Sexuelle Emanzipation entstand in der DDR zunächst „von unten“, als Selbstermächtigung der arbeitenden Frauen, ohne deren Beitrag zum Bruttosozialprodukt sich der Staat schwer gehalten hätte. Für die Berufstätigen wurden die nötigen Versorgungssysteme für Kinder geschaffen, aber erst ab 1972 war ein selbstbestimmter Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche möglich. Die frühe DDR folgte einer eher prüden Geschlechtermoral, erst in den frühen 1960er Jahren wurden zaghaft die kulturellen Kämpfe der Arbeiterklasse in der Weimarer Republik rezipiert, die auch eine sexuelle Emanzipation einschlossen. Aber auch dann blieb das erotische Leben der Ikonen Karl Marx und Friedrich Engels für die öffentliche Debatte weitgehend tabu. Wer darüber etwas erfahren wollte, musste sich die entsprechenden Stellen in den blauen Bänden mit den dokumentierten Briefen heraussuchen. Während Marx im Grunde ein bürgerliches Familienleben – inklusive Schwängerung der Haushälterin – führte, bot das Leben von Engels zukunftsweisenden Stoff.
Es sollte 1932 eine kühne Würdigung durch eine literarische Melange aus Dokument und spätexpressionistischer Dichtung erfahren. General und die Frauen, geschrieben von Walther Victor (1895 – 1971), wurde von der Büchergilde Gutenberg auf industriellem Büttenpapier gedruckt, in weißes Leinen gebunden und dem Arbeiter preiswert zur Verfügung gestellt. Victor kam aus einer Fabrikantenfamilie, trat 1919 in die SPD ein, war von 1926 bis 1931 Stadtrat in Zwickau und schrieb als Journalist unter anderem für die Weltbühne und das Berliner 8-Uhr-Abendblatt.
In respektvoller Emphase nennt Victor Friedrich Engels nur „General“. Das war sein Nom de Guerre, den er sich 1849 bei den Kämpfen der Badischen Revolution um die Festung Rastatt erworben hatte. „Kapitalist und Sozialist zugleich“ sei er gewesen und „zynisch und fromm [...] vor jener Gottheit Liebe, der sich würdig zu erweisen einmal sein Lebensziel wurde“. Zum Zynischen gehöre eine Briefäußerung von 1847 aus Paris: „Hätt’ ich 5.000 Frank Renten, ich tät’ nichts als arbeiten [d. h. schreiben] und mich mit den Weibern amüsieren, bis ich kaputt wär! Wenn die Französinnen nicht wären, wäre das Leben überhaupt nicht der Mühe wert.“ Im „General“ habe jedoch auch ein anderer „Mensch von tiefer Verantwortung“ gesteckt, schreibt Victor, „dort, wo er liebt und Liebe beansprucht. Ein Mensch, der den Garten seiner Liebe gehalten hat wie ein Heiligtum, der ihn mit Geheimnis und mit Sorge umgab, bis über seinen Tod hinaus. Und der gleichzeitig das Neue, das Kommende, das Freie mutig gelebt hat, um ein Jahrhundert der Welt voraus.“
Dies bezieht sich auf die Lebensgemeinschaft mit den irischen Schwestern Mary und Lydia Burns, beide Baumwollspinnerinnen in Manchester. Zur ersten Begegnung mit Mary kam es, als Engels 1843 vom Vater nach Manchester geschickt wurde, um die Verbindung mit der Firma Ermen zu festigen. Als er die Fabrik besichtigt, wird ihm die neue Selfactor-Spinnmaschine vorgeführt, für deren Bedienung „eine der intelligentesten Arbeiterinnen des Betriebes eigens [...] ausgebildet worden ist“. Das technisch ausgereifte Aggregat verlangt nur wenig Körpereinsatz, das Mädchen kann „eine gewisse Haltung“ zeigen und hat „die Möglichkeit, eine Antwort zu geben, sich frei vor den Menschen zu bewegen, die es umstehen“. Engels sei zunächst weniger von Marys graziler Schönheit bezaubert gewesen als von der „Würde“, die sie dank neuester Technik zur Geltung bringen konnte, vermerkt Walther Victor. „Der General wurde und blieb Fabrikbesitzer, aber er führte die Sache der Industriearbeiter. Er machte Geld mit den Methoden des herrschenden Wirtschaftssystems, und er verwandte es, um ein neues zu propagieren. Er wusste um den Missbrauch der Unternehmergewalt über die Arbeiterin und hat ihn flammend gegeißelt, aber er lebte mit Mary Burns, der Arbeiterin seines Betriebes, 20 Jahre, bis sie starb, in vorbildlichem Bunde.“
Bekannt ist, dass Engels durch Mary Burns in die Lebenshölle der in England malochenden Iren eingeführt wurde. Aus dieser Erfahrung ging 1845 sein Frühwerk Die Lage der arbeitenden Klasse in England hervor, das Marx wiederum zur Analyse der politischen Ökonomie anregte. Walther Victor beschreibt auch die von Mary vermittelte Lektion in Frauen-Emanzipation, als er ihr antrug, „dass sie nun natürlich die Fabrik verlassen und nur ihm, nur sich selbst, nur ihrer Gemeinschaft leben werde“. Als „typischer Bürger“ wurde Engels daraufhin von Mary ausgelacht, „die weiter in den Betrieb ging, an die Maschine. […] Er hatte die Intuition, sie war die Verkörperung. Sie lebte das neue Sein, das er nur ahnte“, so Walther Victor. Vom Erlebnis zur Theorie lautet denn auch der programmatische Untertitel seines Buches.
Von August 1845 bis Juli 1846 lebte Mary mit Engels in Brüssel. In einem Brief von damals bezeichnet er sie als seine Frau. Wie lange sie noch in die Fabrik ging, ist unklar. Auch ist kein Foto von ihr überliefert, wohl aber von ihrer etwas jüngeren Schwester Lydia, genannt Lizzy. Etwa ab 1850 lebten die drei in einem gemeinsamen Haushalt, den Lizzy führte, mit der Engels nach Marys plötzlichem Tod 1863 weiter zusammenbleiben sollte. Lizzy brachte „eine Intransigenz für Irland und die Irländer auf“, die sie sogar dazu führte, in „Komplotte“ verwickelte Landsleute zu verstecken. „So kameradschaftlich General die Neigung für die Opfer der englischen Machtgelüste unterstützte, so sehr war Lizzies religiöse Veranlagung Anlass zu Differenzen.“ Als unbeirrbare Katholikin wurde sie mit dem Widerspruch nicht fertig, „dass der Trieb Macht gewann über die Gesetze des Himmels“. Friedrich Engels, der an seinem von Victor ausführlich zitierten Werk Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats schrieb, geißelte wiederum die bürgerliche Ehe als unmoralisches Auslaufmodell. Da er aber auch die Historizität der Geschlechtermoral herausgearbeitet hatte, folgte er 1878 dem dringenden Hinweis des die todkranke Lydia Burns begleitenden Arztes, dass sie leichter sterben werde, wenn sie den letzten Segen als verheiratete „Missis Engels“ empfangen könne.
Engels hat nicht nur Marx und seine Familie nach Kräften materiell unterstützt, sondern auch die weitläufige Familie Burns. Eine Nichte von Mary und Lizzy adoptierte er sogar. „Er verzärtelt und verwöhnt das Kind und das Mädchen Pumps, solange er kann.“ Aus ihr soll schließlich seine vorletzte, außerordentlich „herrische“ Haushälterin werden. Nach Pumps’ Heirat übernimmt Luise Kautsky das Regiment, bei der sich Victor später informiert hat.
Einiges stellt sich im heutigen Forschungsstand anders dar als bei Victor. Dementiert werden kann die auf eine Silvesterfeier 1847 in Brüssel zielende Episode, wonach Frau Marx es abgelehnt haben soll, das unkonventionelle Paar Friedrich Engels und Mary Burns zu begrüßen. Denn Engels hatte den 31. Dezember bei dem kranken Heinrich Heine in Paris verbracht, und Mary hatte Brüssel im Juli gen Irland verlassen. Dass Karl und Jenny die Verbindung des Freundes mit der Arbeiterin, die ihm womöglich keine intellektuelle Partnerin sein konnte, nicht recht verstanden, geht aus Engels’ tiefer Verletzung über die knappen und kühlen Worte hervor, die Marx ihm nach ihrem Tod schrieb. Diese Einstellung änderte sich. Es existiert ein warmer Kondolenzbrief von Jenny Marx nach Lydias Tod.
Walther Victor arbeitete nach 1933 illegal, geriet in Haft, konnte aber 1935 in die Schweiz und dann in die USA emigrieren. In der DDR lebte er wieder als Autor und gab die Reihe Lesebücher für unsere Zeit heraus, in der Texte von Goethe, Heine, Lessing, Tucholsky, Shakespeare, Hebbel, Brecht, Kleist und Weinert für ein breites Publikum, vorrangig für Schüler, zusammengestellt wurden. General und die Frauen war 1937 in Zürich und 1947 in Hamburg wieder erschienen. In der DDR kam erst 1982 ein Reprint heraus.
Kommentare 22
en passant: worin bestand der politische macht-zuwachs der DDR-frauen?
war die nutzbar-machung weiblicher energien nicht der schwäche
des herrschen-wollenden, experiment-gewillten patriarchats geschuldet?
"des herrschen-wollenden, experiment-gewillten patriarchats"
Haha, manchmal bist du wirklich ungewollt sehr komisch. Du mit deinen vorgestanzten Gewissheiten über etwas, was du nicht kennst, hättest gut in die Riege der "herschen-wollenden" DDR-Patriarchen gepasst.
"Aber auch dann blieb das erotische Leben der Ikonen Karl Marx und Friedrich Engels für die öffentliche Debatte weitgehend tabu."
Immerhin 1981 erschien ein Roman über Engels Jugendjahre (Autor Walter Baumert) gleichzeitig in der DDR und im Westen (Schau auf die Erde, DDR / Der Flug des Falken, BRD). Da werden auch Engels Bordellbesuche erwähnt. Die Liebesgeschichte mit Mary Burns und die Art Partnerschaft zwischen beiden spielen eine wichtige Rolle.
politische macht-zuwachs der DDR-frauen?"
Frage ging an Sie, wo haben Sie das (heraus-)gelesen?
ich hab eine frage gestellt.
na klar:
fragen von mir sind "vorgestanzte gewißheiten".
außerdem lag die betonung auf "experiment-gewillt" nämlich:
den stalinistisch-geprägten sozialismus gegen den widerstand auch von männern
durchzusetzen.
und erfahrungs-gesättigt wie nur einer, ist dir nicht nur heiterkeit,
sondern auch unverschämtes unterstellen gegeben.
Der »General« – von den beiden Großen der (wahrscheinlich) Sympathischere. Ich frage mich, wie er den Umstand erklärt hätte, dass im verneolibalisierten Norden kein Mangel besteht an substanziell gehaltvollen Engels-Biografien (wie beispielsweise der da), während im Arbeiter- und Bauernstaat das Persönliche, Widerspruchsvolle, Nicht-der-Ideologie-Entsprechende der beiden Gründerväter unter den Teppich gekehrt wurde.
Eine Antwort habe ich nicht. Auf die von Engels indess wäre ich sehr gespannt gewesen.
"...während im Arbeiter- und Bauernstaat das Persönliche, Widerspruchsvolle, Nicht-der-Ideologie-Entsprechende der beiden Gründerväter unter den Teppich gekehrt wurde."
Noch einer mit nem alles durchschauenden Fern(rück)blick. Welche "Ideologie" meinst du? Dass sich die Leute um 1850 nicht täglich geduscht oder ein Bad genommen haben, dass Marx Pornografie mochte und Engels Bordelle besuchte, das fanden einige weniger helle Sozialisten in der DDR tatsächlich unsäglich und also schädlich fürs ideologische Wohlbefinden der Leute. Die meisten waren intelligenter und konnten zwischen den individuellen persönlichen Eigenarten eines Menschen und den Ergebnissen seiner Denkarbeit durchaus unterscheiden. Klatsch-Biografien oder psychoanalytische Unkereien wurden keine verlegt. Aber alle (!) bis dahin bekannten überlieferten Dokumente - einschließlich des persönlichen Briefverkehrs, den Sabine Kebir auch erwähnt - waren veröffentlicht und konnten von jedem Interessierten zur Kenntnis genommen werden.
»(…) Aber alle (!) bis dahin bekannten überlieferten Dokumente […] waren veröffentlicht und konnten von jedem Interessierten zur Kenntnis genommen werden.«
Mit anderen Worten: Die Quellen waren frei zugänglich – nur Bücher daraus zu kompilieren war streng verboten. Es fällt mir schwer, aber manchmal ist es unvermeidbar, die unverblümte Wahrheit zum Ausdruck zu bringen: Was für ein Saftladen.
"ich hab eine frage gestellt."
Ich weiß.
Sie lautete:
"worin bestand der politische macht-zuwachs der DDR-frauen?"
Mit "worin" frag(t)en Sie nach etwas, dass Sie als Aussage der Blogautorin so herausgelesen haben wollen.
Weil diese Formulierung/Behauptung gar nicht im Text vorkommt.
genau-lesen ist Ihnen wohl eine pflicht,
die besonders lästig ist, wenn aus Ihnen etwas heraus muß?
im text der blog-autorin
ist von "selbstermächtigung der arbeitenden frauen" die rede.
daher meine "dumme und unpassende" fragestellung.
"genau-lesen ist Ihnen wohl eine pflicht,
die besonders lästig ist, wenn aus Ihnen etwas heraus muß?
im text....
ist von "selbstermächtigung der arbeitenden frauen" die rede"
Ja. "Genau" lesen wäre gut. Weil der von Ihnen nur halb zitierte Satz in einem Kontext/Zusammenhang/Bezug steht:
"Sexuelle Emanzipation entstand in der DDR zunächst „von unten“, als Selbstermächtigung der arbeitenden Frauen"
Nun wissen wir seit ungefähr 50 Jahren, dass das politische privat (und umgekehrt) ist. Aber aus der sexuellen Emanzipation der Ost-Frauen einen politischen Machtzuwachs konstruieren zu wollen,....nun ja.
und noch eins: konnte sich auch die jugend der DDR "von unten"
selbst-ermächtigen?
Du bist unter den zahlreichen hier anzutreffenden Rechthabern schon ein besonders prächtiges Exemplar. Was meint wohl "veröffentlicht"? Das meint nicht, dass das vergilbte Originalpapier im Lesesaal des Marx-Engels-Instituts in Moskau zur Einsichtnahme zur Verfügung stand, sondern, dass man z.B. Reclam-Bändchen mit solchen Dokumenten für eine Mark und fuffzig kaufen oder in der Stadtbibliothek ausleihen konnte. Du hast nunmal - sieh der "unverblümten Wahrheit" ins Auge - von dem "Saftladen" keine Ahnung.
"Nutzbarmachung weiblicher Energien" ist ziemlicher Scheiß, wenn ich das mal sagen darf. Frauen waren zu DDR-Zeiten schon ziemlich selbstbewusst und haben auch zunehmend politisch nachgefragt.
Allerdings, sind Frauen keine Windräder. Und fragen Sie mal nach, wieviel Kraft und Kompetenz sich bei den "nutzbar gemachten" Frauen versammelt hatte. Ja, das war ein ziemliches Patriarchat, aber die Frauen haben trotzdem gewonnen dabei.
Von daher ist das eine Erfahrung die ich nun wirklich nicht missen möchte. Und da fühle ich mich in der Mehrheit mit den meisten Frauen Ost.
Es gab - das stimmt - zu DDR-Zeiten sicherlich nicht so viele sekundäre Literatur zu einem Thema oder einer Person. Aber, lesen konnten alle - auch Ursprüngliches. Es gab damals immer ne Menge Leute-West, die mir ihrem Zwangsumtausch-Geldern in Ostberlin die Originalsachen kauften.
Außerdem wüsste ich gern, woher Sie immer ihre Weisheiten beziehen.
Wissen Sie, es war ein bisschen wie heute. Was nicht so hervorgehoben werden sollte, wurde auch nicht breit kommuniziert, war aber zugänglich. Wie gesagt, ist so ähnlich wie jetzt nur auf kleinerer Flamme.
(& @Magda:)
Okay – da ist wohl das Kind in den Brunnen gerutscht; kann man nichts machen. Why, warum? Weil ich – übrigens im Kontext eines kaum mißzuverstehenden Lobs für die beiden ME-Theoretiker – angemerkt habe, dass das Publizieren ÜBER die beiden Klassiker in der DDR nur eingeschränkt möglich war. Dass die politisch-publizistisch-bürgerrechtliche Meinungsfreiheit in der DDR ein Haufen Raum nach oben ließ, lässt sich kaum einer besonderen Querköpfigkeit oder gar Neoliberalität meinerseits zuschreiben. Seit ungefähr 1995 ist diese historische Rückeinschätzung sogar innerhalb der Partei der Arbeiterklasse Mainstream. Selbst die ansonsten sehr von mir geschätzte Sahra Wagenknecht ist von ihren Pro-Ulbricht-Positionen schon vor langer Zeit abgerückt.
Selbstverständlich kann man trotzdem Ulbricht, Honecker und so weiter hochhalten. Ich gebe lediglich zu bedenken, dass diese rückwärtsgewandte (und nicht den Fakten entsprechende) Sichtweise nicht gerade vorwärtsführend ist.
"konnte sich auch die jugend der DDR "von unten"
selbst-ermächtigen?"
Ein Teil jedenfalls hat es (besonders in den letzten 10 Jahren ihres Bestehens) einfach getan.
Ich versteh` aber (mal wieder) auch Ihre Frage nicht. Was impliziert für Sie "ermächtigen"?
muß ich erinnern:
auch in der BRD wurde frauen-arbeit genutzt und es gab auch wachsendes selbst-
bewußtsein und welche, die sich politisch aktiv verhalten haben.
als alleinstellungs-merkmal: die DDR war ein spezielles land für frauen.
dürfte ne menge einwände hervor-rufen.
oda?
--->wikip.: "empowerment".
die selbst-be-/-ermächtigung sollte von fremd-ermutigung
und funktionalisierung auf dem konzessions-wege:
gedanklich geschieden werden.
mich würde Ihre stellungnahme zur tv-doku:
"ostfrauen. wege zum glück." 3 folgen, interessieren.
dort wird geschieden zwischen legende und wirklichkeit,
staats-doktrin und alltags-leben.