschaft steuert24 (deren zeitnahes Agieren hätte zumindest nicht die Misswirtschaft von 5-Jahres-Plänen inne), einer „maschinenbeherrschten Hochzivilisation“, die den Menschen gleichzeitig von der Arbeit befreit und für sinnigere Existenzformen freistellt,25 einem Ja zur Maschinenstürmerei gegenüber schädlichen Technologien („Erkennen und von der rechten unterscheiden wird man die linke Maschinenstürmerei an Strategie, Taktik und Ergebnis. Man wird sich vorbehalten, das Zerstörte auf höherer Stufe wiederherzustellen und dabei nach der Regel verfahren müssen: Zerstört die Apparate, aber schützt die Bauanleitungen.“26), aber auch einem Ja zu emanzipatorischen Technologien und KI: „Die Menschen müssen ihre Maschinen befreien, damit die sich revanchieren können.“27

Erfolgt keine Veränderung in den Machtstrukturen, so wird das Heute im Morgen umso schlimmer: Nur einer privilegierten Minderheit (den Monopolisten des Silicon Valley, aber auch den irregeleiten Jünger*innen der Gewerkschaften, die als Preis freilich des Bewusstseins gesellschaftspolitischer Tatsachen entsagen müssen) werden Arbeitnehmer*innen-Rechte und sichere Arbeitsverhältnisse gewährt, während die Masse, die Multitude, in prekären Beschäftigungsverhältnissen verharrt.28

Die seit Jahrzehnten bekannte Konsequenz dessen aber ist: „Diese Privilegien sind mit der ökonomischen Rationalität nur im Rahmen einer gespaltenen Gesellschaft ˗ einer dual society ˗ vereinbar; und diese Spaltung oder „Dualisierung“ ist in allen industrialisierten Ländern seit Mitte der 70er Jahre zur beherrschenden Tendenz geworden. / Überall finden wir in der Tat dasselbe Bild: Eine privilegierte Schicht stabiler und ihrem Betrieb ergebener Kernbelegschaften steht mittlerweile einer wachsenden Masse von prekär Beschäftigten, Zeitarbeitern, Arbeitslosen und Jobbern gegenüber.“29

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Gerade die Gewerkschaften, einst Teilhaberinnen an emanzipatorischen Prozessen, stützen die polarisierte Gesellschaft nicht unmaßgeblich. Gorz schreibt dazu: „Die Gewerkschaften geraten in Gefahr, zu einem Versicherungsverein für eine relativ kleine, privilegierte Stammarbeitergruppe zu werden. [...] In einer Situation „deutschen Typs“ [...] werden die von einer Arbeiterelite beherrschten Gewerkschaften gefährlich dazu neigen, die Interessen der Randarbeiternehmer und Arbeitslosen zu vernachlässigen und ˗ bewußt oder unbewußt ˗ mit den Unternehmern ein ideologisches Bündnis der „Gewinner“ und „Tüchtigen“ gegen die „Unfähigen“ und „Nichtstuer“ zu schließen. Auch hier besteht also das Problem gewerkschaftlicher Politik ˗ nach der Formel von Peter Glotz ˗ darin, „die Starken mit den Schwachen zu solidarisieren“. / Diese Solidarisierung wird aber nur aus einer Sicht heraus möglich sein,die radikal mit der Arbeitsethik und der von uns so genannten Arbeitsutopie bricht. Diese Utopie ˗ samt ihrer Ethik von Leistungsbereitschaft, Anstrengung und Berufsstolz ˗ verliert unabwendbar jeden humanistischen Gehalt in einer Situation, in der die Arbeit nicht mehr die wichtigste Produktivkraft ist und es daher auch nicht genügend Dauerarbeitsplätze für alle geben kann.“ 30

Diese Situation herrscht freilich bereits seit Jahrzehnten, wenn sich auch immer systemrelevante Jobs als Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen fanden, die die Situation verschleierten. In den nächsten 20 Jahren indes werden diese ABM derlei Absurdität annehmen, dass die Verschleierung nicht länger haltbar ist und dass der Systemwechsel, würde es denn mit rechten Dingen zugehen, der Multitude evident werden muss. ˗ Der Mensch nimmt leider allzu oft Absurditäten unhinterfragt hin. Mason beschreibt ein modernes Automobilwerk, das eine Fertigungsstraße hat, die via Computer gesteuert wird, dabei aber menschlichen Arbeiter*innen auf einem Bildschirm anzeigt, welche Schraubenschlüssel sie wo einsetzen sollen. Die Arbeiter*innen nehmen lieber eine derartige groteske Situation hin, ‘als ihren Job zu verlieren’. Die Arbeitgeberin beutet lieber Menschen aus, statt in Roboter zu investieren.31

Die heutige Gemengelage lässt sich mit Srnicek/Williams wie folgt vereinfacht darstellen: Gewerkschaften, Kapital & Industrie/Unternehmen bilden die Blockade/Schnittstelle zwischen Politik und vorhandenem/potentiellem Fortschritt. Gegenwärtige Aufgabe der Politik ist es, die Notwendigkeit dieser Blockade aufzuheben, also das globale Ende der Lohnabhängigkeit gesellschaftspolitisch zu ermöglichen. Das ist freilich mit den Schwierigkeiten verbunden, dass Gewerkschaften, Kapital & Industrie gerne vor allem aus Eigeninteresse handeln: Industrie/Unternehmen & Kapital wollen sich am möglichen Fortschritt zuallererst selbst bereichern (und investieren so freilich bereits punktuell in Forschung & Umsetzung) , während die Gewerkschaften derzeit die Optionen haben

a.) sinnstiftend im Dienste der Menschheit (anstatt nur für handverlesene Arbeitnehmer *innen) zu fungieren,

b.) sich aufzulösen oder

c.) am Status quo starrsinnig festzuhalten, weiter (wider alle gesellschaftliche Realität) Lohnabhängigkeit, Arbeitsideologie und obsolet gewordene Arbeits- und Lohnrechte zu propagieren, Arbeitslose nicht zu emanzipieren, sondern zwanghaft in (mühsam konstruierten) ‘Arbeitstellen’ ruhig zu stellen oder auch mal mit schwachbrüstigen Papieren pseudo-progressiv ein ‘Arbeit 4.0’ vermeintlich zu thematisieren.

Leider ist c.) weitestgehend die Realität und nur eine linke, emanzipatorische Politik könnte das ändern, indem sie die Gewerkschaften ihre neue Funktion zuweist (zum Beispiel mit der Drohung bundesweit zum Gewerkschaften-Austritt aufzurufen): das Wohlergehen und die Rechte der Multitude.

Jenseits aller Rationalität, jenseits allen emanzipatorischen Interesses, agiert eine ‘linke’ Politik gegenwärtig aber gerne umgekehrt im Interesse der Gewerkschaften und erhält gemeinsam mit diesen den fatalen Status quo.32

Beispielsweise auch Paul Mason stellt die reaktionäre Haltung eines solchen Agierens klar heraus:

„In der entwickelten Welt klammert sich ein harter Kern von Gewerkschaftsaktivisten weiter an die Methoden und die Kultur der Vergangenheit, aber eine aufstrebende Klasse junger Arbeitskräfte in prekären Beschäftigungsverhältnissen fällt es leichter, Gebäude zu stürmen und Straßenschlachten anzuzetteln, als einer Gewerkschaft beizutreten (siehe Athen im Dezember 2008). [...] Wenn die Geschichte des Kapitalismus einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben muss, so gilt dasselbe für die Geschichte der organisierten Arbeiterbewegung. [...] Als historisches Subjekt wird sie [die Arbeiterbewegung] von einer vielgestaltigen globalen Bevölkerung ersetzt, deren Kampf nicht auf die Arbeit beschränkt ist, sondern in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens geführt wird, und deren Lebensstil nicht von Solidarität, sondern von Unbeständigkeit geprägt ist. [...] Der Marxismus hat sich in Bezug auf die Arbeiterklasse getäuscht.“33

Ob aber mit oder ohne Gewerkschaften, es gilt mit Gorz: „Um eine dauerhafte Südafrikanisierung der Gesellschaft zu verhindern, müssen wir eine andere Utopie verfolgen!“34

Es bedarf heute also dringend einer Gegenbewegung, damit das Leben des 21. Jahrhundert nicht nur einer superreichen Elite gehört. Denn jene Narration, dass die Digitalisierung selbstständig und wie von Roboterhand alle obigen & derzeitigen Probleme der Welt löst, wird freilich nur von den neoliberalen Profiteuren ˗ Radikalkritiker Evgeny Morozov spricht auch nicht ganz falsch von postpolitischen libertären Rechten ˗ à la Ray Kurzweil oder Elon Musk (so sehr sie Kenner der Robotik sind) propagiert, die leider weltweit unreflektierte Anhänger*innen um sich scharen. Wenn Morozov angesichts dieser Rechten darauf verweist, dass ein Grundeinkommenskonzept, welches aus dem Silicon Valley kommt, nur Ökonomie und Zwei-Klassen-Gesellschaft im Auge hat (Dath hat die fatalen Konsequenzen eines kapitalistischen Grundeinkommens sehr prägnant umrissen.35), so liegt er auch hier nicht falsch. Es gilt: Sollten sich die Machtverhältnisse nicht ändern, so steht tatsächlich ein Feudalismus 4.0 vor der Tür, wie Morozov ihn ausmalt.36

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III. Das Problem mit dem Arbeitsethos

Die linke Antwort auf die Digitalisierung kann freilich nicht sein, diese stoppen zu wollen und die stete Zunahme von automatisierten, robotisierten und virtualisierten Jobs, welche nunmehr Roboter, Androiden und KI ausführen, halsstarrig aufhalten zu wollen, obwohl auf (r)evolutionäre Prozesse, (was auch für die technologische (R)evolution gilt) sich langfristig kein Deckel machen lässt.

Pseudo-linke Arbeitsideologen werden (oder sind es schon) zu Fürsprecher*innen des Industrie-Kapitalismus’, der indes als Paradigma längst vorüber ist, ebenso wie der rot übertünchte Industriekapitalismus des Ostblocks an neuer Technologie und Netzwerk-Logiken zugrunde ging und Vergangenheit ist. (Die digitale Revolution hat zudem industriekapitalistische Inhalte/Werte völlig umgewertet, wie Haraway sehr schön aufzeigt: „Die Mikroelektronik vermittelt die Übersetzung von Arbeit in Robotik und Textverarbeitung, von Sexualität/Fortpflanzung in Gen- und Reproduktionstechnologien und von Geist in Künstliche Intelligenz und Entscheidungsprozesse.“37)

Nun ist es freilich nicht zu unterschätzen, dass in unserer Gesellschaft Menschen jahrzehntelang derart auf das Arbeitsethos eingeschworen wurden, dass schon die meisten Kinder auf die arbeitsethisch intendierte Frage ‘Was willst Du einmal werden, wenn Du groß bist?’ auch arbeitsethisch in den Kategorien der Professionalitäten (Krankenschwester, Lokführer, Tierärztin usw.) antworten und recht gründlich ein freier kindlicher Geist ausgetrieben wurde, der mit ‘glücklich’, ‘frei’ oder ‘quicklebendig’ antwortet.

Noch weniger sollen die Geister von 50jährigen Arbeitslosen dazu in der Lage sein, ihr Leben als selbstbestimmt und sinnerfüllt zu denken, zumindest scheint jenen die Jobsuche die einzige Option ˗ das System fördert diese Eindimensionalität noch, wenn ˗ zynisch als Weiterbildung tituliert ˗ eine widersinnige System-Eintaktung in ein zerfallendes System vorgenommen wird. Nicht nur aufgrund der mehr als unzureichenden Sozialleistungen und der gegenwärtigen Hartz IV- Disziplinarik, sondern auch wegen einer allgemeine verbreiteten, arbeitsideologischen (und sinnfreien) Verunglimpfung von staatlichen/gemeinschaftlichen Zuwendungen, werden diese per se nicht selten selbst von Betroffenen abgelehnt.

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Festgefahrene Mentalitäten zu erreichen mag ein großes Problem sein, welches etwas Zeit (das hätte bereits im letzten halben Jahrhundert passieren können!) des Nahelegens, Ausprobierens und Festigens neuer Wege benötigen wird. Es sollte indes verweigert werden, populistische Angstszenarien zu beflügeln, die

a.) eine ‘bildungsferne Unterschicht’ großreden, welche nur mit ‘Arbeit’ diszipliniert werden könne b.) dieser ‘bildungsfernen Unterschicht’ einen gesellschaftspolitischen riesigen Raum herbeireden (xx% oder mehr der Menschen würden ohne disziplinarische Arbeit kriminell, rassistisch, whatever).

c.) Mit einer solchen Argumentation wird legitimiert, die Gesellschaftspolitik auf rechtskonservative oder rechtspopulistische Wähler*innen zuzuschneiden.

d.) Mit dieser Haltung, die wider alle Vernunft weiter das Arbeitsethos beschwört, und sei es nur, um die Opfer der verfehlten Politik der letzten Jahrzehnte nicht neu herauszufordern, werden gerade diese Opfer in den nächsten 10-20 Jahren zu AfD-Wähler*innen gemacht, weil sie weiter in einem nicht-funktionierenden System gehalten werden und darin wieder und wieder Jobs verlieren, scheitern, verzweifeln und für populistische ‘Lösungen’ anfällig werden.

Nach Wilhelm Heitmeyer liegt das deutsche Potential für Rechtspopulismus-Anfällige (Indikatoren: Fremdenfeindlichkeit, Autoritäre Aggression, Antisemitismus) zwar derzeit über dem 2001/02 konstatierten Wert von 20% und die gesellschaftspolitische Norm hat begonnen sich zu verschieben, 38 die AfD-Wähler*innen bei der BTW 2017 machten zudem bekanntlich 12,6% aus. Aber diese Werte kommen ja gerade durch ein nicht-funktionierendes System zustande, das seit Jahrzehnten an den Idealen Arbeit & Vollbeschäftigung festhält, obwohl das nicht den individuellen Realitäten entspricht. Dieses System geriet mit der Finanzkrise ab 2007 zudem sichtbar ins Eiern und wurde/wird von einer Politik begleitet, der es weder gelang die Konsequenzen in Gesamt-Europa aufzufangen, noch die finanzkapitalistischen Ursachen anzugehen. Ebenso wie diese Politik z.B. nicht frühzeitig auf die sich im 21. Jahrhundert vollziehenden Migrationsbewegungen aufmerksam machte, geschweige denn strukturell darauf vorbereitet war/ist.

e.) Schlussendlich wird mit der oben beschriebenen Denke der Mensch als grundlegend ‘böse’ und emanzipationsunfähig verstanden, nicht aber in seiner Flexibilität gut und böse zu sein, sich selbst für oder gegen Freiheit zu entscheiden und darüber hinaus äußerst anpassungsfähig gegenüber externen Einflüssen / Umwelten zu sein, zumindest war dies der Homo sapiens sapiens in den letzten 40.000 Jahren.

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Es sei also ein Ansatz und eine Haltung präferiert, die der fortgesetzten Arbeitsideologie diametral entgegengesetzt ist. Die Optionen zu größtmöglicher Emanzipation und größtmöglicher sozialen & gerechten Gesellschaft stehen so im Fokus. Vorhandene Problematiken muss eine Politik für eine nicht-arbeitende Gesellschaft freilich berücksichtigen und ˗ abgesehen vom Großprojekt der Ent-Ideologisierung in Sachen Arbeitsethos ˗ auch entsprechende Auffangszenarien entwickeln, angefangen bei Bildungsangeboten (endend bei entsprechender psychotherapeutischer Betreuung ˗ sei es durch freiwillige menschliche Psychologen oder Roboter*innen), die dabei helfen, dem individuellen Leben einen ‘Sinn’ zu geben.

In einer pluralistischen, nicht-ideologischen und sozial gerechteren Gesellschaft ˗ und nur eine solche sollte von links für das Jenseits der Arbeit anvisiert werden! ˗, wo das Erfinden des besten Apfelkuchen-Rezeptes, das Werkeln, das Verbringen halber Tage im Sportstudio, das Gärtnern, das Züchten von Kaninchen und Kanarienvögeln, das Engagement in diversesten Vereinen & Religionsgemeinschaften, in den diversesten sozialen & politischen Institutionen, das Weiterbilden, das Kultur-Treiben, das (endlich freie!) Realisieren eigener kreativer, wissenschaftlicher oder intellektueller Projekte, das stundenlange Surfen im Internet oder Binge Watching, das Feiern, Trinken & Vögeln etc. pp. gleichwertig sind, dürfte die Zahl derer, die mit der Selbstbestimmung Anfangsschwierigkeiten haben, aber doch überschaubar bleiben. Ebenso gleichwertig ist freilich das Durchleben existentialistischer Krisen, die nun einmal zur conditio humana gehören, auch wenn sie zukünftig um die Dimension der finanziellen Ängste beschnitten werden.

Insgesamt erscheint es mir doch so, dass zwar jede*r Menschen kennt (wenn nicht persönlich, so doch in Politik, Fernsehen & Internet), die das Arbeitsethos (und die Annahme, ‘der Mensch’ brauche diesen) propagieren; gleichzeitig begegnet man aber recht selten Menschen, die sich dann tatsächlich unfähig zeigen, eigenen Zielen, zeitintensiven Beziehungsverstrickungen, Projekten, Hobbies, Sport, Initiativen, Kultur-Bespielungen und/oder politisch-sozialem Engagement nachzugehen.

Dennoch, die herrschende gesellschaftspolitische Ideologie sieht leider anders aus. Die Medien z.B., die zwar erfreulich oft Visionen des Menschen in der Digitalisierung bringen, spielen bei der Ideologisierung dann doch gerne mit, wenn ( Es ist zum Mäusemelken!) sie nicht richtigerweise von einer Befreiung von Arbeit sprechen, sondern martialisch (und absurd) eine angebliche Vernichtung von Arbeitsplätzen thematisieren. Srnicek/Williams bringen es so auf den Punkt:
„Arbeit ist nach wie vor das höchste Gut, wie schrecklich, schlecht bezahlt oder lästig sie auch sein mag. Dieses Mantra eint die großen politischen Parteien und die meisten Gewerkschaften. [...] dazu passt die weit verbreitete Tendenz, Menschen ohne Arbeit herabzusetzen. Zeitungen erscheinen mit Skandalschlagzeilen über nichtsnutzige Wohlfahrtsempfänger, sensationshungrige Fernsehshows verhöhnen Arme, und der Verdacht des Sozialbetrugs ist medial allgegenwärtig. Arbeit spielt in unserer Selbstwahrnehmung eine zentrale Rolle ˗ so wichtig, dass sich angesichts der Vorstellung, weniger zu arbeiten, vielen die Frage stellt: „Aber was soll ich dann tun?“ Der Umstand, dass ein glückliches Leben außerhalb der Arbeit so unvorstellbar erscheint, zeigt, wie umfassend das Arbeitsethos unser Denken beherrscht.“39 (Ich pflichte der Einschätzung voll zu, aber wiederhole noch einmal, dass das so geprägte Denken und Sprechen nicht zwingend zur Folge haben muss, dass die Denker- und Sprecher*innen auch tatsächlich unfähig zu Selbstbestimmung sind.)

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Srnicek/Williams zeichnen im Weiteren nach, wie das Arbeitsethos Wurzeln im Christentum hat, auf das der Mensch sich ein besseres Leben im Jenseits erarbeite und wie dieses Ethos sich schließlich säkularisierte, liberalisierte und zum Fetisch der subjektiven Identität wurde, die sich nur so ein Selbst-Bewusstsein zu sichern glaubte. In einem folgenden Aufsatz werde ich Hannah Arendts etwas andere Genealogie des Arbeitswahns nachzeichnen, der weniger das christliche Mittelalter als Schuldigen in den Mittelpunkt stellt. Es ist tatsächlich mehr der Protestantismus der Neuzeit und der Moderne, der (neben freilich dem Industrie-Kapitalismus/Marxismus, den Arendt ebenfalls ganz richtig betont) den Arbeitskult festigt. Die Zeit brachte im Luther-Jahr in diesem Sinne den lesenswerten Artikel Martin Luther, der Vater des Arbeitsfetischs.40

Eine wichtige Säule, die das Arbeitsethos trägt, ist die, dass ein Lohn nur durch Mühen und Leid erarbeitet werden kann: sei es der Eingang ins Himmlische Jerusalem oder in die Eigentumswohnung. Auch die größer werdende Zahl der Nicht-Vollbeschäftigten oder der Nicht-Arbeitenden ist diesem Leid-Lohn-Mechanismus unterworfen: Der Obdachlose muss Beschimpfungen und Denunzierungen erdulden, auf dass er sich ein paar Münzen erbetteln kann; die Hartz-IV-Empfängerin ist unentwegten Behörden-Schikanen ausgesetzt, auf dass sie sich ihren kargen ‘Lohn’ verdient hat. Die nicht-rationale Begründung für diese Szenarien ist theologischer resp. ideologischer Natur.41 Indes:

„Doch heute sollten wir eine solche Logik zurückweisen und erkennen, dass es nicht länger notwendig ist, Mühsal und Leid Bedeutung beizumessen. Arbeit und die Mühen, die sie mit sich bringt, sollten nicht glorifiziert werden. / Notwendig ist daher ein gegenhegemoniales Projekt: eines, das die Vorstellung zerstört, Arbeit sei etwas Notwendiges und Erstrebenswertes ˗ und Mühsal die Grundlage des Lohns [...] Der Kapitalismus verlangt, dass die Menschen arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, doch gleichzeitig ist er immer weniger imstande, ausreichend Arbeitsplätze zu schaffen.“42

Gorz verwies schon in seinem Arbeit zwischen Misere und Utopie (1997) auf die abstruse Koppelung von Lebensarbeitszeit & Einkommen aneinander (was schon m frühen Industriekapitalismus ein Absurdum darstellte, vgl. hierzu auch Wider das Arbeitsethos 3):

„Das unabdingbare Bedürfnis nach einem ausreichenden und sicheren Einkommen ist eine Sache, das Bedürfnis, zu werken, zu wirken und zu handeln, sich an anderen zu messen und von ihnen anerkannt zu werden, eine andere, die weder in der ersten aufgeht noch mit ihr zusammenfällt. Der Kapitalismus dagegen verkoppelt diese beiden Bedürfnisse systematisch, verwirrt und verschmilzt sie und gründet darauf die Macht des Kapitals und seine ideologische Vorherrschaft: keine Tätigkeit, die nicht von jemandem in Auftrag gegeben und bezahlt wäre, kein ausreichendes Einkommen, das nicht die Entlohnung einer „Arbeit“ wäre.“43

Die Entkapitalisierung und Entkoppelung des individuellen Einkommens von ‘Arbeit’ kann nach Gorz mittels einer Gesellschaft der Multiaktivität erfolgen, die die Individuen miteinander vernetzt und auch das Einkommen vielfältig sichert: Einerseits bedingungsloses Grundeinkommen, andererseits freiwillige Jobs in verschiedenen Bereichen. Gorz bekräftigt hier auch die Ablösung des Materialismus durch Wissen, Intelligenz & Phantasie, ebenso wie das Entstehen der Kultur- anstelle der Arbeitsgesellschaft.44

Dabei wird die Differenz zwischen Kapitalismus und Gesellschaft immer größer und ist schlussendlich nicht mehr tragbar: „Mit anderen Worten, es heißt, die offenstehenden „Wege aus dem Kapitalismus“ auf ein Maximum zu erweitern, verstanden im Sinne eines biblischen Exodus, der sein „gelobtes Land“ auf dem Wege dahin erfindet.“45 Das Verständnis eines Heranreifen einer neuen Gesellschaft im Gehäuse des alten Systems ist nun ein ur-anarchistisches. Das Bild vom Exodus aber zieht 2015 auch Paul Mason in seinem Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie erneut heran.

Die heutige technologische Infrastruktur nun stellt die Ressourcen bereit, andere politische und ökonomische Verhältnisse zu schaffen, so stellen Srnicek/Williams zugleich am Beginn ihres Buches fest46 und führen aus:

„Die neueste Welle der Automation schafft die Möglichkeit, ganze Sparten öder erniedrigender Arbeiten dauerhaft abzuschaffen. Auf erneuerbaren Energieträgern beruhende Technologien ermöglichen eine praktisch unbegrenzte und ökologisch nachhaltige Energieerzeugung. Und Neuerungen in der Medizin erlauben nicht nur ein längeres und gesünderes Leben, sondern eröffnen auch neue Möglichkeiten, mit Genderkategorien und sexuellen Identitäten zu experimentieren. Viele klassische linke Forderungen ˗ die Forderung nach weniger Arbeit, das Streben danach, dem Mangel ein Ende zu setzen und gesellschaftlich nützliche Güter zu produzieren, und nicht zuletzt das Ziel, die Menschheit zu befreien ˗ sind heute materiell viel eher erfüllbar als je zuvor in der Geschichte.“47

Angesichts möglicher Problematiken ist freilich ein sanftes ‘Ende der Arbeit’ vorzuziehen, ein schrittweiser Abbau der Arbeitszeit und gleichzeitig die Hoffnung auf Menschen, die bereit für das Utopische sind. Der geeignete Zeitpunkt diese mit neuen, sinnerfüllteren Lebenskonzepten vertraut zu machen, ist einerseits längst verstrichen, andererseits ist er ˗ gemäß eines ‘Besser spät als nie’ ˗ genau jetzt. Um neue Gedankenansätze und gesellschaftliche Ausrichtungen massengesellschaftlich einzuspielen, braucht es zuweilen Jahrzehnte (auch wenn emanzipatorische Akte wie Frauenwahlrecht, Anti-Apartheid oder Öffnung der Ehe dann doch unerwartet wahr wurden). Wichtig ist vor allem das jetzige Vor-, Weiter- und Nachdenken, das Schaffen eines neuen common sense, das Entwickeln neuer utopischer Narrative.48.

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IV. Die Versorgung der Bevölkerung

Die Problematik der Versorgung einer nicht-arbeitenden Bevölkerung ist freilich die bedeutendste. Die auch von Linken gerne bemühte Logik, ‘der Kapitalismus’ habe bisher nach jeder neuen technologischen Revolution auch immer neue Jobs erfunden, ist mit den gegenwärtigen technologischen Durchbrüchen beendet. Die Logik vom jobschaffenden Kapitalismus war freilich sowieso nur deshalb einigermaßen richtig, weil „die politischen und sozialen Bedingungen der historischen Erfahrungen übergangen [werden]: Staatliche Programme, starke Arbeiterbewegungen, eine deutlich geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Arbeitszeitverkürzungen haben alle eine wichtige Rolle beim Erhalt von Arbeitsplätzen gespielt.“49

Die Parteinahme für eine kapitalistische Ökonomie ist zudem äußerst kurios, wenn Linke sprechen, die sich nun für die abstraktesten, systemstützenden Arbeitsstellen einsetzen, nur damit es Arbeitsstellen gibt (was eigentlich heißt: damit das System funktioniert). Außerdem haben diese Sprechenden die Natur der Digitalisierung nicht begriffen, welche final dadurch gekennzeichnet ist, dass jede Arbeit von einem Roboter, einem Androiden oder einer virtuellen, algorithmischen KI ausgeführt werden kann und diese Roboter, Androiden und KI sind heute bereits teilweise in der Lage, die nächste Generation an nicht-menschlichen Arbeiter*innen mit zu konstruieren, auch für etwaige neue ‘Jobs’ (wenn diese nicht bloße Maßnahmen sind).
Zu einem Zeitpunkt, wo Roboter Universitätsvorlesungen halten können50 und chirurgische Roboter auch von Ärztinnen wie Patienten mehr geschätzt werden, weil sie zuverlässiger arbeiten,51 stellen sich doch die rhetorischen Fragen:

Warum sollte ein Mensch einen fehlerfreier Arbeitenden (den Roboter) ersetzen wollen?

Warum sollte im Falle des Erhalts der kapitalistischen Ökonomie, diese den Menschen in irgendeine Gleichung überhaupt noch einbeziehen?

Warum sollte ein postkapitalistische Ökonomie, die den Menschen im Fokus hat, trotzdem weiter den Menschen mit Arbeit ausbeuten und Lohnabhängigkeit fesseln, wenn nicht-menschliche Arbeiter*innen schon bereitstehen?

Letztere Frage kann als Antwort freilich auch den Aberwitz haben: Damit das Marx’sche Gedankensystem nicht zusammenbricht, weil dieses ohne einen menschlichen Arbeiter nicht funktioniert.

Dass wir in einer grundlegend anderen Situation des technologischen Fortschritts befinden, als Marx und Marxist*innen ihn kannten, führen auch Scrnicek/Williams eindringlich aus und angesichts des für die Ökonomie entbehrbaren Menschen, steht freilich die Installation einer anderen (postkapitalistischen) Ökonomie an erster Stelle.52 Denn es geht um uns, wenn angesichts der Digitalisierung gilt : „Die soziale Grundlage des Kapitalismus als Gesellschaftssystem ˗ das Verhältnis zwischen proletarischen Beschäftigten und kapitalistischen Unternehmen, vermittelt durch Lohnarbeit ˗ löst sich auf.“53 Wir sollten die Richtung, welche die Auflösung einnimmt, nicht Konzernen und Unternehmen überlassen.

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Die bedingungslosen Gegner*innen einer anderen Versorgungsökonomie mögen bitte diesen Satz noch einmal lesen: Angesichts des für die Ökonomie entbehrbaren Menschen, steht freilich die Installation einer anderen (postkapitalistischen) Ökonomie an erster Stelle.

Wenn sich selbst als emanzipatorisch verstehende Leute allein angesichts des Vokabulars eines Bedingungslosen Grundeinkommens zu den konservativsten und quasi-faschistischen Gegner*innen werden, so ist m.E. der eigentliche Schmerzpunkt die Infragestellung des Arbeitsethos’, den ja gerade nicht zuletzt (pseudo-)emanzipatorische Kräfte von Marx, über Sozialismus bis hin zur Sozialdemokratie ausgiebig gefestigt haben.

Alle anderen Gegenargumente verweisen nur auf eine Nicht-Kenntnis der Materie: Denn weder verdammen Grundeinkommensmodelle zum destruktiven Nichtstun, dem Tätigsein sidn keine Grenzen gesetzt (siehe oben) und solange es noch Arbeitsstellen für menschliche Arbeitnehmer*innen gibt, können diese freilich auch von jenen besetzt werden, die noch nicht die Denkbewegung vom Arbeits- zum Tatigseins- resp. Schaffensbegriff (Arendt & Nietzsche).

Noch sind die wenigsten Grundeinkommensmodelle in eine neoliberale Ökonomie eingebettet, vielmehr ist das Grundeinkommen meist lediglich Bestandteil von mindestens einer umfassenden Transformation des Steuersystems, wenn nicht einer umfassenden Transformation/Revolution des gesamten ökonomisch-politisch-gesellschaftlichen Systems. Wenn Kritiker*innen dagegen allein den neoliberalen Unternehmer Götz W. Werner im BGE-Diskurs zu nennen wissen, die Modelle des sozialliberalen Diskurses54, des sozial-egalitären Diskurses55 oder des emanzipatorischen Diskurses56 aber nicht einmal kennen, lässt das tief blicken.

Amüsant ist es freilich auch immer, wenn man Kritiker*innen Gegenfragen stellt: Wie stellt sie/er sich eine Versorgung der Bevölkerung vor? Ganz ohne staatlichen resp. gemeinschaftlichen Zuschuss dem Verhungern preisgegeben oder mit einem sanktionsreichen Hartz VI-Minimum unter die Armutsgrenze gedrückt (schon allein das Konzept der sog. ‘Arbeitslosigkeit’ ist ein zutiefst kapitalistisches, welches erst mit der Industrialisierung und ihrer Enteignung der Subsistenzmittel geschaffen wurde57!)? Oder blitzt da dann das mythische Argument einer nicht näher definierten Form von Revolution/Kommunismus auf, welchs auf letztlich autoritäre Manier ominös alle Menschheitsprobleme löst (sprich: das Thematisieren dieser Probleme verbietet)?

Statt aus industriekapitalistischen, arbeitsideologischen oder anderweitig autoritären Gründen das Grundeinkommen abzulehnen, das Utopische wider die conditio humana als anti-marxistisch zu verwerfen und die Schaffung von Fantasie-Job zu fordern ˗ Neoliberale, Sozialdemokratie, Linkspartei und Gewerkschaften sind hier einmalig fröhlich vereint ˗, Jobs also, die für die Bevölkerung bloße Maßnahme oder Zwangsarbeit sind und den Parteien und Gewerkschaften letztlich nur ihren (sichtbar fragwürdig gewordenen) Selbsterhalt sichern sollen, sollten wir wir lieber auf eine andere Gesellschaftspolitik und Zukunft setzen.

Bei Srnicek/Williams heißt es ganz richtig: „Angesichts solcher Widersprüche muss das politische Projekt einer Linken im 21. Jahrhundert lauten, eine Wirtschaft zu schaffen, in der die Menschen zum Leben nicht länger auf Lohnarbeit angewiesen sind.“58 Und an späterer Stelle wird expliziert:: „Unsere erste Forderung lautet, die Wirtschaft vollständig zu automatisieren. [...] Ohne Vollautomatisierung wäre jede postkapitalistische Zukunft gezwungen, sich zwischen Wohlstand aller auf Kosten der Freiheit (einer Option, in der die Arbeitsmoral der Sowjetunion nachhallt) und Freiheit auf Kosten des Wohlstandes (wie in primitiven Dystopien) zu entscheiden. [...] Der Trend zur Automatisierung und zur Ersetzung menschlicher Arbeit ist in unseren Augen daher etwas, das linke Politik aufgreifen, begeistert begrüßen und beschleunigen sollte. An ihr wäre es, an existierende Tendenzen des Kapitalismus anzusetzen, um sie zugleich über den engen Rahmen kapitalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse hinauszutreiben.“59

Die Digitalisierung hat eine Umwertung aller Werte schon in die Wege geleitet, so dass gilt: „Zentral ist nicht länger produktive Arbeit ˗ sei es im marxistischen oder im neoklassischen Sinn [...],“60

Die Versorgung hat durch das radikal feministische Grundeinkommen (abgekoppelt vom männlichen Versorger und anderen geschlechtsspezischen Existenzformen) zu erfolgen, welches auch die finanzielle Unabhängigkeit (insb. für Frauen) zum Erproben verschiedenere Formen des Zusammenlebens ermöglicht.61 Es gilt: „Ein BGE verwandelt, was Prekarisierung genannt wird, erkennt die vielfältigen Formen gesellschaftlicher Arbeit an, stärkt die Klassenmacht und erweitert den Raum, der dem Experimentieren mit Formen des häuslichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens zur Verfügung steht.“62

Weitere Forderungen sind die Investition in Forschung und Entwicklung, zudem das Schaffen von Anreizen, die Ersetzung menschlicher Arbeitskraft für Unternehmen und Wirtschaft attraktiver zu machen (z.B. durch Subventionen).63 Noch einmal: Niemand wird morgen jeder/m das Arbeiten verbieten. Die Automatisierung und damit das weitmöglichste Ende der Arbeit wird erst in etwa 2 Jahrzehnten realisiert sein. Auf der sofortigen politischen Agenda ist das z.B. vorzubereiten mit einer radikalen Verkürzung der Arbeitszeit ohne Einkommensverluste64 und dem Streichen von Bedürftigkeitsprüfungen und anderen Disziplinariken zum Erhalt von Sozialleistungen , so dass diese bedingungslos und in existenzsichernder Höhe jeder Bürgerin zukommen (und z.B. gegenüber Invaliden entsprechend aufgestockt werden).65 Und ein drittes Mal: Wer monatlich gerne mehr als z.B. 1755- Euro pro Nase auf dem Konto hätte oder süchtelnde Schwierigkeiten bei der Arbeitsentwöhnung hat, dem steht die zusätzliche Annahme von noch vorhandenen Jobs (am Besten gegen eine Pauschal-Honorierung jenseits des Arbeitszeit-Konzeptes) selbstverständlich frei, ohne dass es die Existenzsicherung beeinträchtigten würde.

Nicht finanzierbar? Den Expert*innen des BGE zufolge ist die Finanzierbarkeit das geringste Problem, wurden doch mittlerweile umfassende Kataloge erstellt, die verschiedenen finanzpolitischen Maßnahmen miteinander kombiniert, z.B. einer sozial gerechten Klärung des leidigen Grundsteuer-Themas,66 Maschinensteuer, oder (wie es bei Srnicek/Williams heißt) „Reduzierung doppelter Programme, höhere Besteuerung von Reichen, Maßnahmen gegen Steuerflucht, Erhöhung der Erbschafts-, Verbrauchs- und Energiesteuern, Kürzung der Militärausgaben“67, etc. pp.

Der Grundgedanke des linken BGE ist dabei aber weder eine bloße Reichtumsumverteilung, noch eine bloße Maßnahme zur Stimulation der Wirtschaft, denn seine Politik ist mehr als bloß reformistisch: „[...] die wahre Bedeutung eines bedingungslosen Grundeinkommens zeigt sich an der Art, wie es die Machtasymmetrie zerstört, die heute zwischen Kapital und Arbeit besteht. [...] Ein Grundeinkommen verändert diese Situation grundlegend, denn es gibt dem Proletariat unabhängig von einer Beschäftigung Subsistenzmittel an die Hand, Proletarier entscheiden dann selbst, ob sie ein Arbeitsverhältnis eingehen oder nicht. [...] Ein bedingungsloses Grundeinkommen befreit vom Zwang zur Lohnarbeit, dekommodifiziert in gewisser Weise die Arbeit und verändert so das politische Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit grundlegend.“ 68 Denn nunmehr ist das Individuum die maßgebliche Macht auf dem Arbeitsmarkt, es selbst entscheidet, ob der Arbeitsmarkt durch es eine biomenschliche Komponente bekommt oder nicht. Mit dem Individuumsbegriff wird deutlich, dass das ‘Ende der Arbeit’ radikal demokratisch und emanzipatorisch sein kann, was auch teilweise den Widerstand einer reaktionären und autoritären (z.B. marxistischen) Linken erklärt.

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Ähnlich wie bei Srnicek/Williams, wurde schon von Gorz in Arbeit zwischen Misere und Utopie (1997) argumentiert:

Durch das Ende des Industrie-Kapitalismus wurden und werden weiter Intelligenz und Phantasie zu der Hauptproduktivkraft, die Arbeitszeit hört auf, das Maß für Arbeit zu sein. Die Unmöglichkeit einer angemessen Vergütung einer immatriellen Produktivkraft verharrt momentan in der unsicheren Beschäftigung oder der prekären Bezahlung. Das allgemeine, garantierte und ausreichende Grundeinkommen würde diesen Missstand auflösen; bezahlte und unbezahlte Arbeiten werden in der Folge neu umverteilt.69

Arbeiten, die heute und in Zukunft noch von Bio-Menschen verrichtet werden sollen, werden kompetenter und motivierter ausgeführt, da ja Freiwilligkeit und Überzeugung der Individuen die Triebkraft zum Annehmen dieser Jobs sind.70

Das Grundeinkommen verlagert die Perspektive vom menschlichen Bio-Material und von der kollektivistischen Gleichmacherei hin auf die Individuen, deren Wissen in seiner allgemeinen gesellschaftlichen Anwendung die unmittelbare Produktivkraft wird. Dabei produziert das Individuum sich selbst (seine Anlagen und Interessen) gleichzeitig mit der Produktion der Umwelt, den menschlichen Beziehungen und den unzähligen kulturgesellschaftlichen Standorten.71

Die gegenwärtige Tendenz, dass immer mehr Reichtum durch immer weniger Menschen Kapital und Arbeit produziert und der Multitude, der überschüssigen Bevölkerung, Armut bevorsteht, wird direkt angegangen. Der von Gegnern angeführte Einwand zur unmöglichen Finanzierung eines Grundeinkommens, legt dabei auf kurioseste Weise den Finger in die Wunde:
Selbstverfreilich befindet sich das System in einer derartigen Schieflage, dass eine hinreichende Versorgung aller eben
nicht längerfristig möglich ist. Gerade deshalb bedarf es des Systemwechsels!72 Es gilt: „Denkt man die Implikationen des allgemeinen, ausreichenden sozialen Grundeinkommens konsequent zu Ende, bedeutet es eine Vergemeinschaftung der gesellschaftlich produzierten Reichtümer, eine Vergemeinschaftung, keine „Aufteilung“.“73

Insbesondere in den Metropolen dürfte sich aber die Garantie eines sozialen Grundeinkommens als Aktivitätsmulitplikator erweisen und wirkt gleichzeitig als politische Intervention zur Stadterneuerung. Es zeichnet sich folgendes Bild:

„Jeder und jede muss von Kindheit an durch die Fülle der sie umgebenden Gruppen, Verbände, Werkstätten, Klubs, Kooperativen, Vereinigungen und Organisationen, die sie für ihre Tätigkeiten und Projekte zu gewinnen suchen, mitgerissen und umworben werden. Es geht dabei um künstlerische, politische, wissenschaftliche, ökosophische, sportliche, handwerkliche und Beziehungsaktivitäten, Selbstversorgungs- und Reparaturarbeiten, Restaurierungsarbeiten des natürlichen und kulturellen Erbes, um die Gestaltung des Lebensraumes und Energieersparnisse, um ‚Kinderläden‘, ‚Gesundheitsläden‘, Netzwerke zum Austausch von Dienst- und Hilfeleistungen, gegenseitiger Unterstützung etc. Diese eigenständigen Aktivitäten, als selbstorganisierte und selbstverwaltete, als freiwillige und allen offenstehende, dürfen nicht als unselbständige Ergänzung der kapitalistischen Marktwirtschaft und auch nicht als pflichtgemäße Gegenleistung für das sie ermöglichende Grundeinkommen angesehen werden. Da sie weder des Kapitals bedürfen noch seiner Verwertung [...], sind sie dazu berufen, den durch die Abnahme des Arbeitsvolumens verfügbar gemachten gesellschaftlichen Raum der kapitalistischen Marktlogik zu entziehen und die Lohnarbeit größtenteils zu verdrängen, um jenseits davon assoziative und freie soziale Bindungen zu schaffen. Sie sind zur Hegemonie berufen und müssen, um diese zu erlangen, zu Räumen des Widerstands gegen die herrschenden Mächte werden, zu Räumen des praktischen Protests sowie des Experimentierens mit und der Erarbeitung von alternativer Gesellschaftlichkeit und gesellschaftlichen Alternativen zur sich auflösenden Gesellschaft.“74

Auch wenn sich die Beschreibung ähnlich anhört, gehört das Gorz’sche Konzept nicht zu jenen linken Folklore-Lebensmodellen, die sich damit abfinden, in Nischen der Gesellschaft ihre eigene kleine Welt aufzubauen, sondern die Entwicklung ist tatsächlich gesamtgesellschaftlich gemeint und bedarf zudem dem Erhalt öffentlicher Dienste und Verwaltungen, denen indes nicht mehr die Deutungshoheit über das individuelle Leben zukommt.75

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Gorz, ebenso wie Mason und Srnicek/Williams, gehören zu jenen, die den emanzipatorischen Grundeinkommen-Diskurs präg(t)en. Nils Adamo, der die Konzepte von rechts/neoliberal bis links/antiautoritär in einer Studie vorzüglich miteinander verglichen hat, rechnet diesem linken, emanzipatorischen Diskurs vor allem diese weiteren Schriften/Modelle zu:

  • Wolfgang Engler, ‘Bürger ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft’, Berlin 2006.

  • Jeremy Rifkin, ‘Das Ende der Arbeit’, Frankfurt am Main 2007 [von Rifkin sind mittlerweile einige weitere Werke zur Digitalisierung erschienen.]

  • Micheal Opielka, ‘Grundeinkommen als umfassende Sozialreform’, S. 129-175; in: Thomas Straubhaar (Hrsg.), ‘Bedingungsloses Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld ˗ mehr als sozialutopische Konzepte’, Hamburg 2008 [verfügbar unter: http://hup.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2008/69/pdf/HamburgUP_HWWI_01_Grundeinkommen.pdf].

  • Björn Wagner, ‘Das Grundeinkommen in der deutschen Debatte. Leitbilder, Motive und Interessen’, Diskussionspapier im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung,nstitut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2009 [verfügbar unter: http://library.fes.de/pdf-files/wiso/06194.pdf].

  • Ronald Blaschke / Werner Rätz, ‘Teil der Lösung: Plädoyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen’, Zürich 2013 [Adamo nennt verschiedene Titel Blaschkes, ich ersetze hier jene durch diese neuere Veröffentlichung].

Näher untersucht Adamo unter den emanzipatorischen Modellen jenes, welches eine Arbeitsgemeinschaft der Linkspartei vorgelegt hat [neueste Version und weitere Informationen unter: https://www.die-linke-grundeinkommen.de/nc/grundeinkommen/aktuell/].

Freilich wurde dieses Modell bisher nicht von der Partei verabschiedet und hatte bislang unter den Mitgliedern keine Mehrheit. Zu sehr sind Strukturen und Personal der „unschönen Tradition [der] Herablassung gegenüber Individualismus und individuellen Freiheitsrechten“ verpflichtet, wie Klaus Lederer bemerkte und fortfuhr: „[...] und manche glauben dabei, man könne den Freiheitsbegriff und die Individualität getrost „den anderen“ überlassen.“76 Und freilich sind die meisten Linksparteiler*innen auf das unfreie Arbeitsethos eingeschworen.77

Umso mehr seien die wenigen linksparteilichen Verfechter*innen honoriert, die mit dem BGE eine „Überwindung kapitalistischer Produktionsverhältnisse“ im Sinn haben, angefangen mit einem Aufbrechen von Hartz IV, die mittels dem BGE selbst die Aneignung der Produktions- und Lebensbedingungen antasten, die Tarifautonomie, Arbeitszeitverkürzungen, Mindestlöhne, Verbot von Leiharbeit, Vergesellschaftung von Zeitarbeit etc. beinhalten.78 Zur Finanzierung war zum Zeitpunkt von Adamos Studie (2012) ein linear steigender Einkommenststeuersatz, eine Grundeinkommensabgabe von 35% bei allen Bruttoeinkommen, Vermögens-, Luxus-, Börsenumsatz-, Sachkapital-, Tobin- und Primärenergiesteuer vorgeschlagen.79
Bedeutsam ist bei diesem Modell, wie bei anderen emanzipatorischen Modellen, dass sie weniger Reichtum umverteilen wollen, sondern den Ausbeutungs- und Ungleichheitscharakter des Marktes direkt angehen, die Arbeit als Wert dekonstruieren, die sinnfreie/unproduktive Arbeit/Arbeitsmentalität hinterfragen und
„ein BGE ,das Vehikel zur umfassenden Umgestaltung der Wirtschaft und Gesellschaft“ vorstellt.80

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Wichtiger ist es mir, als mich (als Nicht-Ökonom) in ökonomischen Details der emanzipatorischen Modelle zu verlieren, aber zu sagen:

Vorwürfe, eine Welt ohne Arbeit und eine Versorgung via Grundeinkommen seien nicht realisierbar, unrealistisch, blauäugig oder utopisch, kranken freilich einerseits am Mangel von Vision (lat. visio, Anblick; engl. view, Blick) der Unfähigkeit also den point of view zu wechseln, und andererseits an einem Verkennen, wie sehr Utopien ˗ von den Staatsutopien der Neuzeit bis zum heutigen Science Fiction ˗ eng mit der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit verzahnt sind und auf diese antworten. Selbstverständlich spielt umgekehrt das Visionäre, Utopische und Imaginäre beim Denken einer besseren Zukunft eine große Rolle. Srnicek/Williams formulieren so in ihrem Die Zukunft erfinden Folgendes:

„Fortschritt muss als ein hyperstitionaler Fortschritt verstanden werden: als eine Art Fiktion, die darauf abzielt, sich selbst zu realisieren. Hyperstitionen [in etwa: Übergläubigkeiten; R.W.] funktionieren, indem sie verstreute Handlungen beschleunigen und in eine historische Kraft verwandeln, die die Zukunft hervorbringt.“81

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V. Intermezzo: Geistergeschichten

Zum Schluss möchte ich dann doch auf Marx eingehen, auf dessen Begrifflichkeiten zuweilen zurückgegriffen wurde. Obwohl es sich verbietet im Marx’schen Sinne eine ‘gerechte’ Welt zu fordern, die in erster Linie auf den weißen, europäischen, männlichen, heterosexuellen, (post-)christlichen Stahlarbeiter zugeschnitten ist und nicht auf die Vielzahl der Individualitäten, obwohl seine normativen Setzungen von ‘Werten’ (Arbeit, Arbeitskraft ˗ vgl. hierzu Wider das Arbeitsethos 2) geschichtlich inzwischen genauso überholt ist, wie der von ihm damals (zu Recht) kritisierte Industriekapitalismus. Obwohl sich seine autoritäre Grundhaltung verbietet, sein Kultur-Chauvinismus (der Trikont war für ihn ‘unterentwickelt’ und die Vielzahl der Kulturen so für sein Modell weitestgehend irrelevant) , sein Sexismus, sein Antisemitismus oder seine Verachtung gegenüber der Multitude als ‘Lumpenproletariat’.

Zwei Kritikpunkte sind mir dabei besonders wichtig: die Marx’schen fatalen Ansichten hinsichtlich des Trikonts (hierzu mehr in Wider das Arbeitsethos 2) und seine sexistische und antifeministische Haltung (von den privaten Qualen, die er sowohl seiner Ehefrau als auch der von ihm missbrauchten und geschwängerten Dienstmagd angetan hat, ganz zu schweigen ˗ letztlich musste sich Jenny Marx entschuldigen, dass sie sein Fremdgehen nicht ignorierte... 82).

Noch heute versuchen reaktionär-patriarchale Marxisten gerne feministische Belange dem sog. ‘Klassenkampf’ unterzuordnen und somit Frauenrechte abzuwinken. ˗ Ein linker Queerfeminismus aber behandelt gänzlich andere Sphären als der Marxismus; nicht Arbeit, sondern Geschlecht; nicht Produktion, sondern Reproduktion.83 Es gilt mit Haraway: „Der Feminismus wird keine Mätresse des Sozialismus sein. Darüber hinaus sind viele Feministinnen der Meinung, dass auch eine Ehe nicht unbedingt ein ehrbarer Zustand ist, sondern ein Besitzverhältnis. [...] Selbstverständlich fahren wir fort, unsere Politik geschlechtsspezifisch zu betreiben und Arbeit in eher geschlechtsspezifischen Kategorien zu verstehen; und wir betrachten traditionelle Sozialisten wachsam.“ 84

An anderer Stelle stellt Haraway zudem klar, dass dem Marxismus ein dualistisches, polares Geschlechter-Verhältnis inne wohnt, er also eine Differenz inne hat, die die progressive queerfeministische Linke gar nicht mehr kennt.85 Die Queerfeminist konstatiert: „Der humanistische Marxismus ist von Grund auf korrumpiert durch seine die Selbstkonstruktion des Menschen strukturierende ontologische Theorie der Naturbeherrschung und durch das eng damit einhergehende Unvermögen, diejenige Tätigkeiten von Frauen zu historisieren, die nicht für Lohnarbeit in Frage kommen.“86 Auch Männer sollten freilich aufbegehren, zum einen sich eine Ontologie überstülpen zu lassen, die ihnen alles nimmt außer ihrer Funktion ‘ein Arbeiter zu sein’, zum anderen sich ontologisch in eine patriarchale Beherrschung von Natur & Frau einzuschreiben!

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Aber nun genug der heutigen Marx(ismus)-Schelte, denn: Der große Jacques Derrida (1930-2004), der selbst Marxismus, Kommunismus, Ostblock-Denke und Kommunistische Internationalen ablehnte, hat uns den Ansatz gegeben, wie auch eine progressive Linke trotz allem Marx heute noch gebrauchen kann, nämlich in einer Lesart, die sich direkt aus den Marx-Schriften ableiten: als Gespenst.

Derridas Marx-Schrift titelt so: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale (1993). Unzählige Male spukt es in den Marx’schen Schriften, allernorts sieht Marx Gespenster und es ist äußerst ambivalent, wo er den Spuk in Gesellschaft und Ökonomie beenden will und wo er ihm verfällt, so wie er dem industriekapitalistischen Arbeitsethos’ und dessen Arbeiterfigur verfällt.

Es spukt bei Marx mit Totengräbern und auf Totenbetten (des Kapitals), mit umgehenden Gespenstern des Kommunismus’87 (die dem Kapital Angst machen sollen, aber Marx und Marxisten selbst verstören88), mit Wiedergängern, Totenerweckungen. spiritistischem Tische-Rücken (es ist der Tisch, anhand dem Marx die Ware erörtert und hier selbst den Bezug zum Tische-Rücken herstellt89), mit unzähligen Shakespeare-Bezüge ˗ von Hamlets Begegnung mit dem Geist seines Vaters bis zum Timon von Athen, wo das Wesen des Geldes als magisch und geisterhaft verstanden wird90 ˗, mit Verschwörungen, Beschwörungen und Verfluchungen von Geistern, mit Spiritismus und Okkultismus,91 mit dem Fabelwesen des Alps, der sich dem Schlafenden auf die Brust setzt, mit dem verschwörungstheoretischen Verständnis von dem Kapitalismus (der realiter die verschiedensten Gesichter hat) als unsichtbarer Geist,92 mit der randvoll mit Gespenstern gefüllten Deutschen Ideologie („[...] es wimmelt nur so, ein ganzer Haufen von Wiedergängern erwartet uns dort: Leichentücher, herumirrende Seelen, Kettengerassel in der Nacht, Stöhnen, gellendes Gelächter, und dann all diese Köpfe, so viele Köpfe, die uns unsichtbar betrachten, die größte Ansammlung von Gespenstern in der ganzen Geschichte der Menschheit.“93), mit Marx selbst als Besessenem („Wie alle Besessenen attackierte er die Besessenheit.“94), mit dem Denunzieren von Stirners Spuk & Gespenstern, wobei sich Marx gehörig von seinen eigenen Gespenstern heimgesucht wird.95

Die besessene Auseinandersetzung mit (dem von mir sehr geschätztem) Stirner stellt einen zunächst unverständlichen Höhepunkt des Marx’schen Geisterjäger dar. Derrida erörtert: „Warum eine solche Versessenheit? Warum diese Gespensterjagd? [...] Die Kritik erscheint so nachdrücklich und redundant, gleichzeitig brillant und lastend, daß man den Eindruck hat, Marx könne nie mehr aufhören, seine Pfeile abzuschießen und tödlich zu verletzen. Er könne sein Opfer nie wieder verlassen. Er bindend sich auf verstörende Weise daran. Seine Beute hält ihn gefangen. [...] Mein Gefühl also ist es, daß Marx sich angst macht, daß er selbst auf jemanden versessen ist, der nicht weit davon entfernt ist, ihm zum Verwechseln ähnlich zu sehen: ein Bruder, ein Doppelgänger, mithin ein teuflisches Bild. Eine Art Gespenst seiner selbst. [...] Das ist es, was Marx und Stirner gemeinsam haben: nichts anderes als diese Gespensterjagd, nichts als dieses singuläre Nichts [die Besessenheit; RW] , das ein Gespenst bleibt.“96

Einen weiteren gespenstischen Kulminationspunkt stellt auch der des Manifests der Kommunistischen Partei dar, über das Derrida schreibt:

„[...] so scheint das Manifest von Anbeginn das erste Kommen des schweigsamen Gespensts heraufzubeschwören, die Erscheinung des Geistes, der keine Antwort gibt, auf jener Terrasse von Helsingör, die jetzt das alte Europa ist. [...] Was sich [im Manifest] an erster Stelle manifestiert, ist ein Gespenst, diese erste Vaterfigur, ebenso mächtig wie irreal, Halluzination und Simulakrum, und virtuell wirksamer als das, was man unbesorgt eine lebendige Anwesenheit nennt.“ 97

Und, für den vorliegenden Text sehr bedeutsam, so analysiert Derrida in psychoanalytischer Manier den geisterhaften Marx: Wenn er von der kapitalistischen Arbeit (die m.E. auch im Marx’schen Kommunismus weitestgehend industriekapitalistisch definiert bleibt) spricht, dann ist das eigentlich Trauerarbeit, jede Arbeit ist ein Trauern um vermeintlich Verlorenes (die ‘Vertreibung aus dem Paradies’ würde man im christlichen Diskurs sagen): „[...] daß die Trauerarbeit keine Arbeit unter anderen ist. Sie ist die Arbeit selbst, die Arbeit im allgemeinen, ein Zug, anhand dessen man vielleicht den Begriff der Produktion selbst neu überdenken sollte ˗ in dem, was ihn ans Trauma, an die Trauer, an die idealisierende Iterabilität der Exappropriation bindet und damit an die gespenstig-spekratale Spiritualisierung, die in jeder techne am Werk ist.“98

Derrida meint in einer Schlüsselstelle (was ich selbst nicht so absolut formulieren würde): „Ohne das wird es keine Zukunft geben. Nicht ohne Marx. Nicht ohne die Erinnerung an und das Erbe von Marx: jedenfalls nicht ohne einen bestimmten Marx, sein Genie, wenigstens einen seiner Geister.“99 Als das wichtigste Marx’sche Gespenst wird an anderer das Messianische genannt: „Wenn es nun einen Geist des Marxismus gibt, auf den zu verzichten ich niemals bereit wäre, dann ist das nicht nur die kritische Idee oder die fragende Haltung (eine konsequente Dekonstruktion muß darauf Wert legen [...]). Es ist eher eine [...] messianische Affirmation, eine bestimmte Erfahrung des Versprechens, die man von jeder Dogmatik und sogar von jeder metaphysisch-religiösen Bestimmung, von jedem Messianismus zu befreien versuchen kann.“100

Das Messianische, befreit von Dogma, Messianismus und m.E. auch vom Marx’schen, ist also das, was Marxens Gespenster uns heute noch zu geben haben. Und bei der Lektüre einiger Manuskriptseiten von Marx’, gut versteckt in den 42 Bänden der Marx’schen & Engel’schen Schriften, könnte man tatsächlich meinen, ein messianischer Geisterseher spräche aus dem 19. Jahrhundert zu uns.

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VI. Eine Prise Marx verträgt selbst die Zukunft

Insbesondere einzugehen ist also auf einige Manuskriptseiten von Marx, die sich heute in den sogenannten Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie finden und als Maschinenfragment bekannt geworden sind.

Marx beschreibt zum einen, wie ein fortgeschrittener Industrie-Kapitalismus selbst (in der Fabrik) eine Maschine darstellt, in der der Arbeiter als Bio-Material nur einen Bestandteil der Gesamt-Maschinerie einnimmt. So weit, so typisch Marx. Doch bei genauem Lesen fällt schon am Anfang auf, wie Marx über sich selbst hinausgeht, den nicht nur von einer materialistischen Arbeit, wie sie seinerzeit der Kapitalismus resp. Marx und bis heute der unzeitgemäße 19. Jahrhundert-Marxismus propagiert, sondern die Fabrik-Maschinerie wird beschrieben als „bestehend aus zahlreichen mechanischen und intellektuellen Organen“101. Die Fabrik funktioniert also nicht rein-materialistisch, sondern hat ihre intellektuellen Komponenten. Diese letzteren Komponenten ˗ Wissen, Daten, Information ˗ aber, so sieht Marx das späte 20. und frühe 21. Jahrhundert voraus, werden schließlich zur Hauptproduktivkraft, dem Capital fixe, welches an die Stelle der menschlichen Arbeit tritt. In Marxens Worten:

„Die Akkumulation des Wissens und des Geschicks, der allgemeinen Produktivkräfte des gesellschaftlichen Hirns, ist so der Arbeit gegenüber absorbiert in dem Kapital und erscheint daher als Eigenschaft des Kapitals, und bestimmter des Capital fixe, soweit es als eigentliches Produktionsmittel in den Produktionsprozeß eintritt. Die Maschinerie erscheint also als adäquateste Form des Capital fixe und das Capital fixe, soweit das Kapital in seiner Beziehung auf sich selbst betrachtet wird, als die adäquateste Form des Kapitals überhaupt. [...] Insofern ferner die Maschinerie sich entwickelt mit der Akkumulation der gesellschaftlichen Wissenschaft, Produktivkraft überhaupt, ist es nicht in dem Arbeiter, sondern im Kapital, daß sich die allgemein gesellschaftliche Arbeit darstellt. [...] Der Arbeiter erscheint als überflüssig, soweit nur seine Aktion nicht bedingt ist durch die Bedürfnisse [des Kapitals].“102

Das gesellschaftliche Wissen, und nicht mehr die gesellschaftliche Arbeitskraft, werden nun also zum Motor der Ökonomie und der Arbeiter in seiner Funktion als Arbeitender wird überflüssig, seine Daten und sein Wissen sind nunmehr viel entscheidender. Freilich: Das gesellschaftliche Wissen kommt dabei nicht der Gesellschaft zugute, sondern jener Elite, die ‘das Kapital’ abschöpft; heute sind dies z.B. Amazon, Facebook oder Google. So wie wir uns heute einen sinnvolleren Umgang mit unseren gesellschaftlichen Daten vorstellen können ˗ die Politik könnte mit ihnen die Grundlagen für eine Gesellschaft legen, die von der Bevölkerung befürwortet wird; das Gesundheitssystem z.B. könnte mit ihnen effizienter laufen und auf Problemfälle besser reagieren; es könnte die Kulturgesellschaft insgesamt sich tatsächlich nach dem Willen der Individuen formen ˗ so skizzierte das auch schon Marx:

„Die Maschinerie verliert ihren Gebrauchwert nicht, sobald sie aufhörte, Kapital zu sein. Daraus, daß die Maschinerie die entsprechendste Form des Gebrauchswert des Capital fixe, folgt keineswegs, daß die Subsumtion unter das gesellschaftliche Verhältnis des Kapitals das entsprechendste und beste gesellschaftliche Produktionsverhältnis für die Anwendung der Maschinerie.“ 103

Tatsächlich wird ein System, welches ursprünglich mit menschlicher Arbeit betrieben wurde und der Produktion (von Gebrauchs- und Konsumartikeln) gewidmet war, nun aber mit Daten betrieben wird und nicht mehr ausschließlich mit jenen Daten Produktartikel produziert, sondern in weit stärkerem Maße immatrielle Produkte (z.B. spezifische Datensätze, die einem Donald Trump verkauft werden) erstellt, sich als Ganzes ebenso transformieren müssen: „Das Kapital arbeitet so an seiner eigenen Auflösung als die Produktion beherrschende Form.“104

So ganz kann Marx auch im Maschinenfragment allerdings nicht von seiner eigenen Ideologie lassen und so sind es nicht die Menschen, die Freiheit, Selbstverantwortung und verantwortlichen Umgang mit ihren Daten wollen, die den Systemwechsel fordern und begünstigen, sondern es sind die Arbeiter, die gegen die Maschinen kämpfen, weil sie an ihrer statt ‘unentfremdet’ (ein Ding der Unmöglichkeit!) arbeiten wollen.105 Gleichzeitig (und paradox zur vorigen Forderung) beschreibt Marx aber auch den emanzipativen Gehalt dessen, dass die Arbeit weniger wird und sich die Post-Work-Gesellschaft durchsetzt:

„Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert (das Maß) des Gebrauchswerts. Die Surplusarbeit der Massen hat aufgehört, Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der Wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes. Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhende Produktion zusammen, und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift. Die freie Entwicklung der Individualitäten, und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit, um Surplusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordne Zeit und geschaffnen Mitteln entspricht.“106

Dass von selbst ein Systemzusammenbruch erfolgt, ist allerdings zu bezweifeln; zu wenig konnte Marx sich vorstellen, dass Roboter mit menschenähnlichen Fähigkeiten das System am Laufen halten können, dass die überschüssige Multitude sich mit schlechter Versorgung (z.B. Hartz IV) und/oder prekären Beschäftigungen abspeisen lässt, dass gerade vermeintlich ‘linke’ Parteien oder Gewerkschaften mit allen Mitteln daran arbeiten, dass das System erhalten bleibt, dass von jenen auf Teufel-komm-raus neue schlechtbezahlte Sektoren der Lohnabhängigkeit gesucht & gefunden werden etc. pp.

Mit einem anderen Punkt indes dürfte Marx wiederum richtig liegen, nämlich damit, dass unsere Daten (Produktivkräfte) und unser mögliches allgemeines & gesellschaftspolitisches Engagement die Mittel zum Systemwechsel sind: „Die Produktivkräfte und gesellschaftlichen Beziehungen ˗ beides verschiedne Seiten der Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums ˗ erscheinen dem Kapital nur als Mittel und sind für es nur ein Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren. In fact aber sind sie die materiellen Bedingungen, um sie in die Luft zu sprengen.“107

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Verschiedene postkapitalistische Denker haben sich in den letzten Jahrzehnten auf das Maschinenfragment gestützt. Gorz leitet aus der dort beschriebenen Aufhebung der Gleichung ‘Arbeitszeit = Hauptproduktivkraft = Einkommen’ Folgendes ab:

„Das Prinzip, nach dem „jeder seiner Arbeit entsprechend“ bezahlt wird, ist überholt. [...] Der Anspruch auf ein allgemeines, bedingungsloses und ausreichendes Grundeinkommen ist Teil dieser Perspektive. [...] Es hat einen heuristischen Wert, denn es ermöglicht den höchstmöglichen Sinn, auf den hin sich die aktuelle Entwicklung öffnet. Umgekehrt hebt es den Unsinn eines Systems hervor, das nie zuvor erreichte Arbeitszeitersparnisse ermöglicht, aber aus der so freigesetzten Zeit Not und Elend macht, weil es weder diese noch die produzierten oder produzierbaren Reichtümer zu verteilen und ebensowenig den eigentlichen Wert von „Mußezeit als Zeit für höhere Tätigkeiten“ (Marx) zu schätzen weiß. [...] Das bedingungslose soziale Grundeinkommen verweist letztendlich auf eine Gesellschaft, in der die Notwendigkeit der Arbeit sich als solche nicht mehr bemerkbar macht, weil jeder von Kindheit an von einer Fülle künstlerischer, sportlicher, wissenschaftlich-technischer, kunstgewerblicher, politischer, philosophischer, ökosophischer und kooperativer Aktivitäten beansprucht und mitgerissen wird. Eine Gesellschaft, in der die Produktionsmittel und die Mittel zur Selbstversorgung allen jederzeit zugänglich sind wie heute schon die Datenbanken und die Telearbeitsmittel [diese freie Zugänglichkeit ist in der heutigen fortgeschrittenen Digitalisierung freilich nur teilweise möglich: Wir können alle auf Wikipedia zugreifen, andere digitalen Materialien aber unterliegen einem zahlungspflichtigen Copyright oder sind sowieso nur zahlungskräftigen Unternehmen zugänglich; RW] . Eine Gesellschaft, in der sich der Tausch prinzipiell als Austausch von Wissen und nicht von Waren begibt [...]. Das fixe Kapital, einmal als separate und verselbständigte Macht beseitigt, besteht dann hauptsächlich in der Fähigkeit, von dem akkumulierten Wissen Gebrauch zu machen, es zu erweitern und auszutauschen, ohne daß seine Verwertung sich den Individuen als eine fremde Forderung aufzwingt oder ihnen die Natur, die Intensität, die Dauer und die Zeiten ihrer Arbeit diktierte.“108

Für Paul Masons umfassendes Buch Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie (2015; dt. 2016) stellt das Marx’sche Maschinenfragment eine zentrale Grundlage dar, die Mason mit der Lebensrealität des 21. Jahrhunderts aktualisiert. ˗ Aus den heutigen Wissens-, Informations- und Datengesellschaften nennt Mason zahlreiche Beispiele, die veranschaulichen, dass vom Flugzeug bis zum Kinofilm alles komplett am Computer entwickelt, designt und getestet wird. Erst wenn die fehlerfreie Funktionsweise garantiert ist, geschieht die materielle (oder wiederum immatrielle) Produktion als letzter Akt. Die Effizienz dieser weitestgehend immatriellen Herstellung übertrifft die des Industrialismus um Längen.109 Daraus zieht Mason aber ganz ähnliche Schlussfolgerungen wie Marx:

„Die Beziehung zwischen körperlicher Arbeit und Information hat sich verändert. / Den bedeutendsten technologischen Fortschritt des frühen 21. Jahrhunderts stellen nicht neue Objekte dar, sondern alte Objekte, die intelligent gemacht werden. Der Wissensgehalt der Produkte hat mittlerweile einen höheren Bestandteil als ihre physischen Bestandteile. [...] In den neunziger Jahren [...]; Der Charakter des Kapitalismus wandelt sich von Grund auf. / Es tauchten neue Modeworte auf: Wissensökonomie, Informationsgesellschaft, kognitiver Kapitalismus. Die Annahme lautete, dass der freie Markt und der Informationskapitalismus Hand in Hand arbeiteten [...]. Doch als sich die Ökonomen daran machten, die Funktionsweise dieser „dritten Erscheinungsform des Kapitalismus“ [nach Merkantilimus und Industrie-Kapitalismus; RW] zu erklären, stießen sie auf ein Problem: Dieser Kapitalismus funktioniert nicht. / Es tauchen immer mehr Belege dafür auf, dass sich die Informationstechnologie keineswegs als Grundlage für einen neuartigen, stabilen Kapitalismus eignet. Ganz im Gegenteil: Sie löst ihn auf. Sie zersetzt die Marktmechanismen, höhlt die Eigentumsrechte aus und zerstört die Beziehung zwischen Einkommen, Arbeit und Profit.“110

Die neuen Technologien könnten nach Mason die Garanten für ein einen Postkapitalismus sein, dessen Dynamiken bereits seit Jahrzehnten wirksam sind:

Die notwendige Arbeitszeit wird geringer, die Beziehung zwischen Arbeit und Einkommen kann gelockert und final aufgelöst werden.

Informationsgüter nehmen dem Markt die Fähigkeit, die Preise festzulegen. Die Marktgesetze predigen Knappheit, Information aber ist im Überfluss vorhanden.. Das System reagiert freilich derzeit mit der Errichtung von Monopolen.

Die Peer-Produktion nimmt zu, es entstehen immer mehr Güter, Dienstleistungen und Organisationen außerhalb des Marktdiktats. Beipielsweise Wikipedia wird von etwa 27000 Freiwilligen kostenfrei erzeugt und ist kostenfrei. Kapitalistische Enzyklopädie-Verlage werden zerstört und der Werbebranche entgehen jährlich mehrere Milliarden Dollar. Ebenso entstehen funktionierende Parallelwährungen oder Kooperativen außerhalb des Systems. (Hier setze die meisten Mason-Kritiker*innen an, die ihn einer Naivität beschuldigen: Sei es, weil sie nicht wahrhaben wollen, dass tatsächlich die Virtualität die Industrialität überwiegt (wenn diese freilich auch nicht , wie man bei Mason leicht glauben kann,‘abschafft’) oder weil bei ihnen die Skepsis überwiegt, dass die monopolisierten Daten einst vergesellschaftet werden können.)

Bei entsprechender Forderung und Förderung würden diese Entwicklungen „die Grundlage für ein Nicht-Marktsystem sein, das sich selbst reproduziert“.111

Dem autoritären Staat als Errichter einer gerechten Gesellschaft, beliebt bei altbackenen Sozialisten, kehrt Mason dabei den kalten Rücken („Ob der Sozialismus hätte funktionieren können, ist eine gute Frage. Aber es ist eine Frage, die sich erledigt hat.“112). Vielmehr gilt: „In den sechziger Jahren erkannte die Linke im „Maschinenfragment“ einen Gegenentwurf zum klassischen Marxismus. Bis dahin hatten die Marxisten geglaubt, der Kapitalismus könne nur durch staatliche Planung überwunden werden. [...] Im „Maschinenfragment“ stoßen wir auf ein anderes Modell des Übergangs: auf einen über das Wissen führenden Ausweg aus dem Kapitalismus [...].“113

Freilich erfasste diese Einsicht leider nicht ‘die Linke’, zu der sich bis heute ˗ für mich völlig unverständlich ˗ zahlreiche Marxisten & andere Autoritäre zählen, aber Bewegungen wie Operaismus, Poststrukturalismus oder Postoperaismus eröffneten zum Glück doch tatsächlich andere Perspektiven. ˗ Mason betont bei seinem Lesen des Maschinenfragments die Begrifflichkeit des general intellect, worunter Marx das kollektive Wissen der (Welt-)Bevölkerung verstand, welches Motor der Systemtransformation sein soll und welches dem heutigen Informationskapitalismus sehr nahe kommt. Weiter akzentuiert Mason die Freiheit von der Arbeit, die Marx auf seinen Manuskriptseiten nennt und was „möglicherweise die revolutionärste Idee, die Marx je hatte“ ist, nämlich, dass die nicht mehr arbeitende Menschheit mittels ihrer intellektuellen Fähigkeiten den Systemwechsel realisiert.114

Ich möchte dazu anmerken: Selbst wenn uns und unseren Intellekten diese Aufgabe nicht gelingt, so haben wir gar keine andere Möglichkeit, als es zu versuchen, eben jenes versuche übrigens ich persönlich, wenn ich (ungefragt & unbezahlt) diese Zeilen schreibe.

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Was aber mehr gilt als eine (sowieso nur noch lose) Anbindung an Marx, ist unsere Utopie. In den Worten von Gorz:

„Um das zu retten, was den ethischen Gehalt der sozialistischen Utopie ausmachte, ist heute eine neue Utopie notwendig: die Utopie einer Gesellschaft der befreiten Zeit. Die Emanzipation der Individuen, ihre freie Entfaltung und die Neuzusammensetzung der Gesellschaft haben die Befreiung von der Arbeit zur Voraussetzung.“115 Und: „Die Abschaffung der Arbeit und ihre Ersetzung durch eigenständige Tätigkeit müssen von nun an politischer Wille sein und durch heute schon zu verwirklichende Veränderungen greifbar gemacht werden.“116

Etwas ausführlicher sei hier auch das bereits genannte Utopie-Verständnis von Scrnicek/Williams zitiert: „Utopien verkörpern Hyperstitionen des Fortschritts. Sie verlangen, die Zukunft zu verwirklichen, sie bilden das unerreichbare, gleichwohl unabdingbare Objekt des Begehrens, und sie bergen eine Sprache der Hoffnung und der Sehnsucht nach einer besseren Welt. Die Geringschätzung utopischer Phantasie übersieht, dass es gerade das Moment der Imagination ist, das Utopien für jeden politischen Wandel unentbehrlich macht. Wollen wir der Gegenwart entkommen, müssen wir zuerst den engen Rahmen sprengen, in den die Zukunft eingeschlossen ist, und den Horizont der Möglichkeiten erweitern. Erst die Überzeugung, dass eine andere Zukunft offensteht, macht radikales politisches Denken überhaupt möglich. [...] Durch die Affirmation der Zukunft schließlich funktioniert Utopie als Modulator: Sie beeinflusst und verändert Affekte, Begehren und Gefühle, sowohl auf bewusster als auch auf unbewusster Ebene. In allen ihren Ausprägungen geht es letztlich immer um eine „Ausbildung des Begehrens“. Utopisches Denken trägt das Begehren und befreit zugleich die libidinösen Kräfte von den Fesseln des Vernunftgemäßen.“117

Wird in all diesen wortschönen Quotationen die bereits erwähnte Verzahnung von Utopie und Realität thematisiert, so bringt sie Rutger Bregman ˗ "Dutch wunderkind of new ideas." ( The Guardian) ˗ gleich im Titel seines vielbeachteten Buches unter: Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für de 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das Bedingunslose Grundeinkommen (2016; dt. 2017). Das Buch erscheint mir für alle, die noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen sind als recht aufrüttelnd. Nach Tobias Haberkorn schlussendlich, der eine Kurzvorstellung einiger Post-Work-Theoretiker*innen vorlegte,118 ist die Post-Work-Utopie sogar die letzte Utopie zu der der globale noch fähig ist. Wohlan, künden wir von dieser letzten Utopie!

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Literatur (Auswahl)


Nils Adamo, ‘Bedingungsloses Grundeinkommen. Sozialromantik oder Zukunft des Sozialstaates?’, Darmstadt 2012.

Hannah Arendt, ‘Vita activa oder Vom tätigen Leben’ (1958), München/Berlin/Zürich 2016.

Rutger Bregman, ‘Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen’, Reinbek bei Hamburg 2017.

Dietmar Dath, ‘Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift’, Frankfurt am Main 2008.

Jacques Derrida, ‘Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale’ (1993), Frankfurt am Main 2016.

André Gorz, ‘Wege ins Paradies. Thesen zur Krise, Automation und Zukunft der Arbeit’, Berlin 1983

André Gorz, ‘Arbeit zwischen Misere und Utopie’ (1997), Frankfurt am Main 2000.

André Gorz, ‘Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft’, Berlin 1989.

Michael Hardt/Antonio Negri, ‘Common Wealth. Das Ende des Eigentums’, Frankfurt am Main 2010.

Paul Lafargue, ‘Das Recht auf Faulheit’ (1883), Frankfurt am Main 2010.

Paul Mason, ‘Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie’, Berlin 2016.

Nick Srnicek/Alex Williams, ‘Die Zukunft erfinden. Postkapitalismus und die Welt ohne Arbeit’, Berlin 2016.

McKenzie Wark, ‘Molokulares Rot. Theorie für das Anthropozän’, Berlin 2017.

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Anmerkungen

1 Vgl. N.N., ‘Pläne für Digitalisierung: Ehrgeizig aus dem Funkloch’, 2. April 2018; unter: https://www.tagesschau.de/inland/digitalisierung-debatte-101.html.

2 Vgl. Christian Rothenberg, ‘Was will die Digitalministerin? Der bemerkenswerte Plan der Dorothee Bär’, 20. März 2018; unter: https://www.n-tv.de/politik/Der-bemerkenswerte-Plan-der-Dorothee-Baer-article20344876.html.

3 Vgl. Johannes Vogel, ‘Solidarisches Grundeinkommen: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in neuem Gewand’, 9. April 2018; unter: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-04/solidarisches-grundeinkommen-michael-mueller-arbeitsbeschaffungsmassnahmen-arbeitsmarkt.

4 Vgl. Arno Frank, »Ann Will« zu Hartz IV: Multiple Vermittlungsverhältnisse’, 9. April 2018; unter: http://www.spiegel.de/kultur/tv/anne-will-zu-hartz-iv-hubertus-heil-will-den-begriff-abschaffen-a-1201852.html.

5 Zit. nach: ‘Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD’, 7. Februar 2018; unter: https://www.ndr.de/nachrichten/koalitionsvertrag228.pdf.

6 Zit. nach: Carsten Fiedler, ‘Richard David Precht: „Ich will das Grundeinkommen, um das Schlimmste zu verhindern“’, 10. Juli 2017; unter: https://www.ksta.de/kultur/richard-david-precht--ich-will-das-grundeinkommen--um-das-schlimmste-zu-verhindern--27767074?dmcid=sm_fb.

7 Zit. nach: ebd.

8 Vgl. Nick Srnicek/Alex Williams, ‘Die Zukunft erfinden. Postkapitalismus und die Welt ohne Arbeit’, Berlin 2016, S. 148ff.

9 Vgl. Donna Haraway, ‘Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen’,Frankfurt am Main 1995, S.55.

10 Vgl. Srnicek/Williams, S. 152f.

11 Vgl. Matthias Bastian, ‘Künstliche Intelligenz: Stellenabbau soll in drei Wellen kommen’, 10. Februar 2018; unter: https://vrodo.de/kuenstliche-intelligenz-stellenabbau-soll-in-drei-wellen-kommen/.

12 Vgl. N.N., ‘Roboter übernehmen mehr Arbeit’, 2. Dezember 2018; unter: http://www.zeit.de/arbeit/2017-12/arbeitswelt-automatisierung-arbeit-mckinsey-global-institute-studie-maschinen?utm_content=zeitde.

13 Vgl. Andreas Wilkens, ‘Maschinen könnten ein Viertel der Arbeitsplätze übernehmen’, 15. Februar 2018; unter: https://www.heise.de/newsticker/meldung/Maschinen-koennten-ein-Viertel-der-Arbeitsplaetze-uebernehmen-3970618.html.

14 Scnicek /Williams, S. 182.

15 Zit. nach: ebd., S. 154.

16 Vgl. ebd., S. 157f.

17 Vgl. ebd., S. 161.

18 Zit. nach ebd., S. 166.

19 Zit. nach: ebd., S. 173.

20 Ebd., S. 183.

21 Zit. nach: André Gorz, ‘Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft’, Berlin 1989, S. 79.

22 Vgl. Dietmar Dath, ‘Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift’, Frankfurt am Main 2008, S. 17ff.

23 Zit. nach: ebd., S. 25.

24 Vgl. ebd., S. 45ff.

25 Ebd., S. 52f.

26 Zit. nach: ebd., S. 81.

27 Zit. nach: ebd., S. 131.

28 Vgl. Gorz, Kritik Vernunft, S. 97.

29 Zit. nach: ebd., S. 98.

30 Zit. nach: ebd., S. 103ff.

31 Vgl. Mason, S. 365.

32 Vgl. insb. Srnicek/Williams, S. 271ff.

33 Zit. nach: Paul Mason, ‘Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie’, Berlin 2016, S. 239ff.

34 Zit. nach: Gorz, Kritik Vernunft, S. 107.

35 Vgl. Dath, S. 40-44

36 Vgl. Evgeny Morozov, ‘Feudalismus 4.0’, 24. Januar 2018; unter: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/feudalismus-4.0.

37 Zit. nach: Haraway, Neuerfindung, S. 53.

38 Wilhelm Heitmeyer, ‘Die schleichende Gefahr: Wie Rechtspopulisten die Normalität verschieben’, 3. Februar 2017; unter: https://www.tagesspiegel.de/politik/die-schleichende-gefahr-wie-rechtspopulisten-die-normalitaet-verschieben/19317192.html.

39 Zit. nach: Srnicek/Williams, S. 205.

40 Vgl. Patrick Spät, ‘Martin Luther, der Vater des Arbeitsfetischs’, 25. November 2016; unter: http://www.zeit.de/karriere/2016-11/martin-luther-reformation-arbeit-kapitalismus/komplettansicht.

41 Srnicek/Williams, S. 205f.

42 Zit. nach: ebd., S. 207.

43 Zit. nach: André Gorz, ‘Arbeit zwischen Misere und Utopie’ (frz. 1997), Frankfurt am Main 2000, S. 102.

44 Ebd., S. 106ff.

45 Zit. nach: ebd., S. 111.

46 Ebd., S. 7.

47 Zit. nach: ebd., S. 8.

48 Vgl. ebd., S. 216ff. u. S. 224ff.

49 Zit. nach: Srnicek/Williams, S. 145.

50 Vgl. Ludger Fittkau, ‘Uni Marburg: Roboter Pepper gibt Vorlesung’, 20. Oktober 2017; unter: http://www.deutschlandfunk.de/uni-marburg-roboter-pepper-gibt-vorlesung.680.de.html?dram%3Aarticle_id=398747.

51 Vgl. Stefan Heinz, ‘OP-Roboter auf dem Vormarsch: Patienten vertrauen Roboter mehr als Chirurg’, 18. September 2017; unter: https://www.swr.de/marktcheck/op-roboter-auf-dem-vormarsch-patienten-vertrauen-roboter-mehr-als-chirurg/-/id=100834/did=20291446/nid=100834/ci4v4l/index.html.

52 Vgl. Srnicek /Williams, S. 139-174.

53 Zit. nach: ebd, S. 151.

54 Vgl. Nils Adamo, ‘Bedingungsloses Grundeinkommen. Sozialromantik oder Zukunft des Sozialstaates?’, Darmstadt 2012, S. 72-80.

55 Vgl. ebd. S. 81-88.

56 Vgl. ebd., S. 89-106.

57 Vgl. Srnicek /Williams, S. 143.

58 Zit. nach: ebd., S. 173

59 Zit. nach: ebd., S. 178.

60 Zit. nach: ebd., S. 201

61 Ebd., S. 201f.

62 Zit. nach: ebd., S. 202.

63 Ebd., S. 185.

64 Ebd., S. 187.

65 Ebd., S. 196.

66 Vgl. Herman-Josef Tenhagen, ‘Welche Grundsteuer sie sich wünschen sollten’, 14. April 2018; unter: http://www.spiegel.de/wirtschaft/service/grundsteuer-urteil-die-folgen-fuer-mieter-und-hausbesitzer-a-1202797.html.

67 Zit. nach: Srnicek /Williams., S. 203.

68 Zit. nach: ebd., S. 198.

69 Ebd., S. 120.

70 Vgl. ebd., S. 120-127.

71 Ebd., S. 127f.

72 Ebd., S. 129f.

73 Zit. nach: ebd., S. 131.

74 Zit. nach: ebd., S. 144f.

75 Vgl. ebd., S. 159.

76 Klaus Lederer, ‘Links und libertär?’; in: ‘Blätter für deutsche und internationale Politik’, 7/2009, S. 98; hier zit. nach: Adamo, S. 104f.

77 Vgl. Adamo, S. 105.

78 Vgl. ebd., S. 98f.

79 Vgl. ebd., S. 101f.

80 Ebd., S. 89f. u. S. 92f.

81 Zit. nach: Srnicek/Williams, S. 124.

82 Vgl. Neff, S. 281ff.

83 Donna Haraway, ‘Klasse, Rasse, Geschlecht als Objekte der Wissenschaft. Eine marxistisch-feministische Darstellung der sozialen Konstruktion des Begriffs der produktiven Natur und einige politische Konsequenzen’, S, 258-274; in: (diess.), ‘Monströse Versprechen. ie Gender- und Technologie-Essays’, Hamburg 2017, S. 258f.

84 Zit. nach: ebd., S. 259 u. 269.

85 Haraway, Neuerfindung, S. 35.

86 Zit. nach: ebd., S. 77.

87 Vgl. Jacques Derrida, ‘Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale’ (1993), Frankfurt am Main 2016, S. 59.

88 Vgl. ebd., S. 147).

89 Vgl. ebd., S. 204f., S. 209, S. 216 u. S. 227f.

90 Vgl. ebd., S. 64

91 Vgl. ebd., S. 188.

92 Ebd., S. 88.

93 Zit. nach: ebd., S. 150.

94 Zit. nach: ebd., S. 149.

95 Vgl. ebd., S. 71, S. 167ff. u. S. 177ff.

96 Zit. nach: ebd., S. 190 u. 192..

97 Zit. nach: ebd., S. 25 u. 27,

98 Zit. nach: ebd., S. 137.

99 Zit. nach: ebd., S. 29.

100 Zit. nach: ebd., S. 126.

101 MEW 42, S. 592

102 Zit. nach: ebd., S. 594f,

103 Zit. nach: ebd., S. 596.

104 Zit. nach: ebd., S. 596

105 Ebd., S. 600.

106 Zit. nach: ebd., S. 601.

107 Zit. nach: ebd., S. 602.

108 Zit. nach: Gorz, Misere, S. 132f.

109 Mason, S. 156ff.

110 Zit. nach: ebd., S, 158.

111 Ebd., S. 14ff.

112 Zit. nach: ebd., S. 17.

113 Zit. nach: ebd., S. 188.

114 Ebd., S. 188f.

115 Zit. nach: Gorz, Kritik Vernunft, S: 148f.

116 Zit. nach: Gorz, Misere, S. 134.

117 Zit. nach: Srnicek/Williams, S. 227 u. S. 230.

118 Vgl. Tobias Haberkorn, ‘Zukunft der Arbeit: In den Maschinenfeierabend’, 13. Februar 2018; unter: http://www.zeit.de/kultur/2018-02/arbeit-zukunft-automatisierung-digitalisierung-utopie/komplettansicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Dr. Roland Wagner

... promovierte mit einer interdisziplinären Schrift, lebt in Frankfurt/Main, arbeitet seit 2018 in einer Beratungsstelle für Geflüchtete.

Dr. Roland Wagner

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