Familienpolitik ist in den letzten Jahren zu einem Top-Thema auf der offiziellen politischen Agenda geworden. Medien, das Verfassungsgericht und daher notgedrungen auch die Politiker selbst haben sich der "Familie" angenommen und stellen sie selbstverständlich "ins Zentrum" ihres gesellschaftspolitischen Trachtens und Strebens. Tatsächlich bleibt aber unklar, ob dies nun ein Vorteil oder ein Nachteil für die Durchsetzung vernünftiger Anliegen und notwendiger Reformen ist, da das Ringen um die "Gunst der Mitte" Politiker allzu leicht dazu bringt, sich die Programmatik von der parteipolitischen Konkurrenz vorgeben zu lassen.
So kam Gerhard Schröder nicht umhin, die Ankündigung seines Herausforderers Stoiber, ein gebündeltes "Familiengeld" von circa 600 Euro einführen zu wollen, prompt damit zu kontern, die rot-grüne Bundesregierung werde das Kindergeld weiter zügig ausbauen. Da Finanzmittel bekanntlich nicht üppig zur Verfügung stehen, verträgt sich diese Absicht kaum mit der erklärten Programmatik von Bundesfamilienministerin Christine Bergmann, die nach mehrfacher Kindergelderhöhung nun endlich die öffentliche Kinderbetreuung und dank Pisa auch die Ganztagsschule massiv ausbauen möchte, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen wirksam zu fördern. So gesehen sind Ankündigungen vor der Wahl kaum aussagekräftig, erst danach setzt die siegreiche Koalition ernsthaft Prioritäten. Wenden wir uns deshalb einigen wesentlichen familienpolitischen Projekten zu, die in den zurückliegenden vier Jahren von der rot-grünen Bundesregierung realisiert oder gerade nicht umgesetzt wurden.
Geld für Familien: Entlastungen, mehr Flexibilität und eine kleine Korrektur
Von der zuständigen Bundesministerin Christine Bergmann besonders herausgehoben werden die finanzpolitischen Verbesserungen für Familien, gemeint ist vor allem die Erhöhung des Kindergeldes und des steuerlichen Kinderfreibetrags. Laut Bergmann hat sich unter Rot-Grün so viel verbessert wie in den 16 Jahren davor nicht annähernd. Gemessen am Stand von 1998 erhalte eine Normalverdienerfamilie alles in allem bis zum Jahre 2005 rund 2.440 Euro mehr an Entlastungen, in diesem Jahr seien es schon 1.900 Euro. Tatsächlich stieg das Kindergeld, das in der letzten Kohl-Amtszeit bereits sprunghaft angehoben worden war, noch einmal von 220 Mark schrittweise auf 300 Mark beziehungsweise 154 Euro für das erste und zweite Kind. Allerdings setzte man lediglich bei der vorletzten Erhöhung ein winziges Zeichen in Richtung Armutsbekämpfung, indem die 20 Mark der Erhöhung nicht auf die Sozialhilfe angerechnet wurden. In ganz anderem Umfang bediente Rot-Grün hingegen die besserverdienende Klientel, die über die steuerlichen Kinderfreibeträge von jeher stärker entlastet wird als die Gruppe, die nur Kindergeld bezieht. Die Kinderfreibeträge stiegen beträchtlich und wurden mit Hilfe neuartiger Komponenten strukturell erweitert.
Die Reform des steuerlichen Familienlastenausgleichs, die von Rot-Grün als Großleistung gefeiert wird, ist jedoch - im Guten wie im Bösen - nicht allein auf den legislativen Gestaltungswillen der Regierung zurückzuführen: Sie wurde ihr vom Bundesverfassungsgericht aufgezwungen. Dessen Zweiter Senat hatte im November 1998 in vier Entscheidungen die Kinderfreibeträge früherer konservativ-liberaler Amtsperioden als zu niedrig moniert und eine allgemeine Honorierung von Erziehungs- und Betreuungsleistungen angemahnt. Diese sollte nach den Vorgaben des Gerichts unabhängig von dem sonst systemtypischen Besteuerungskriterium der tatsächlichen Aufwendung von Kosten zu Erwerbszwecken gewährt werden. Es dürfe nicht mehr darauf ankommen, ob solche Kosten, etwa für die externe Betreuung von Kindern, tatsächlich anfallen oder nicht. Außerdem hatte das Verfassungsgericht den "Haushaltsfreibetrag" für Alleinerziehende, der bis dahin die besondere Belastungssituation der Einverdiener-Familien kompensieren sollte, wegen einer angeblichen Benachteiligung von Eheleuten für verfassungswidrig erklärt. Als Konsequenz daraus belastete die Bundesregierung Alleinerziehende schrittweise erheblich stärker. Dagegen legten alleinerziehende Musterklägerinnen zu Beginn des Jahres 2002 ihrerseits Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe ein. Besonderes mediales Aufsehen erregte in dieser Funktion eine Schwester von Gerhard Schröder. Immerhin führte die öffentliche Kritik bereits zu einer kleinen Detailkorrektur.
So drängt sich insgesamt - auch unter Berücksichtigung der ökonomischen Bedrängnis sehr vieler Familien - der Eindruck auf, dass hier relativ undifferenziert umfangreiche Finanzmittel einer Allgemeinheit von steuerpflichtigen Eltern zugewandt wurden, die besser bedarfsgerecht zugunsten besonders belasteter Familien sowie zur gezielten Förderung der Erwerbsarbeit von Müttern verwendet worden wären. Für diesen Verlauf trägt die Bundesregierung nicht die alleinige Verantwortung, aber es ist ihr anzulasten, dass sie allzu folgsam die problematischen Gerichtsentscheidungen umgesetzt hat. Dabei hätte man ihnen mit mehr Fantasie und Kritik an der innewohnenden politischen Kompetenzüberschreitung des Gerichts vermutlich auch anders begegnen können. Aber offensichtlich darf sich eine Regierung - jedenfalls eine rot-grüne - keinen Ungehorsam gegenüber dem bisweilen konservativen Hineinregieren aus Karlsruhe leisten.
Als weiterer wesentlicher Aktivposten der Regierungsbilanz gilt die Reform des Bundeserziehungsgeldgesetzes. Sie war in der Tat fällig, schon weil die Einkommensgrenzen für den Bezug von Erziehungsgeld seit 1986 nicht erhöht worden waren. Auch sonst begegnete das alte Gesetz dem Vorwurf, Frauen aus der Erwerbsarbeit an den Herd zu locken und unflexibel zu sein. Die rot-grüne Reform half den dringendsten Detailforderungen ab, benannte den vormaligen "Erziehungsurlaub" in "Elternzeit" um, machte die Leistung flexibler (Budgetierung, zeitliche Verschiebbarkeit eines Teils der Elternzeit), ohne allerdings die Regelleistung (600 Mark/307 Euro) zu erhöhen, und führte einen Anspruch auf Teilzeitarbeit für beide Elternteile (von bis zu 30 Stunden) während der Elternzeit ein. Letzteres wäre sicherlich unter einer schwarz-gelben Koalition nicht erfolgt, ebenso wenig wie die Verankerung eines allgemeinen Anspruchs auf Reduzierung der Arbeitszeit im arbeitsrechtlichen Teilzeit- und Befristungsgesetz. Es blieb jedoch auch unter Rot-Grün dabei, dass die Ausgestaltung des Erziehungsgeldes Väter nicht zur Inanspruchnahme der Elternzeit animiert. Dazu wäre der Einsatz erheblich umfangreicherer Finanzmittel erforderlich.
Neue alte Lebensformen für Lesben und Schwule und Schutz vor häuslicher Gewalt
Auch jenseits des Finanziellen gab es unter Rot-Grün reformerische Vorstöße, an erster Stelle steht hier die Einführung eines neuen familienrechtlichen Rechtsinstituts, der "Eingetragenen Lebenspartnerschaft" für Lesben und Schwule. Dieses Projekt wurde maßgeblich von den Grünen initiiert und ausgestaltet. Obwohl die Bundesrepublik mit dem neuen Rechtsinstitut lediglich Anschluss an den Trend in anderen westeuropäischen Staaten sucht, sah es hierzulande anfangs so aus, als stünde ein neuer ideologischer Grundsatzkonflikt - vergleichbar mit dem um die Abtreibung - ins Haus. Nach dem Geschmack des links-alternativ-feministischen Lagers war das Gesetzespaket zu sehr der Ehe nachgebildet und wurde damit als zu affirmativ gegenüber ihrem überholten Lebensformdiktat kritisiert. Dagegen sah das konservative Lager das christliche Abendland untergehen und erhob Normenkontrollklage in Karlsruhe. Der nunmehr befasste Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts wies die Klage im Juli dieses Jahres jedoch als unbegründet ab. Damit wurde das vorsichtige und eheaffirmative Vorgehen von Rot-Grün als sinnvoll bestätigt. Gewagtere Veränderungen hätte vielleicht selbst der als mehrheitlich liberal bekannte"Grundrechtssenat" des Verfassungsgerichts nicht gänzlich ungeschoren durchgehen lassen. Dafür erklärte er sogar noch weitere Verbesserungen, auch für verschiedengeschlechtliche Paare und zusammenlebende Personen, potenziell für zulässig. Auf diese Weise trug das Projekt dazu bei, die Grenzen des überkommenen "Eheprivilegs" verfassungsrechtlich etwas tiefer zu hängen. Das sollte auch diejenigen vorerst zufrieden stellen, die sich mehr Strukturveränderung in Richtung auf einen Lebensformenpluralismus gewünscht haben. Denn die neue Rechtslage bietet Anknüpfungspunkte für weitere vorsichtige Umgestaltungen von Regeln, die sich mehr an der Funktionalität für das Alltagsleben der Menschen und weniger ausschließlich an der Frage von Ehe oder Nicht-Ehe orientieren.
Eine weitere Reformmaßnahme, die es unter einer schwarz-gelben Regierung wahrscheinlich nicht gegeben hätte, stellt das "Gewaltschutzgesetz" dar. Mit ihm wurde der zivilrechtliche Schutz, insbesondere für Frauen und Kinder, vor privater Gewalt und entsprechenden Nachstellungen erheblich verbessert. Vor allem ist es nun für die Opfer häuslicher Gewalt leichter geworden, die gerichtliche Zuweisung der gemeinsam genutzten Wohnung zu erwirken. Auf diese Weise könnte es gelingen, den bisherigen praktischen Automatismus, dass die geschlagene Frau ins Frauenhaus fliehen muss und der gewalttätige Mann mit der Überlassung der Wohnung belohnt wird, außer Kraft zu setzen.
Hausaufgaben nicht gemacht: Ehegattensplitting und Gleichstellung
Soweit die umgesetzten Vorhaben, was aber blieb auf der Strecke? Hier ist in erster Linie der Abbau des steuerlichen Ehegattensplittings zu nennen. Anfangs existierten noch vage Pläne dieser Art, dann aber verschwand die Absicht alsbald in der Versenkung der Schröderschen Realpolitik, denn allzu leicht könnte Derartiges Wähler der Mitte, insbesondere männliche Allein- oder Haupternährer, vergrätzen. Längerfristig führt wohl kein Weg daran vorbei, die Subventionierung des männlichen Ernährermodells gegen eine Förderung des Zweiverdiener-Modells auszutauschen, aber in concreto ist der politische Weg dorthin schwierig und von populistischen Fallen durchsetzt. Hier zeigt sich die Weichen stellende Funktion der bevorstehenden Wahlentscheidung: Kommt eine Neuauflage der rot-grünen Koalition zustande, darf mit vorsichtigen Schritten in Richtung auf eine egalitär individualisierte Besteuerung gerechnet werden, die in Europa weitgehend auf dem Vormarsch ist. Unter einem Bundeskanzler Stoiber erscheint dies wohl ausgeschlossen.
Ergänzt man die familienpolitische Bilanz um die geschlechterpolitische Perspektive, so kommt noch mehr Ernüchterung auf: Die gleichstellungspolitischen Leistungen der rot-grünen Bundesregierung beschränken sich auf die überfällige Verstärkung allzu schwacher Gleichstellungsgebote (etwa für die Bundesverwaltung) und die allfällige Übernahme europäischer Strategien (Gender Mainstreaming). Die einzige echte Herausforderung, nämlich ein wirksames Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft zu schaffen, wurde wiederum von Kanzler Schröder persönlich zurückgewiesen, obwohl ein intelligenter Entwurf auf dem Tisch lag. Somit gilt das Projekt bestenfalls als auf Schröders nächste oder übernächste Amtszeit verschoben. Damit bestünden immerhin noch Chancen für ein Gleichstellungsgesetz in den nächsten Jahren. Unter einem Kanzler Edmund Stoiber und der FDP als Koalitionspartner würde die Gleichstellung wohl auf Dauer der Freiwilligkeit der Unternehmen überlassen bleiben. Nicht ohne Grund hat der bayerische Kanzlerkandidat ein noch größeres Imageproblem bei der Mehrheit heutiger Wählerinnen als der amtierende Kanzler. Da hilft auch keine Katharina Reiche im "Kompetenzteam", die sich gegenüber der "gestandenen", wenn auch oft ausgebremsten Christine Bergmann wie der personifizierte Rückfall in die Zeiten Kohlscher "Mädel"-Politik ausnimmt.
Sabine Berghahn ist Rechtsanwältin und Privatdozentin für Politikwissenschaft in Berlin.
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