Die Diktatur Benito Mussolinis durchlief eine Phase zwischen Autokratie und Staatsterror, als Antonio Gramsci 1924 die Führung der erst drei Jahre zuvor gegründeten KP Italiens übernahm und den inhaftierten Amadeo Bordiga ablöste. Der hatte die Partei als kleine, schlagkräftige Kaderorganisation formiert, weil ihm ein staatsstreichartiger Umsturz nach dem Vorbild der Oktoberrevolution vorschwebte. Gramsci hingegen ging davon aus, dass Mitte der 1920er Jahre die Epoche sozialistischer Revolutionsversuche in Mittel- und Westeuropa zu Ende war, was aus seiner Sicht auf die Integrationskraft einer politisch-kulturellen, weitgehend bürgerlichen Zivilgesellschaft zurückging.
Zudem erwies sich die bürgerlich-parlamentarische Demokratie als Revolutionshindernis. Als in Italien 1920/21 die faschistischen Sturmabteilungen als Hilfskorps des liberalen Staates (noch bevor Mussolini die Macht an sich riss) halfen, die Arbeiterbewegung niederzuwerfen, leitete Gramsci für die KPI eine Wende ein. Dabei spielte eine in der linken Zeitung Ordine Nuovo ausgetragene Polemik eine wichtige Rolle. Gramscis Studienfreund Piero Sraffa, KP-Sympathisant und Ökonomiedozent in der sardischen Kapitale Cagliari, schrieb in jenem Blatt, dass der Faschismus die Arbeiterklasse ökonomisch und politisch derart schwäche, dass die Kommunisten maximalistische Ziele aufgeben müssten. Stattdessen sollte es einen klaren Kurs zur Verteidigung der Demokratie geben. Partner würden sich finden. Eine Reorganisation des Klassenkampfes, der einer neuen Gesellschaft zum Durchbruch verhelfe, sei erst unter demokratischen Verhältnissen wieder möglich. „Ich glaube“ – so Sraffa – „dass die Kommunistische Partei zur Zeit kein Nachlassen des faschistischen Drucks erreichen kann: Wir befinden uns in einem Moment der demokratischen Oppositionen und brauchen jetzt in erster Linie eine ‚bürgerliche Revolution‘, die dann die Entfaltung einer Arbeiterpolitik zulässt. (…) Es scheint mir ein Fehler zu sein, wie ihn z. B. die Unità (Zentralorgan der KP) begeht, die bürgerliche ‚Freiheit‘ lächerlich zu machen: Sie mag gut oder schlecht sein, wird aber von den Arbeitern heute für die größte Notwendigkeit gehalten. Sie ist die Voraussetzung für jede weitergehende Errungenschaft.“
Freilich müsse diese Politik mit einer darüber hinausreichenden konkreten Perspektive einhergehen. In seiner Antwort bescheinigte Antonio Gramsci dem Autor zwar gute Absichten, aber auch ein „demokratisch-liberales, das heißt normatives und kantianisches Weltbild“, das nicht „marxistisch und dialektisch“ sei. Er verteidigte die „autonome Politik“ der KPI. Die Arbeiterklasse bleibe von der politischen Bühne verdrängt, solange „die Kommunistische Partei den verfassungsmäßigen Oppositionskräften erlaubt, den Kampf der Kräfte zu monopolisieren, die – historisch gesehen – die Verbündeten des Proletariats sind …“ Die Linie der Partei müsse sich „gleichermaßen den verfassungsmäßigen Oppositionskräften wie dem Faschismus“ entgegenstellen, „auch wenn die verfassungsmäßigen Oppositionskräfte ein Programm von Freiheit und Ordnung unterstützen, das der Gewalt und der Willkür des Faschismus vorzuziehen ist. In Wahrheit wird die verfassungsmäßige Opposition ihr Programm niemals verwirklichen. Es ist nur ein Propagandainstrument gegen den Faschismus.“
Spurlos verschwunden
Als am 10. Juni 1924 der sozialistische Abgeordnete Giacomo Matteotti spurlos verschwand, nachdem er am 20. Mai eine antifaschistische Rede gehalten hatte, ging die entrüstete Öffentlichkeit Italiens von einem faschistischen Attentat aus. Aus Protest verließen alle nichtfaschistischen Parteien das Parlamentsgebäude von Montecitorio und versammelten sich im Aventin. Zugleich vollzog Gramsci in seinem Urteil über die bürgerliche Demokratie eine Wende, wie sie Sraffa für nötig erklärt hatte. Nun versuchte er, mit den anderen „verfassungsmäßigen Oppositionskräften“ zusammenzuarbeiten. Er schlug die Bildung eines Gegenparlaments vor, das zum Generalstreik aufrufe. Dazu konnten sich nicht einmal die direkt betroffenen Sozialisten durchringen. Außer einigen kraftlosen Verbalprotesten unternahm der Aventin nichts, um die öffentliche Empörung in eine politische Mobilisierung zu überführen; die Abgeordneten blieben einfach zu Hause. Dass Mussolini gerade diese bis 1926 andauernde Lage ausnutzen würde, um das Parlament ganz abzuschaffen, konnten sie sich nicht vorstellen.
Am 26. August 1924 schrieb Gramsci in der Unità, die großen arbeitenden Massen seien desorganisiert und zerrieben. Die aktuelle Phase sei „nicht vom direkten Kampf um die Macht bestimmt, sondern eine Phase der Vorbereitung, des Übergangs zum Kampf um die Macht, also eine Phase der Agitation, der Propaganda, der Organisation. Das schließt natürlich nicht aus, dass es keine grausamen Kämpfe geben kann, und dass sich unsere Partei nicht sofort darauf vorbereiten müsste. Aber auch diese Kämpfe müssen im Rahmen des Übergangs gesehen werden (…). Wenn in unserer Partei Gruppen und Tendenzen existieren, die aus Fanatismus die Situation anheizen wollen, so wird man gegen sie im Namen der ganzen Partei kämpfen müssen.“
Aus dieser strategischen Wende Antonio Gramscis könnten bis heute linke Bewegungen etwas lernen. Natürlich war damals ein solcher Kurswechsel in der KPI nicht leicht durchzusetzen. Im Kampf um eine neue Ordnung auf Geduld und langen Atem zu setzen war denen suspekt, die den putschartigen Umsturz bevorzugten. Immerhin gelang es, die Parlamentsfraktion der KP auf Gramscis Linie einzuschwören. Als das Gegenparlament bis Ende 1926 nicht zustande kam, beschloss sie als einzige Fraktion, nach Montecitorio zurückzukehren. Die Begründung lautete, die Legislative dürfe nicht den Faschisten allein überlassen bleiben. Gramsci bewies in dieser brisanten Lage mehr Verantwortung für die Demokratie als die bürgerlichen Parteien und die Sozialisten. In Briefen und Artikeln machte er deutlich, dass die im Rahmen der bürgerlichen Demokratie geschaffenen Institutionen der Arbeiterbewegung – ihre Parteien, Gewerkschaften, Zeitungen und öffentlichen Manifestationen – bei der Zerstörung der bürgerlichen Demokratie als Erstes zerstört würden. Deshalb müsse die KP die Vorhut bei deren Verteidigung sein.
Die süditalienische Frage
Obwohl die Kommunisten von der Rückkehr zur parlamentarischen Präsenz profitierten – es gelang ihnen, als konsequenteste antifaschistische Kraft wahrgenommen zu werden –, sah Gramsci, dass der Faschismus nicht von seiner Partei allein zerschlagen werden konnte. So unrealistisch für den Augenblick gemeinsame Aktionen mit den anderen „verfassungsmäßigen Oppositionskräften“ waren, so sah er darin doch fortan die einzige Möglichkeit, den Faschismus zu überwinden, wie er das in seiner 1926 verfassten Schrift Die süditalienische Frage darlegte.
Piero Sraffa nahm diese Orientierung nur noch aus der Ferne wahr. Er lehrte ab 1927 als Kollege von John Maynard Keynes in Cambridge und wurde zu einem der bedeutendsten Wirtschaftswissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Während Gramscis Haftzeit eröffnete Sraffa für ihn ein offenes Konto bei einer Mailänder Buchhandlung, so dass der Gefangene aus deren Beständen Bücher und Zeitschriften beziehen konnte. Zugleich stellte Sraffa eine Verbindung zur Exilführung der KPI in Moskau her, um ihr Gramscis politisches Vermächtnis zu vermitteln, als sich dessen Gesundheit verschlechterte. Danach sollte eine „Constituente“ die Perspektive des Widerstandes gegen Mussolini sein – eine Verfassunggebende Versammlung der nichtfaschistischen Parteien. Diese Position hatte Bestand über die Zeit des Faschismus hinaus und prägte die Mitwirkung der von Palmiro Togliatti geführten KPI an der Ausarbeitung der in ihren Grundzügen bis heute gültigen Nachkriegsverfassung des Landes. Eine Mehrheit der Italiener hat diese Magna Charta beim Referendum Ende 2016 verteidigt.
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