Vor der Eiche weiche, die Buche suche! Alte Gewitterregeln haben ihr Gutes, aber im Ernstfall sollte man sich nicht auf sie verlassen. Buchenwälder sind selten geworden, verdrängt durch ökonomisch ertragreichere Nadelbäume. Die wiederum leiden unter Klimawandel, Borkenkäferfraß und Flächenbränden.
Dass Baumstämme durch Betonmasten von Windrädern ersetzt werden, macht es nicht besser. Die neuen Trutzburgen erzeugen zwar grünen Strom, nicht aber ästhetisches Wohlgefallen. Andererseits: Wo Bäume zu Beton werden, kann auch wieder ein „naturnah umgebauter Wald“ entstehen – verspricht die Deutsche Bahn ihren Kunden: Wer im ICE Wald, Wild und Wiese an sich vorüberrauschen lässt, trägt zur Aufforstung einer nachhaltigen Mischwaldfläche in der Größe von „11 Fußballfeldern“ bei. Mehr kann auch die Bahn nicht bieten, um die deutsche Seele glücklich zu machen. Ohnehin hat bisher nichts deren Bild vom Märchenwald erschüttern können. Selbst die Göhrde, das größte zusammenhängende Mischwaldgebiet an der ehemals deutsch-deutschen Grenze, hat trotz unterirdisch tickender Castor-Behälter ihren Ruf als unberührte Landschaft bewahrt.
Die Bilder bleiben
Der Wald steht auf dem Spiel, er stirbt. Aber was zuletzt stirbt, sind die Bilder, die wir von ihm haben. Seine Dunkelheit löst wie eh und je Grauen, aber auch Sehnsucht, Angst und Lust aus. Selbst wenn die Holzfällersäge lauter zu hören ist als die Rufe des Käutzchens: Die romantischen Muster à la Tieck und Eichendorff prägen bis heute unsere Vorstellung von Waldeinsamkeit, in der die Zeit stillzustehen scheint. Als Rückzugsort taugt sie nur noch bedingt: Moderne Einsiedler sorgen sich hierzulande mehr um ein schwaches Mobilfunknetz als um ihr täglich Brot. Und für das Survival-Training von Managern hat der wilde Wald schon lange ausgedient. Mit den Überlebenstrategien eines einsamen Wolfes ist der Konkurrenz auf globalisierten Märkten kaum mehr beizukommen –nachzulesen in Martin Suters wunderbarer Erzählung in Anna von Plantas jüngst erschienener Anthologie Durch die Wälder. Und doch bleibt das Unterholz faszinierend und zugleich verdächtig. Ein Waldgänger, der im Morgengrauen aus dem Dickicht heraustritt, wird noch jeden Bauern zu Tode erschrecken – selbst wenn die dunklen Karpaten fern sind.
In der Literatur bezeichnet der Waldrand die Grenze zwischen hüben und drüben, die Demarkationslinie des Unbewussten. Er ist Sehnsuchtsort und Gefahrenzone, das Tor zur „anderen Welt“: ein zwielichtiger, unheimlicher Zwischenraum der Begegnung mit sich selbst, wenngleich diese kaum je für die Protagonisten gut ausgeht. Wer die Schwelle übertritt, erhält Einblick ins „Innerste“ des Waldes. Die romantischen Kunstmärchen haben diesen Zustand als rauschhaft-erotischen, gottlos-ekstatischen Selbstverlust beschrieben. Wer sich in den Waldinnenraum hineinbegibt, so mahnen sie, dem wird das Herz zu Stein; der wird an sich selbst und anderen irre: Texte von John Irving oder von D.H. Lawrence in von Plantas Sammlung variieren dieses Muster. Aber der Londoner Erzähler Graham Swift verwandelt es in einen Albtraum der Jetztzeit: An „Brombeergestrüpp und dichtem Farn vorbei“ gelangt der Protagonist unversehens in einen sich sofort wieder hinter ihm schließenden Wald und erblickt das Ungeheuerliche: „eine Tote in einer Lichtung“, im roten T-Shirt. Dem Bild fehlt die erotische Triebkraft, die dem auf Abwege geratenen Christian in Tiecks Kunstmärchen Der Runenberg (1803) die Aussicht auf den Marmorleib einer gewaltigen Waldfrau gewährt. Bei Swift gerät die Wald-Szene vielmehr zu einer bedrückenden kollektiven Sensation. Denn der Waldgänger wird den Gedanken nicht mehr los, nur der „Erste am Schauplatz“ zu sein.
Die Ahnung, dass auch das Innerste des Waldes nichts als Kulisse, konstruierte Scheinwelt ist, hat auch bereits die Romantiker befallen. Im einem Gedicht aus der Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1808) gibt ein reumütig zurückgekehrter Liebhaber der Braut unter dem Lindenbaum einen illusionslosen Reisebericht: „Sah am Ende von der Welt, / Wie die Bretter paßten / Noch die alten Monden hell / All in einem Kasten.“ Mit ganz ähnlichen Worten nimmt Robert Musil 1927 im Berliner Tageblatt Eichendorffs Kunstlied Der Jäger Abschied ironisch beim Wort. In diesem heißt es: „Wer hat dich, du schöner Wald, / aufgebaut so hoch da droben? / Wohl den Meister will ich loben“. Schön ist sie allemal, diese feste Burg, und sicher auch lobenswert – aber „aufgebaut“? Und von wem? Vom Oberforstmeister, dessen „Wald meistens aus Bretterreihen besteht, die oben mit Grün verputzt sind“. Musils Spott galt nicht Eichendorff, sondern der eigenen politischen Gegenwart. Seine Attacke auf das organizistische Wald- und Weltgebäude geht gewissermaßen aufs Ganze: Sie markiert die Risse und Fugen im ideologischen Konstrukt des „ewigen“ Waldes, einem der Kampfbegriffe der Rechten in den Jahren der Weimarer Republik.
Walser ist kein Heimatdichter
Erhard Schütz analysiert in seinem Buch Mediendiktatur Nationalsozialismus (der Freitag 40/2019), wie Phantasmen von „volksorganischem Harmonismus“ gerade die Gedemütigten und Gekränkten des Ersten Weltkriegs ergriffen. Der deutsche Wald wurde zum ideologischen Sammlungsort für soldatische Männer, die sich in ihm gespiegelt sahen. Die Fatalität liegt dabei gerade in der harmonischen „Selbstimagisierung über den Wald“. Denn wer seine Ideen „im Namen der Harmonie vollstreckt, ist gnadenlos selbstgewiss“. Vorstellungen von einem nationalistisch „geschlossenen Waldraum“ sind immer an Ausgrenzungen gebunden. Wer ins Weltbild nicht passt, gilt als störender Fremdkörper: Noch die Erklärung eines AfD-Bundestagsabgeordneten Anfang 2019 scheint dieses Muster zu bedienen, wenn er die Verwendung „widerstandsfähiger heimischer Baumarten gegenüber gebietsfremden“ schützen will.
Dem Schweizer Robert Walser lag das alles fern. Wald, Wälder und Wäldchen ziehen sich wie ein grüner Faden durch sein Werk. Einen „Heimatdichter“ wird man ihn indes nicht nennen dürfen. Anders als der „unbekannte Wald“ des 1914 an der Westfront gefallenen Bestsellerautors Hermann Löns sind Walsers Wälder keine raunenden Zukunftsversprechen: Sie harren nicht „schwarz, schweigend und verschlossen“ auf kommende Jäger aus der braunen Heide. Vielmehr zeigen sie glückliche Waldinnenraum-Fantasien, Träume, die wissen, dass sie Träume sind: einen „Liebesort“ etwa, in dem es „so still, so grün, so dunkel … wie in einer uralten Kirche“ ist, in dem „nur Lippe an Lippe“ gesetzt werden muss (Ein Liebespaar, in: Durch die Wälder). Der Waldbrand von 1907 wiederum scheint die europäische „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkriegs vorwegzunehmen. Aber zu sehen ist der apokalyptische Weltenbrand hier nur als Spiegelbild in einem See – in „wundervollen Farben“. Ein Genrebild des Schreckens. Anders als andere befand sich Walser während der Kriegsjahre im „helvetischen Zuschauerraum“ (Carl Spitteler) des Grauens, war er nicht in die Frontkämpfe involviert. Seine 1919 veröffentlichte Erzählung Waldfest aber zerstört die Illusion, dass irgendjemand ungeschoren davon gekommen wäre: „Unter Tannen war ein Panoptikum errichtet“, so heißt es dort; „zwar kein so prunkhaftes wie das berlinische in der Passage Friedrichstraße. Hier im Wald war’s weniger elegant, dafür aber viel grüner“. Die Anspielung gilt einem Wachsfigurenkabinett, das die Schaulust der Besucher befriedigte. Zu den Berliner Ausstellungsstücken gehörten Monstrositäten, illusionserzeugende Spiegel, mittelalterliche Schreckenskammern, Ansichten „fremder Völker“ und Waffen aus dem deutsch-französischen Krieg. Im Zentrum von Walsers Waldfest stehen nicht mehr romantische Selbstvergessenheit oder idyllischer Schein, auch nicht die Kritik an vergnügungssüchtigen Hinterwäldlern. Der Waldinnenraum erweist sich als blinder Fleck der Geschichte. Ein Abbild der Gewalt.
Info
Durch die Wälder. Ein Waldspaziergang der besonderen Art Anna von Planta (Hg.), Diogenes 2019, 272 S., 12 €
Robert Walsers Wälder. Prosa und Gedichte Sabine Eickenrodt / Erhard Schütz (Hg.), Insel 2019, 120 S., 14 €
Mediendiktatur Nationalsozialismus Erhard Schütz Universitätsverlag Winter 2019, 422 S., 48 €
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