Das Mädchen auf dem Foto lächelt nicht. Der Kopf ist vorgebeugt, der Blick leer. Leicht offen steht der Mund. Die blonden, halblangen Haare hängen strähnig auf die Schultern. Kein Erinnerungsfoto, sondern eine Art Beweisaufnahme: Abgelichtet wurde eine »Ballastexistenz«, deren »Pflege der menschlichen Gemeinschaft nicht zugemutet« werden kann. Die über 55 Jahre alte Fotografie stammt aus dem Archiv des Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Stadtroda in Ostthüringen, in dem einige wenige noch vorhandene Krankenakten über das »Euthanasie«-Programm im Nazistaat Auskunft geben.
Euthanasie, was im Griechischen »schöner Tod« im Sinne angst- und schmerzlosen Sterbens bedeutet, wurde auf persönlichen Befehl Hitlers 1939 pervertiert in »Tötung unwerten Lebens«. Geistig Behinderte - sogenannte »Verwahrfälle« oder »Ballastexistenzen« - wurden zu Tode gespritzt oder gehungert, vergast, durch Über- oder Unterdosierung von Medikamenten umgebracht. Etwa 250.000 Menschen mit geistigen Behinderungen - wozu für die nationalsozialistischen Rassenfanatiker auch psychisch Kranke und »Asoziale« gehörten - wurden bis 1945 durch die verschiedenen Stufen des »Euthanasie«-Programms getötet, unter anderem auch in den Thüringer Kliniken Stadtroda, Mühlhausen und Hildburghausen. Das kleine Mädchen auf besagtem Foto hieß Hildegard, war sieben Jahre alt und ein typisches »Reichsfachausschuss-Kind«, das 1943 in Stadtroda eingeliefert wurde. Seit August 1939 mussten alle Neugeborenen und Kleinkinder mit geistigen und psychischen Behinderungen oder schweren Missbildungen gemeldet werden. So kam auch der Meldebogen von Hildegard zur Begutachtung vor den »Reichsfachausschuss« in Berlin. Wurde auf dem Gutachten eine »Behandlung in einer Kinderfachabteilung« angeordnet, entsprach das der Freigabe zum Töten. 30 Kinderfachabteilungen richteten NS-Mediziner zwischen 1940 und 1943 in Deutschland ein, eine davon seit September 1942 in Stadtroda. Dorthin schickte das Geraer Gesundheitsamt auf Weisung des »Reichsfachausschusses« auch Hildegard, die hier fotografiert wurde und neun Tage nach Absenden des Gutachtens an den »Reichsfachausschuss« tot war.
Die Verstrickung von Medizinern in das »Euthanasie«-Programm wurde nach Ende des Nazi-Reiches weder im Osten noch im Westen Deutschlands aufgedeckt, weil die Fachleute zunächst gebraucht wurden. Der Parteiwechsel von der NSDAP zur SED reichte oft als Zeichen der Entnazifizierung im Osten, in den westlichen Besatzungszonen tat es der gute Leumund von Kollegen oder ein falscher Name. Viele am »Euthanasie«-Programm beteiligte Ärzte praktizierten weiter, lehrten zum Teil auch an Universitäten. Erst mit den achtziger Jahren mehrten sich die Bemühungen, das bis dahin namenlose Leid und die Verursacher zu benennen.
Züchtungslehre und Vererbungsforschung
Der Frankfurter Autor Ernst Klee thematisiert bereits seit längerem das Schicksal der »Euthanasie«-Opfer und prangert die Mediziner an, die »in dieser Zeit all das tun durften«. Er sei es leid, dass »Forschung bisher immer die Motive der Täter erklärte, bis sie keine Täter mehr waren«. In diesem Zusammenhang nennt er auch den Kinderarzt Jussuf Ibrahim (1877 - 1953), der sich seit 1917 als Direktor der Jenaer Kinderklinik der Carl-Zeiss-Stiftung und als Professor an der damaligen Landesuniversität Verdienste in der Kinderheilkunde erwarb. Von seinen Mitarbeitern - vor allem den sogenannten Ibrahim-Schwestern - verehrt, steht er bis heute als Ehrenbürger in den Annalen der Stadt. Die Kinderklinik trägt seinen Namen, desgleichen zwei Kindergärten und eine Straße in Jena. Klee dazu: »Für mich ist klar, dass im Jahr 2000 eine Kinderklinik nicht nach einem Mann benannt bleiben kann, der in Krankenakten geschrieben hat: ÂEuthanasie beantragtÂ.«
In den Hörsälen der Jenaer Universität wurden bereits seit 1922 die ersten vier Bänke für »Arier« freigehalten, auch bestand eine Hochschulgruppe der NSDAP. Schließlich saß mit Wilhelm Frick ab 1930 der erste nationalsozialistische Innen- und Bildungsminister in einem Landeskabinett. Frick traf auf keinen nennenswerten Widerstand, als er noch im Jahr seines Amtsantritts die Lehrfächer »Rassenkunde« und »Rassenhygiene« etablierte. Das von Karl Astel geleitete »Institut für menschliche Erbforschung und Rassenpolitik« an der Universität Jena war schon durch rigorose Sterilisationsverordnungen aufgefallen. Der nicht habilitierte Mediziner aus München war dort Professor für menschliche »Züchtungslehre und Vererbungsforschung« und avancierte 1939 zum Rektor dieser Lehranstalt. »Abstammungsermittlungen wegen nichtdeutscher Herkunft« gegen Jussuf Ibrahim - geboren 1877 in Kairo - wurden nach einem Hinweis von Astel eingestellt. Dessen Witwe bezichtigte Ibrahim später, das Kind eines führenden Nazi-Funktionärs in Weimar durch eine Injektion getötet zu haben, weil es mongoloid war. Das lässt sich heute nicht mehr beweisen. Wohl aber belegen die Akten keineswegs eine ausschließlich passive Haltung des bekannten Kinderarztes zum NS-»Euthanasie«-Programm.
Mehr als nur der Meldepflicht geistig behinderter Kinder genüge getan hat Ibrahim im Fall eines zweieiigen Zwillingsjungens, dem er am 5. Januar 1944 eine »offenbar aussichtslose Zukunft« attestierte und den Zusatz »Euth.?« anfügte. Der Junge kam im Februar 1944 nach Stadtroda, wo sein Krankenblatt im März nur »einen Anfall«, aber täglich »kleine Zuckungen« vermerkt. Zwei Monate später ist dort eingetragen: »Körperlicher Zustand schlecht, fieberhafter Darmkatarrh«. Hinweise auf Behandlung finden sich nicht. Als der Junge am 2. Juni 1944 stirbt, wird als Todesursache »Herz-Kreislauf-Schwäche bei fieberhaftem Darmkatarrh« angegeben.
Sammeltransporte aus Stadtroda
Nach Protesten des Kardinals von Galen und anderer Persönlichkeiten wie etwa des Berliner Chirurgen Sauerbruch war die planmäßige »Euthanasie« im August 1941 zunächst zwar gestoppt worden, doch belegt die Statistik, dass die Tötung von Patienten auch danach in Stadtroda anhielt. Waren 1933 48 Verstorbene registriert, stieg ihre Zahl 1939 - im Jahr des Hitler-Befehls - auf 159 und erreichte 1940 und 1942, als auch aus Stadtroda Sammeltransporte zur Vergasung gingen, mit 306 beziehungsweise 307 Toten ihren Höhepunkt. Zwischen 1943 und 1945 lag die Anzahl der Sterbefälle stets über 200. Besondere Aussagekraft haben die Zahlen des Jahres 45: Von Januar bis April kamen 21 Kinder zu Tode. Nachdem Anfang April die Amerikaner Stadtroda befreit hatten, starben bis zum Jahresende nur noch fünf. Dass eine unzureichende Ernährung und vor allem der Entzug lebensnotwendiger Medikamente zum Tod der Patienten führten, belegt die Krankenakte des fünfjährigen Siegfried, der 1944 in das Krankenhaus Stadtroda, zu dem die Landesheilanstalt inzwischen aufgestiegen war, wegen seiner Krampfanfälle aufgenommen wurde. Nach einem Monat, in dem er täglich ein bis drei Anfälle erlitt, wurde die Medikamentierung ganz abgesetzt. Die Zahl der Anfälle stieg auf 14 bis 22 täglich. Wenig später war Siegfried tot - offiziell hieß es: gestorben wegen einer Herz-Kreislauf-Schwäche bei einem epileptischen Anfall.
Mehr als hundert Kinder und einige hundert Erwachsene wurden zwischen 1939 und 1945 in Stadtroda umgebracht. An sie erinnert heute ein Gedenkstein vor dem Hauptgebäude der Klinik, auf dem ein in Sandstein gehauenes Buch liegt. Dass es keine sieben Siegel trägt, dafür sorgten die Mitarbeiter des Landeskrankenhauses selbst. Aber es gibt auch Stimmen, die nach so langer Zeit die Geschehnisse von einst lieber ruhen lassen wollen. Das gilt besonders für den Fall des Mediziners Jussuf Ibrahim. Die Historiker sprechen in dieser Angelegenheit stets von einer »schwierigen Wertung« der Aktenlage, räumen zugleich aber ein: Eine Verstrickung des Arztes in die Kinder-»Euthanasie« könne nicht mehr ausgeschlossen werden.
Nun ist es Sache der Stadt wie der Universität, Schlüsse zu ziehen. Jenas Oberbürgermeister Röhlinger kündigte die Überprüfung von Ibrahims Ehrenbürgerschaft an. Der Kulturausschuss des Stadtrates befasste sich gerade Ende Februar mit diesem Thema. Zur Entscheidungsfindung sollen aber die Resultate der Untersuchungskommission der Universität abgewartet werden, der zur Zeit eigene Recherchen anstellt und Zeitzeugen befragt. Zu Beginn des Sommersemesters will der Senat der Friedrich-Schiller-Universität über Konsequenzen im Umgang mit dem Andenken an die Jenaer Legende Jussuf Ibrahim entscheiden.
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