Einatmen, Ausatmen

EIN GEBURTSBERICHT Emanzipation hört mit der Empfängnis auf

Wir begrüßen die Wehe mit einem Ausatmen«, sagt Renate mit der sanften Stimme. Zehn Frauen in »Mama«-Shirts von H liegen auf den Knien, die Arme über zehn grünen Pezzi-Bällen verschränkt, zehn dicke Bäuche schaukeln sanft. »Immer ans Ausatmen denken«, sagt Renate, »die Wehe kommt, sie wird stärker... sie erreicht den Höhepunkt...« Zehn Frauen stöhnen zehn grüne Pezzi-Bälle an. Einatmen durch die Nase, Ausatmen durch den Mund... Bis die Entwarnung kommt. »Wie war es für Euch?« fragt Renate, unsere Geburtsvorbereiterin, und blickt erwartungsvoll in die Runde. »Martina?« Martina findet die Position auf dem Pezzi-Ball angenehm. Iris weniger, sie hat Rückenschmerzen, und Renate rät zu einer Massage mit dem Kirschkernsäckchen. Steffi hat zum erstenmal das Gefühl, richtig in den Bauch geatmet zu haben, gibt aber zu, dass sie sich den Schmerz nicht vorstellen kann: Sie hat an eine Wurzelbehandlung gedacht. Was natürlich völlig daneben ist, denn: »Der Wehenschmerz ist ein konstruktiver Schmerz«, sagt Renate, immer noch sanft. »Ihr bringt schließlich ein Baby zur Welt. Deshalb heißt es im Englischen auch ›labor‹. Geburtsarbeit.«

»Gesänge der Sanftmut«

Ich weiß nicht, wie sich ein konstruktiver Schmerz von einem destruktiven unterscheidet. Ich weiß nur, dass ich in der Stunde X jederzeit einer kompletten Gebisssanierung den Vorrang gegeben hätte - und ich rede hier von verdammt schlechten Zähnen. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich siebzehn Stunden damit zugebracht, wechselndes Krankenhauspersonal um Drogen anzuflehen. Die Bilanz: Elf Tage überfällig, Einleitung, Periduralanästhesie, Wehentropf, Kaiserschnitt mit Vollnarkose und einer Menge Blut, Intensivstation. Also das genaue Gegenteil einer sanften Geburt. Mit einem überraschenden Ergebnis: Aus all dem Chaos ist ein pumperlgesundes und gutgelauntes Baby hervorgegangen. Das Blöde dabei ist, dass Renate Co. mich subkutan irgendwie beeinflusst haben - ich kann den Gedanken nicht abschütteln, dass ich vielleicht etwas falsch gemacht habe, dass es mir an der richtigen Einstellung gemangelt hat. So hat das auch die Hebamme gesehen: »Sie haben nur zuviel Angst, Sie müssen sich entspannen!«

Mir scheint, die Profis der natürlichen Geburtsvorbereitung arbeiten ähnlich wie diese Esoteriker, die den Leuten beibringen wollen, über glühende Kohlen zu laufen. Dabei liegt die Beweisnot nie bei den Veranstaltern des Experiments, sondern stets beim Probanden: Wenn Sie sich die Füße verbrennen, haben Sie sich halt nicht genug konzentriert, Reklamation zwecklos. Vierundzwanzig Stunden, hat mir eine Frau im Rückbildungskurs erzählt, habe sie in den Wehen gelegen und dann doch noch eine Anästhesie bekommen - es war einfach nicht auszuhalten. Warum klingt sie, als ob sie sich entschuldigen müsste? Objektivieren lassen sich Schmerz erfahrungen nicht, aber darüber, dass der Geburtsschmerz zu den schlimmsten überhaupt gehört, herrscht allgemeines Einverständnis. Der naheliegende Schluss wäre, diesen Schmerz zu lindern oder, noch besser, aus der Welt zu schaffen - für eine Gesellschaft, die Leute ins All schießt, Schafe klont und Quantencomputer erfindet, sollte das eigentlich kein Problem sein. Aber manchmal entsteht der Verdacht, dass auf Waffensysteme und Bürosoftware weit mehr Knowhow verwendet wird als auf die Schmerzbehandlung in der Geburtshilfe. Kein Chef würde heute von Ihnen verlangen, einen Geschäftsbrief in Stein zu ritzen, weil der Stamm der Sowienoch in Südostafrika schließlich auch keine E-mail benutzt. Doch Schwangere müssen sich immer wieder Geschichten anhören über Indianerinnen, die ihre Kinder in Höhlen zur Welt bringen und sofort wieder in der Prärie auf Achse sind, das Baby auf dem Rücken: »Manche vergraben die Placenta und pflanzen ein Bäumchen an der Stelle.« Auch die Krankenhäuser haben sich unter dem Druck der Bewegung »Sanfte Geburt« auf diese romantische Vorstellung eingeschossen: Neben Badewanne und Turngerät - »wir haben hier eine Sprossenwand, aber wenn ich ehrlich bin, ich habe noch nie eine Frau dran hängen sehen« -, gehören Bach-Blüten-Behandlungen und Kaffeeumschläge inzwischen zum Standardangebot. Was Musik und Räucherwerk im Kreißsaal verbergen sollen, hat die Soziologin Isabelle Azoulay in ihrem mit gutem Grund polemischen Buch Die Gewalt desGebärens beschrieben. Es geht hier tatsächlich um eine traumatische Erfahrung, die möglicherweise größte Krise im Leben einer Frau, in deren Verlauf nicht selten Todesängste ausgestanden werden. »Rückenschmerzen sind modern«, schreibt Azoulay, »Orgasmusschwierigkeiten sind modern, über Fußpilze und über Beckenbodenschwäche unterhalten sich Frauen rege am Spielplatz, während die Gören im Sandkasten spielen, aber um die Grausamkeit von Geburt herrscht, wie ich finde, ein kurioses Schweigen, als stände zwischen der Mühe, den Weg zur Geburt zu gestalten, und dem Geschehen selbst eine unsichtbare Wand, die jede Verständigung verhindert. Welcher Sprache der Frauen bedürfte es, um diesem Behutsamkeitsgesäusel Einhalt zu gebieten? Welches Licht benötigen wir, um die Geburt als brutales Geschehen zu benennen, anzuerkennen und entsprechend die Frauen darauf vorzubereiten? Die Barbarei der Geburt produziert bizarrerweise Gesänge der Sanftmut.«

Kuck mal, wer da spricht

Tatsächlich ist es mit der »natürlichen Geburt« schon vorbei, seit die Menschen vor sehr langer Zeit den Zusammenhang zwischen Sex und Nachwuchs erkannt, sich mithin die Freiheit erworben haben, auf Kinder zu verzichten. Und die Verbindung von Natur und Mutterschaft hat sich spätestens unter dem Einfluss der neuen Reproduktionstechnologien als höchst fragwürdig erwiesen. Feministische Wissenschaftlerinnen plädieren denn auch für eine Aufklärung dieses Zusammenhangs. Ein alternatives Verständnis, so etwa die amerikanische Autorin Valerie Hartoumie, wäre zu entwickeln, eines, »das Schwangerschaft als biosoziale Erfahrung betrachtet und Mutterschaft als eine historisch spezifische Sammlung sozialer Praktiken, eine Aktivität, die sozial und politisch konstruiert wie durch Machtbeziehungen bestimmt ist, und die sich unterschiedlich ausformt, je nach Klasse, Rasse, Geschichte und Kultur.«

Wo von Naturmetaphern Gebrauch gemacht wird, wäre demnach immer ein Interesse im Spiel - an einer Zementierung der Geschlechterverhältnisse zum Beispiel. Und zuweilen hat es den Anschein, als wäre es nicht nur der allgemeine politische Backlash, der uns heute zu schaffen macht, sondern als hätten gerade die Bewegungen, die der Frau in den letzten zwanzig Jahren mehr Autonomie, mehr Rechte über ihren eigenen Körper verschaffen wollten - Grünalternative, ›weiche‹ Medizin und sogar einige feministische Fraktionen -, uns erst recht unterworfen: einem verwirrend komplizierten System von Do's and Dont's, das wir nicht etwa als ein engend empfinden, sondern in dem wir permanent mit Begeisterung Höchstleistungen erbringen, ausatmend, einatmend.

Anfang der Sechziger kam eine junge Mutter noch mit dem Klassiker Dr. Spocks Baby-und Kinderpflege, also dem Informationsgehalt von zwei schmalen Taschenbüchern, aus: Füttern, Baden, Wickeln, Fiebermessen, so schwer kann das doch nicht sein? Heute fängt der Stress schon vor der Empfängnis an, sagen wir, mit dem prophylaktischen Verzicht auf legale Drogen, der Einnahme von Folsäurekapseln und der umfassenden seelischen Vorbereitung auf das Event Schwangerschaft. Hat sich der Teststreifen glücklich blau gefärbt, gilt es, möglichst schnell in einen harmonischen Dialog mit dem werdenden Leben zu treten. Wenn das Bonding wirklich im Mutterleib beginnt und Vivaldi auf das Ungeborene entspannend wirkt, wollen wir uns später nichts vorzuwerfen haben. Das große Ereignis findet idealerweise zuhause oder im Geburtshaus statt. Sollte es damit nicht geklappt haben, sind nach der Entbindung im Krankenhaus Gefechte mit den Kinderschwestern auszutragen, die dem Säugling mit Zuckerwasser und Fläschchen (Saugverwirrung!) auf den Leib rücken wollen, während wir im Stillzimmer - »hast Du schon Milch?« - unsere Brustentzündungen tapfer mit Quarkwickeln bekämpfen. Zuhause nehmen die Debatten über ›Wegwerf- oder Stoffwindeln?‹, ›in unserem Bett oder in der Wiege?‹, die Dimension von Glaubenskriegen an. Die Komplettierung der Baby-Ausstattung entpuppt sich selbst mit Hilfe von Ökotest als höhere Wissenschaft - »wie, Du benutzt nicht das Didymos-Tragetuch?« -, ebenso die Zusammenstellung nicht-allergener und trotzdem ausgewogener Ernährungspläne; außerdem sind für die Mutter Beckenbodentraining und »Neufindung« angesagt. Hat Frau dann noch Zeit, sich mit ihrem Kind zu beschäftigen, so empfehlen sich Übungen aus dem Prager Eltern-Kind-Programm, Babymassagen oder die alten Finger- und Singspiele, die die Vergesslichen unter uns neuerdings wieder in Kursen lernen können. Offenbar gibt es keine Form der Interaktion zwischen Mutter und Kind mehr, die ohne Anleitung stattfinden könnte, alles ist der sanften, aber nachdrücklichen Aufsicht eines vollentwickelten Dienstleistungssektors unterworfen, zu dem Geburtsvorbereiterinnen, Hebammen, Laktationsberaterinnen, Homöopathen, Ratgeberverlage und alternative Baby-Ausstatter gehören.

Mama's baby, Papa's maybe

In dieser Akademisierung von Schwangerschaft, Geburt und Kindererziehung scheint sich ein neuer weiblicher Rollenkonflikt auszudrücken. Frauen sind heute besser ausgebildet und beruflich qualifizierter als ihre Mütter, aber nach wie vor hört für sie die Emanzipation mit der Empfängnis auf. Zumindest in Deutschland, wo anders als in den meisten europäischen Ländern schon das Wort Ganztagsbetreuung Krämpfe auslöst und das klassische Familienmodell mit der Frau als ›Nur‹-Mutter von der Politik strukturell festgeschrieben ist - wer sich das Leben mit einem Einkommen nicht leisten kann, sollte mindestens eine Oma ins Spiel bringen können, und vom Erziehungsurlaub für Männer brauchen wir gar nicht zu reden, denn der wird von nicht einmal zwei Prozent aller Väter in Anspruch genommen. Damit sich die Frage nach einer Umverteilung der ›häuslichen‹ Belastungen erst gar nicht stellt, wird diese Arbeit ideologisch aufgewertet, vor allem aber: re-naturalisiert und essentialisiert als Funktion eines, des weiblichen, Geschlechts. Und angesichts dieses gesellschaftlichen Diskursekönnen sich die Herren getrost zurücklehnen, denn es sieht ganz so aus, als besorgten wir Frauen dieses Geschäft ganz allein, sozusagen in vorauseilendem Gehorsam. Dass wir Kinder haben, tolle Jobs ausüben und wundervolle Partnerschaften führen können, wenn wir nur unseren Perfektionsdrang in den Griff kriegen, die Wäsche auch mal liegen lassen und das Abendessen beim Japaner ordern - so die allfälligen Ratschläge der Frauenmagazine -, glauben wir mit gutem Grund nicht mehr. Schließlich haben die Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre gelehrt, dass weibliche Selbstverwirklichung unter den gegebenen Bedingungen immer Selbstausbeutung bedeutet.

Es ist kein Wunder, wenn sich viele Frauen von vornherein dem zermürbenden Zweifronten-Krieg entziehen und die sowieso schlecht bezahlte Halbtagsstelle drangeben, um nur Mutter zu sein. Aber käme es nicht darauf an, aus dem privaten Dilemma wieder ein öffentliches zu machen, den Diskurs über Mutterschaft und Reproduktionsarbeit erneut zu politisieren? Sagen wir, wie in den Siebzigern, die zum Beispiel die hübsche, wahrhaft systemsprengende Forderung nach bezahlter Haus- und Erziehungsarbeit hervorgebracht haben.

Stattdessen: ausatmen, einatmen. Und weil die Energie, die wir früher vielleicht auf eine anspruchsvolle außerhäusliche Arbeit verwendet haben, irgendwo hingehen muss, gestalten wir die pure Logistik des Lebens mit Kindern so kompliziert wie möglich. Hatten Dr. Hipp und Mr. Pampers uns in den vergangenen Jahrzehnten etwas Bewegungsraum verschafft, so werfen wir heute böse Blicke auf andere Mütter, die nicht stillen wollen, und bringen unsere Abende freiwillig damit zu, schafwollene Höschen mit der Hand zu waschen. War für unsere Vorkämpferinnen die Gründung mindestens einer WG-eigenen Krabbelgruppe, besser Stadtteil-KiTa, erste Mutterpflicht, so plagen wir uns heute wieder mit Gewissensängsten, wenn wir unseren Krabbler mehr als drei Stunden wöchentlich fremdgehen lassen: Womöglich wird er später unter dem Einfluss von Doom 15 seine Lehrerin erschießen, weil er nicht genug Nestwärme gekriegt hat. Oder weil er ohne Geschwister aufgewachsen ist. Ich weiß nicht, wo die Bevölkerungsstatistiker ihre Zahlen hernehmen; in meinem weiteren Umfeld jedenfalls geht der Trend eindeutig zum Zweitkind. Und das nicht nur aus Spaß am Leben mit Kindern, sondern stets auch in pädagogischer Absicht, aus ›rationalen‹ Erwägungen. Man könne doch kein Einzelkind planen, hat mir ein Bekannter gesagt. Jedenfalls wäre es nicht gut für die Entwicklung. Ob es gut ist für die Entwicklung, ein zweites Kind zu planen, bloß damit das erste kein Einzelkind bleibt, müsste mal untersucht werden. Die meisten Frauen wissen, dass das Modell Cherie Blair nicht alltags tauglich ist, und zwei oder mehr Kinder den Ausstieg aus dem Job auf unabsehbare Zeit bedeuten. Wie es überhaupt diesseits von Elle und Marie Claire kaum wirklich überzeugende ›role models‹ für ein emanzipiertes Muttersein im 21. Jahrhundert gibt.

Was mich angeht: Ich habe mich jetzt entschieden, als Mutter die Note »ausreichend gut« anzustreben - was laut Eltern (oder war es Familie Co.?) vollkommen, nun ja, ausreichend ist. Mehr wäre sowieso nicht mehr drin, nachdem ich den kleinen Nick vorgeburtlich mit Tom Waits traktiert, das Tragetuch schon im Anfangsstadium ausgemustert und einen Haufen Spielzeug aus Vollplastik angeschafft habe. Vielleicht wird er mich einmal dafür hassen, dass er mit mir »Xena« gucken musste und nie ein anständiges Vollwertmenü bekommen hat. Aber dann werde ich ihm sagen, dass er auch als Sohn von Hera Lind hätte auf die Welt kommen können. Und er wird verstehen.

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