Die sechsjährige Nawal ist am Einschlafen, als sie plötzlich spürt, wie eine „riesige kalte und derbe Hand“ ihren Körper abtastet und eine andere „ebenso kalte und derbe Hand“ ihr den Mund zuhält. „Vielleicht hatte man mir die Augen verbunden“, erinnert sie sich. Wie hinter einem Schleier habe sie wahrgenommen, dass man sie ins Badezimmer trug, wo mehrere Personen durcheinander redeten.
Die hielt sie für Banditen, von denen die Großmutter sagte, sie würden ungezogene Mädchen bestrafen. Ein metallener Gegenstand wurde gewetzt. „Er näherte sich nicht meinem Hals […], sondern suchte in der Gegend meines Unterbauchs nach einer versteckten Sache zwischen meinen Schenkeln. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass meine Schenkel mit eisernem Griff maximal gespreizt wurden.“ Ein scharfes Metallteil habe ins Fleisch ihres Körpers geschnitten und einen Teil herausgerissen. „Trotz der Hand auf meinem Mund schrie ich, denn das war kein einfacher Schmerz, sondern eine qualvolle Flamme, die meinen ganzen Körper durchraste. Einen Augenblick später sah ich, dass ich bis zu den Hüften in Blut badete.“ Sie nahm nun auch ihre Mutter wahr, die den Fremden zulächelte, „als hätten sie nicht kurz zuvor versucht, ihre Tochter zu ermorden“. Während man Nawal ins Bett trug, sah sie noch, wie ihre zwei Jahre jüngere Schwester ins Badezimmer entführt wurde.
Es war eine moderne, durchaus aufgeklärte ägyptische Familie, die diese Klitorisbeschneidung der Töchter 1937 durchführen ließ. Die Schriftstellerin Nawal El Saadawi (1931-2021) – sie studierte in Kairo und New York Medizin – schildert ihre eigene Beschneidung in dem bei ZED Press 1977 in London verlegten Buch The hidden face of Eve. Dadurch erhielt ein größeres westliches Publikum erstmals Kenntnis von einem in vielen Teilen der Welt, besonders in Afrika, verbreiteten archaischen Brauch, mit dem die sexuelle Lust und Selbstbestimmung der Frau unterdrückt werden soll. Die oft schwere Gesundheitsprobleme nach sich ziehende Genitalverstümmelung gehört zu den furchtbarsten an Mädchen und Frauen verübten, Menschenrechte missachtenden Verbrechen. Bereits 1969 hatte El Saadawi ein Buch über diesen Horror in Beirut auf arabisch veröffentlicht: Al-mra’a wa-l-jins (Die Frau und die Sexualität). Es war verboten, ehe es im Westen registriert werden konnte. Die Autorin beschrieb darin sozialmedizinische Erfahrungen, die sie in dem ihr 1958 von der Regierung des Präsidenten Nasser (1954-1970) übertragenen Posten als Generaldirektorin des Amts für öffentliche Gesundheitserziehung sammeln konnte. In dieser Funktion hatte El Saadawi auch gegen die Beschneidung gekämpft, die im damaligen Ägypten an 97 Prozent der Mädchen aus Unterschichtfamilien ohne höheren Bildungsgrad vollzogen wurde.
Obwohl auch von Kopten – angeblich aus Reinheitsgründen – praktiziert, galt sie vor allem Muslimen als religiöses Gebot. Im Koran nicht erwähnt, zählte sie, anders als die männliche Beschneidung, nicht zu den Traditionen der ersten islamischen Stämme auf der arabischen Halbinsel. Deshalb argumentierte El Saadawi nicht nur aus gesundheitlichen und psychologischen Gründen gegen das archaische Ritual. Sie verwies zugleich auf eine außerkoranische Überlieferung des Propheten, wonach der ausdrücklich davon abriet. Nur weil Beschneidung im einst kulturell überlegenen Jemen praktiziert worden sei, habe er sich entschlossen, sie in mildester Form zu tolerieren.
El Saadawi widmete sich gleichfalls einem profunden historischen Überblick zur Geschichte der umkämpften und wechselhaften Stellung der ägyptischen Frauen von der Pharaonenzeit bis in die Gegenwart. Sie sorgte damit für eine der ersten feministischen Studien, die direkt aus der islamischen Welt kam. Dieser Pionierarbeit vergleichbar ist nur das Werk der Marokkanerin Fatima Mernissi. Ihren Blick richtete El Saadawi auch auf die westliche Welt, wo bis ins 19. Jahrhundert hinein Frauen ebenfalls gelegentlich beschnitten wurden. Später, so El Saadawi, hätten westliche Frauen weiterhin eine kulturell-psychologische Beschneidung erfahren, die sie an einer selbstbestimmten Sexualität gehindert habe. Es stand für sie außer Zweifel, dass volle weibliche Selbstbestimmung nicht allein durch kulturelle Aufklärung erreicht werde, sondern vorrangig durch gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Arbeitswelt.
Als sich Anwar El Sadat, Nassers Nachfolger als Präsident, auch auf islamistische Kräfte stützt, wird Nawal El Saadawi 1972 aus ihrem Amt gedrängt. Offizieller Grund: die Veröffentlichung der Schrift Die Frau und die Sexualität. Verboten werden ihre sämtlichen Publikationen, die von ihr geleitete Zeitschrift Health wie auch der Verein Ägyptischer Ärzte, dessen Co-Vorsitzende sie war. Sadat habe die sich entwickelnde Zivilgesellschaft zerstört, schrieb sie später, „Alles in diesem Land ist in den Händen des Staates, unter direkter oder indirekter Kontrolle. Sie findet statt durch teils offizielle, teils ungeschriebene Gesetze, die ihren Ursprung in der Tradition haben oder in der Angst vor einer seit Langem bestehenden und tief verwurzelten Autorität.“ Gemeint ist die islamische Tradition.
Damals wird El Saadawi zur weltweit bekannten Aktivistin. Sie publiziert Essays und belletristische Werke, in denen sie mit großem populärwissenschaftlichen Talent für die Rechte vor allem der ärmsten Frauen und gegen jedweden Obskurantismus eintritt. Im Auftrag der UNO leitet sie das Afrikanische Zentrum für die Ausbildung von Frauen in Äthiopien und berät die Weltorganisation bei ihren ökonomischen Studien für Westafrika. Als sie 1981 gegen das von Sadat durchgesetzte Einparteiengesetz demonstriert, wird sie verhaftet, kommt aber nach dessen Tod wieder frei und muss in der Regierungszeit des Präsidenten Mubarak immer wieder gegen das Verbot ihrer Arbeiten kämpfen.
Mit antiimperialistischem Furor verteidigt Nawal El Saadawi 1979 die Revolution im Iran trotz unübersehbarer Rückschritte für die Frauen. Für sie ist der „Kampf des iranischen Volkes gegen die Interessen der USA“ legitim. Diese Sicht relativiert sie bald und warnt, wie sie das zuvor schon getan hat: Werde der Islam durch reaktionäre Politik instrumentalisiert, raube ihm das die emanzipatorischen Züge, die ihn zum Auslöser antiimperialistischer Kämpfe gemacht habe. Zuversichtlich stimmt sie, dass seinerzeit islamische Länder wie Tunesien, Somalia und der Südjemen die Scharia-Gesetzgebung abschaffen, stattdessen Frauen und Männern gleiche Rechte bei Heirat, Scheidung und Erbrecht erhalten, Polygamie verboten und Abtreibung erleichtert wird.
2011 ist sie unter den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo. „Abd el Fattah El Sisi ist eine Million mal besser als die beiden früheren Präsidenten Sadat und Hosni Mubarak“, proklamiert sie 2018 in einem BBC-Interview. „Unter Sadat und Mubarak durfte ich nicht publizieren. Jetzt kann ich in Al Ahram und Al-Masry Al-Youm schreiben.“ Unter El Sisis Präsidentschaft gibt es wesentliche verfassungsrechtliche Verbesserungen im Geschlechterverhältnis. Hinsichtlich der ägyptischen Frauen scheint dieser Staatschef nicht der Diktator zu sein, für den ihn viele Europäer halten.
Nawal El Saadawis jahrzehntelange Kampagne gegen die weibliche Genitalverstümmelung blieb nicht erfolglos. Für Ägypten war es ein enormer Fortschritt, dass die Beschneidung der Klitoris von der höchsten islamischen Instanz, der Al-Azhar-Universität, 2008 verboten wurde und seither unter Strafe steht. Es zahlte sich aus, das Frauen- und Menschenrechtsorganisationen jahrzehntelang weltweit mit ihren Aufklärungsprogrammen dafür eingetreten waren. Allerdings existieren selbst in westlichen Ländern bis heute identitätspolitische Auffassungen, den auch von einigen Migrantengruppen praktizierten Brauch zu dulden. Erst 2013 wurde weibliche Beschneidung in der Bundesrepublik ein Straftatbestand.
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