Der Student Michail Voronkov, der als Delegierter am VIII. Parteitag der Bolschewiki in Moskau teilnahm, notierte am 18. März 1919 in seinem Tagebuch: Lenin spreche immer wieder von den für die russische Revolution überlebenswichtigen Revolutionen in Westeuropa, die auf sich warten ließen. Am 22. März dann hielt Voronkov über den Vorabend fest, Nikolai Bucharin sei ins Präsidium gestürmt und habe „hüpfend und umherspringend“ mitgeteilt, Lenin habe über Funk aus Budapest die Nachricht erhalten, dass in Ungarn die Macht auf die Kommunisten übergegangen sei. Der Kongress habe danach lange applaudiert. Als bekannt wurde, dass dieser Umschwung fast gewaltlos vonstattenging (es gab nur drei Tote), misstraute Moskau der ungarischen Räteregierung zunächst – bis man erkannte: Gerade das könnte die Angst der Westeuropäer vor der Revolution mindern. Die Ungarn hätten, so Lenin in einem Grußwort, „der Welt ein noch besseres Vorbild gegeben als Sowjetrussland“, da die proletarische Revolution dort „unvergleichlich leichter und friedlicher“ vorankäme.
Das zu den Verlierern des Weltkrieges zählende Habsburger-Imperium sah sich ähnlichen sozialen Revolten ausgesetzt wie das russische Zaren- und das deutsche Kaiserreich. Doch schien in Ungarn die bürgerliche Revolution organischer in die proletarische hinüberzuwachsen. Am 25. Oktober 1918 hatte sich ein ungarischer Nationalrat gebildet, der die Abspaltung von Österreich, das gleiche Wahlrecht für Frauen und Männer, eine Autonomie für Minderheiten, Assoziations- und Pressefreiheit sowie eine Landreform beschloss. Am 31. Oktober, nach massiven Demonstrationen, musste Karl I., der seit 1916 Kaiser von Österreich und als Karl VI. König von Ungarn war, den „roten“ Michael Graf Károlyi beauftragen, eine Regierung zu bilden, die mit der Entente verhandeln und das Programm des Nationalrats umsetzen wollte, der sich aus Sozialdemokraten und sogar Kommunisten rekrutierte. Unterstützt wurde das Gremium auch vom Budapester Soldatenrat, von der Polizei und Garnisonen, die verhinderten, dass königstreue Truppen in die Hauptstadt einrückten. Schon am 1. November legte die ungarische Armee die Waffen nieder, doch gelang es der Regierung Károlyi nicht, die Abspaltung slowakischer, südslawischer und rumänischer Gebiete zu verhindern, die bislang zu Ungarn gehörten. Weitere Demonstrationen forderten die Abdankung Karls VI. Am 16. November schließlich wurde eine „Ungarische Volksrepublik“ ausgerufen. Die nun auch in Betrieben gebildeten Arbeiterräte verlangten mehr. Sie wollten das Groß- und Finanzkapital enteignen, das sich im Krieg bereichert hatte, dazu den Großgrundbesitz aufteilen.
Entscheidend für den weiteren Gang der Ereignisse war die Rückkehr von 300.000 Kriegsgefangenen aus Russland, von denen etwa 100.000 als Freiwillige in der Roten Armee gekämpft hatten. Unter ihnen war auch Béla Kun, der sich in der Sowjetunion als kommunistisch orientierter Publizist und Agitator unter seinen Landsleuten betätigt hatte und das Vertrauen der bolschewistischen Führung besaß. Er wurde zur zentralen Figur der am 24. November gegründeten KP Ungarns und versuchte sofort, zunächst jedoch mit wenig Erfolg, Allianzen mit Sozialdemokraten zu schließen. Der KPU gelang es, die Rätebewegung auch außerhalb Budapests zu stärken und so den revolutionären Umbruch anzufachen. Anfang Januar kamen große Werke in Budapest unter Kontrolle der Räte. Ganz anders war die Situation für Bergarbeiter, die Kohlegruben in Salgótarján in Besitz genommen hatten. Als Vergeltung ließ der lokale sozialdemokratische Regierungskommissar 16 Kumpel hinrichten, während 50 weitere bei Schießereien verletzt wurden. Um immer dringlicher werdenden Forderungen der Landbevölkerung entgegenzukommen, ließ Graf Károlyi die eigenen Ländereien unter seinen Tagelöhnern aufteilen. Als danach kein anderer Großagrarier seinem Beispiel folgte, übernahmen Bauernräte die Enteignungen, verteilten das Land aber nicht, sondern bildeten Genossenschaften.
Nachdem die Károlyi-Regierung am 18. Januar zurückgetreten war, gelang es auch dem ihr folgenden bürgerlich-sozialdemokratischen Kabinett nicht, den revolutionären Umbruch aufzuhalten. Der Budapester Polizeichef Károly Dietz bot sich zwar an, den „ungarischen Gustav Noske“ zu geben, doch kam es nur zu begrenzten Gewaltaktionen, etwa bei einer Demonstration des Arbeitslosenverbandes vor dem Büro des sozialdemokratischen Parteiorgans, das Erwerbslose durch häufige Schmähungen aufgebracht hatte. Am 21. Februar dann forderten 250.000 Budapester das Ende der Gewalt und die Einheit der beiden Arbeiterparteien. Nur so lasse sich die „weiße Konterrevolution“ besiegen.
Dieser Druck von unten erzwang einen Linksruck bei den Sozialdemokraten, der am 21. März 1919 die Vereinigung von 600.000 ihrer Mitglieder mit 200.000 Kommunisten zur Ungarländischen Sozialistischen Partei ermöglichte. Weil die vorherige Regierung wegen der von der Entente durchgesetzten Abtretung Ostungarns an Rumänien zurückgetreten war, konnte am selben Tag die Ungarische Räterepublik ausgerufen werden. Ihr Regierungschef Sándor Garbai setzte sofort durch, was die Sozialdemokraten aus seiner Sicht bis dahin versäumt hatten: Betriebe mit mehr als 20 Arbeitern wurden verstaatlicht, ebenso das Finanzwesen und der Boden. Das Akkordsystem und die Kinderarbeit wurden abgeschafft. Eingeführt wurden der Achtstundentag und das Prinzip, wonach Männern und Frauen für gleiche Arbeit der gleiche Lohn zu zahlen sei. Die Lohnspreizung wurde auch deswegen drastisch reduziert, weil sich das Einkommen nunmehr nach der Qualifizierung richtete. Medizinische Versorgung wurde kostenlos. Um einer mangelhaften Ernährung zu widerstehen, wurden in ganz Ungarn per Dekret Pferderennbahnen, die als bourgeoise Vergnügungsorte galten, in Anbauflächen für Gemüse verwandelt. Die Getreideproduktion stieg im Sommer 1919 um ein ganzes Drittel gegenüber der Vorkriegszeit, auch wenn sich die vollständige Kollektivierung als Fehlentscheidung erweisen sollte – sie fand auch 1950, an der Schwelle zur zweiten Ungarischen Volksrepublik, kaum Akzeptanz unter den Bauern.
Die Rätemacht erfreute sich zahlreicher intellektueller Sympathisanten. Als stellvertretender Volkskommissar für Unterrichtswesen war beispielsweise György Lukács mit dafür verantwortlich, dass ein Alphabetisierungsprogramm beschlossen und der Zugang zu Museen wie Theatern kostenlos wurde. Ebenso bemerkenswert schienen die Pläne, das Verlagswesen in den Dienst des Volkes zu stellen. Es wurden neue Zeitschriften aufgelegt, in denen sich zeigte, über welch starken Einfluss zu jener Zeit die expressionistische Avantgarde verfügte. Die durch Tatkraft errungene Popularität hätte ausgereicht, um der ungarischen Räterepublik ein längeres Dasein zu bescheren. Stattdessen wurde ihr durch die von der Entente in Bewegung gesetzten internationalen konterrevolutionären Truppen nach 133 Tagen ein Ende gesetzt.
In ihrem 2018 in Wien erschienenen Buch Die ungarische Räterepublik 1919. Innenansichten – Außenperspektiven – Folgewirkungen widersprechen die Autoren Christian Koller und Matthias Marschik dem Vorwurf, die Rätemacht sei blutrünstiger als das sie erstickende Horthy-Regime gewesen. Sie weisen nach, dass die damalige europäische Reaktion auch stark antisemitische Gewaltexzesse als Erfolg gegen den „Judeo-Bolschewismus“ bejubelte. Das Abflauen der deutschen und das brüske Ende der ungarischen Revolution waren entscheidende Weichenstellungen dafür, dass in Russland die Idee des „Sozialismus in einem Land“ zusehends mehr Anhänger gewann. Reichsverweser Miklós Horthy sollten 25 Regierungsjahre beschieden sein. Er führte Ungarn als Alliierten Hitlers in den Zweiten Weltkrieg und war mitverantwortlich für die Ermordung von 600.000 ungarischen Juden.
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