Leben im Ungewissen

Hausprojekt Das Wohnprojekt „Liebig 14“ steht kurz vor der Räumung. Auch ein runder Tisch konnte kein Ergebnis bringen

Tatjana guckt mit sorgenvoller Miene aus ihrem Fenster. „Wir haben Angst“, erklärt sie und zieht nervös an ihrer Zigarette. „Jeden Tag könnte der Räumungsbeschluss in unserem Briefkasten liegen“. Seit drei Jahren wohnt sie in dem bunten Mietshaus in der Liebigstraße 14, eines der wenigen alternativen Häuserprojekte, das dem Druck der Berliner Sanierungswelle standhält. Wie lange ist ungewiss. Ein runder Tisch vom 28. Januar, an dem Hausbewohner, Politikern und kirchliche Organisationen teilgenommen hatten, blieb ohne Ergebnisse. Der Eigentümer, der über das Schicksal der „Liebig14“ entscheiden könnte, war nicht erschienen.

Eigentlich müsste die Stimmung in dem Haus positiv sein. Die Besetzung fand 1990 statt, 2010 wäre also ein runder Geburtstag der „Liebig 14“. Doch nachdem 1992 das Projekt legalisiert wurde und Mietverträge abgeschlossen wurden, verkaufte die Wohnungsbaugenossenschaft Friedrichshain im Jahr 2000 das Anwesen an Suitbert Beulker. Das neue Konzept des Ingenieurs von einem sanierten Eigenheim für die Mittelschicht stand im Widerspruch zum multikulturellen Zusammenleben. „Wir sind basisdemokratisch organisiert“, beschreibt Tatjana dieses. Die vier Küchen und neun Wohnungen stehen jedem offen. Einmal die Woche treffen die 25 Mieter in einem Plenum gemeinsam Entscheidungen. Zusammen wollten die Liebigbewohner auch zu einer Lösung des Mietkonflikts kommen. Eine Stiftung fand sich, die das Gebäude kaufen und weitervermieten wollte. Stattdessen kündigte Beukler die Einzelmietverträge, mit der Begründung dass ihm eine Zwischentür im Treppenhaus den Zutritt zu seinem Eigentum verwehrt. Am 13. November verloren Tatjana und ihre Mitbewohner den neunten Berufungsprozess. Die Kündigung wurde rechtskräftig und das Amtsgericht Lichtenberg stellte Beukler den Räumungstitel aus.

In Berlin ist das kein Einzelfall. Nach dem Mauerfall wurden mehr als 120 Gebäude besetzt, zwei Drittel im Anschluss legalisiert und an neue Eigentümer verkauft. Die verfolgten oft ihre eigenen Interessen und es kam zu richterlichen Auseinandersetzungen. So wurde am 24. November 2009 die Brunnenstraße 183 nach jahrelanger Ungewissheit durch ein Großaufgebot von 600 Polizeibeamten evakuiert. Dieses Schicksal steht auch der Friedrichshainer „Rigaer 94“ bevor. Das ebenfalls zu Beukler gehörende Hausprojekt, muss jeden Tag mit einem Brief vom Gerichtsvollzieher rechnen. Im laufenden Jahr soll das Berliner Kunsthaus Tacheles versteigert werden. Um das Gebäude für Investoren attraktiv zu machen, will der Eigentümer HSH Nordbank die Kaufhausruine räumen lassen. Einem Bürohaus der Baufirma Hochtief soll die schwul-lesbische Wagenburg „Schwarzer Kanal“ am Spreeufer weichen.

„Ein weiterer bunter Fleck ginge verloren“, beschreibt Knut Beyer das mögliche Szenario nach der Räumung. Die „Liebig 14“ sei eine Oase, eine Anlaufstation für kulturell und politisch interessierte Menschen, erklärt der Mitarbeiter der kommunalen Forschungsagentur ASUM auf Anfrage des Freitag. Von kultureller Vielfalt sprechen auch einige Politiker. Mit einem offenen Brief an den Eigentümer unterstützten Bezirksbürgermeister Dr. Franz Schulz und die Bundestagsabgeordneten Halina Wawzyniak (Die Linke) und Hans-Christian Ströbele (Bündnis90/Die Grünen) das Hausprojekt. Dieses mache den Bezirk Friedrichshain attraktiv, und eine Vertreibung würde einen zivilgesellschaftlichen Verlust bedeuten, so die Politiker.

Linkes Terrornest

Für Tatjana kommt diese Hilfe zu spät. „Wir sehen die Politiker in der Verantwortung“, erklärt sie. Als alternative Wohnprojekte in den 90er Jahren an Privatfirmen verkauft wurden, habe die Politik die Probleme verursacht, mit denen die Mietgemeinschaft der „Liebig14“ heute zu kämpfen haben. Einerseits würden Politiker für Berlin als „alternative Kulturstadt“ werben und andererseits die letzten Refugien origineller Wohnkultur nicht schützen, so Tatjana. Die Presse sieht dagegen in dieser Lebensform einen Störfaktor. Das Springerblatt Bild-Zeitung bezeichnete die „Liebig14“ als „linkes Terrornest“. Der Berliner Kurier forderte indirekt mit der Überschrift „Wann werden sie geräumt?“ zur Beseitigung der „Hausbesetzerbastion“ auf. „Eine bewusste Fehlinformation“ meint Tatjana dazu. Jeden Monat würden sie brav ihre Miete zahlen und in der Öffentlichkeit als Besetzer dargestellt.

Daher wollen Tatjana und ihre Nachbarn mit einem „Antiräumungsfestival“ die „Liebig14“ positiv in die Öffentlichkeit tragen. Bis zum 6. Februar werden Konzerte, Theaterstücke, Kinofilme, Kindertage und Workshops angeboten. Damit soll aber auch Druck auf den Senat ausgeübt werden. Nach dem ergebnislosen runden Tisch, kann nur noch der Innensenator die Räumung verhindern. Ob sich allerdings Ehrhart Körting davon beeinflussen lassen wird, bleibt ungewiss.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden