1982: Ein inszenierter Schaumord verbreitet in Algerien Angst und Schrecken
Zeitgeschichte Als sich mit dem „Berber-Frühling“ eine säkulare Studentenbewegung Gehör verschafft, schlagen islamistische Fanatiker zurück und verüben an der Universität von Algier ein grauenhaftes Verbrechen. Das Land erfassen Angst und Terror
Kamal Amzal, 20, verblutete nach dem Angriff mit einem Säbel
Foto: ZVG
Der Dichter und Anthropologe Mouloud Mammeri war im April 1980 auf dem Weg nach Tizi Ouzou, um an der Universität der kabylischen Metropole einen Vortrag über alte berberische Lyrik zu halten. Als ihn Gendarmerie daran hinderte, begann als Reaktion darauf eine Wochen dauernde Volksbewegung für die Anerkennung der Kultur der Berber – die Nachkommen der Ureinwohner Nordafrikas. Ihre mit dem Arabischen nicht verwandte Sprache wurde in Algerien seinerzeit von etwa einem Drittel der Bevölkerung im Alltag gebraucht. Der „Berber-Frühling“ wandte sich gegen die seit der Unabhängigkeit von 1962 betriebene Zwangsarabisierung des öffentlichen Lebens.
Ein Flügel der Berber-Bewegung verfocht separatistische Ziele, ein anderer wurde zum Vorreiter
Vorreiter einer gesamtnationalen Demokratisierung. Seine Vertreter verlangten nicht nur Respekt vor der Berber-Kultur, sondern auch die Anerkennung der arabophonen Volkssprache, die gleichfalls unterdrückt wurde. Schließlich wollten der Panarabismus und der ihn zusehends ablösende Panislamismus ein dem Koran möglichst ähnliches Hocharabisch durchsetzen. Zwar machte die Einparteienregierung von Präsident Chadli Bendjedid einige Zugeständnisse, indem sie die Gründung eines Instituts zur Erforschung der Volkskulturen zuließ – aber ein Teil der Aktivisten landete im Gefängnis. Neben der Universität von Tizi Ouzou erwies sich auch die von Algier als ein Hotspot des Berber-Frühlings. In seinem Gefolge hatte sich in der Hauptstadt ein unabhängiges Studentenkomitee gebildet. Um politisch-organisatorische Aktivitäten zu tarnen, fungierte es als Gewerkschaft, die das studentische Leben außerhalb des Unterrichts verbessern wollte, indem sie gegenüber den Behörden über notwendige Reparaturen oder den Transport in die Studentenheime verhandelte.In Algier studierten auch viele arabophone und bereits dem Islamismus anhängende junge Leute. Sie forderten nicht nur, die häufig von Berberophonen belegten französischen Studiengänge abzuschaffen, sie fungierten auch als Sittenpolizei, verprügelten Liebespaare und versuchten, den Frauenschleier durchzusetzen, häufig indem sie Studentinnen in Sommerkleidern mit Salzsäure attackierten. Während die wichtigsten Akteure des Berber-Frühlings im Gefängnis saßen, hatten sich Islamisten ohne jede demokratische Legitimation des Studentenkomitees bemächtigt. Dies wollten die aus der Haft entlassenen Berber-Aktivisten durch Neuwahlen wieder rückgängig machen. Laut Ihsane El Kadi – heute einer der renommiertesten Journalisten Algeriens – waren die Islamisten damals in der Minderheit und hatten keine Chance, das Votum zu gewinnen.Öffentliche SchaumordeAm 2. November 1982 sollte ein Plakat, das zur Vollversammlung und Vorbereitung der Abstimmung aufrief, an verschiedenen Orten auf dem Uni-Gelände aufgehängt werden. Da freilich auf dem Campus viele Fremde gesichtet worden waren, was auf eine bevorstehende islamistische Attacke hindeutete, wurde beschlossen, die Plakatierung zu verschieben. Nur eine kleine Gruppe um El Kadi und dessen Freund Kamal Amzal – beide saßen ein Jahr im Gefängnis – konnte nicht mehr gewarnt werden.Noch ungefähr 30 weitere Studenten hielten sich im Foyer der Fakultät von Ben Aknoun auf, als die beiden das Plakat hineintrugen. Sie hatten es noch nicht aufgehängt, als zwischen 60 und 90 bewaffnete Islamisten durch den Eingang stürmten. Einer schlug Amzal auf die Hand, dem das Plakat entglitt. Dann wurde ein Säbel gezogen und die rituelle Tötung durch Schächten vollzogen. Ihr angebliches Ziel besteht darin, dass ein mutmaßlich vom Glauben Abgefallener gereinigt wird und doch noch das Paradies gewinnt. Auch andere Islamisten waren bewaffnet und verletzten noch 15 weitere Studenten, die jedoch mit dem Leben davonkamen. Auch El Kadi, der die andere Seite des Plakats gehalten hatte, konnte sich retten, der 20-jährige Kamal Amzal verblutete.Das theatralisch inszenierte, öffentliche Töten war der erste der sich bis Ende der 1990er Jahre stets von Neuem wiederholenden Schaumorde, mit denen nicht nur ein Gegner beseitigt, sondern die Gesellschaft eingeschüchtert und gefügig gemacht werden sollte. Das Verbrechen hatte zur Folge, dass die den Islamisten gegenüber bislang äußerst nachgiebige Staatsmacht alle Fakultäten durch die Polizei besetzen ließ. Rektor Slimane Cheikh verfügte die Schließung der Universitätsmoschee, die als Treffpunkt radikaler Muslime bekannt war und in der man Waffen gefunden hatte. Doch die Islamisten leisteten Widerstand. Der von seinem Studienaufenthalt in London zurückgekehrte Pädagogikprofessor Abassi Madani – sieben Jahre später der politische Kopf der Islamischen Heilsfront FIS – organisierte in den folgenden Tagen Studentendemonstrationen gegen die polizeiliche Besatzung des Campus von Algier.Am 12. November 1982 kam es vor der Zentralfakultät und in den umliegenden Straßen zum größten islamistischen Meeting, das Algerien bis dahin gesehen hatte. Slogans und Gebete der mit langen weißen Hemden bekleideten jungen Männer hallten die Hügel der Stadt empor. Man hörte sie bis zum Boulevard de Télemly, an dem ich damals wohnte. Es wurde ein Kommuniqué verlesen, in dem die Berber-Bewegung als Werk „der kommunistischen Internationalen, der Freimaurer, des Judentums, des amerikanischen Imperialismus und von deren Agenten“ denunziert wurde. Sie predige angeblich einen „rassistischen Kommunismus“ und „Baathismus“ – die damalige Ideologie der laizistisch ausgerichteten Einheitsparteien des Irak und Syriens.False-Flag-PropagandaDieses wirre Konglomerat von Behauptungen beschrieb das islamistische Denken. Alle als feindlich verschrienen Weltanschauungen der Moderne wurden auf eine Stufe gestellt, um sie zu verbieten und einen „Islamischen Staat“ oder ein „Kalifat Algerien“ zu errichten. Der Mord an Amzal wurde als Werk der Geheimdienste dargestellt, die rechtgläubige Muslime diskreditieren wollten. Hier fand sich bereits das Muster der False-Flag-Propaganda, auf die später bei islamistischen Anschlägen zurückgegriffen wurde, sofern sie nicht durch das Tragen von Uniformen von vornherein „unter falscher Flagge“ stattfanden.Zwar wurden die Organisatoren des Meetings verhaftet, neben Madani waren das die späteren FIS-Protagonisten Ali Benhadj und Abdellatif Soltani, aber in juristischer Hinsicht wurde das Blutbad nur als eine aus dem Ruder gelaufene Schlägerei unter jungen Algeriern behandelt. Die als Demokratin engagierte Richterin Leïla Aslaoui schrieb dazu in ihren Memoiren, dass die Rechtsprechung bereits stark vom Islamismus unterwandert gewesen sei. Der Präsident des mit dem Fall betrauten Kriminalgerichts habe Kollegen erklärt, Kamal Amzal habe sich mit dem Verbreiten „antimuslimischer Slogans“ provokativ aufgeführt. Auf Zeugenaussagen wurde weitgehend verzichtet. El Kadi, der sich sorgte, seine wiederaufgenommene, illegale politische Aktivität könnte entdeckt werden und ihn erneut ins Gefängnis bringen, meldete sich erst gar nicht als Zeuge. Fathalla Assoul, der Mörder Amzals, kam mit der Mindeststrafe von acht Jahren Gefängnis davon. Kamal Amzal war ein schöner junger Mann und ein brillanter Student gewesen. Er schrieb Gedichte und beherrschte Spanisch als Fremdsprache. Seine Ermordung – so El Kadi – habe eine ganze Generation von Demokratie-Aktivisten hervorgebracht. Kamal Amzals wird bis heute als des ersten Todesopfers islamistischer Fanatiker in Algerien gedacht. Seit 1995 darf Berberisch in den Schulen des Landes wieder gelehrt werden. 2002 wurde es – geschrieben mit altphönizischen Lettern – zur zweiten Nationalsprache, 2016 zur zweiten Amtssprache erklärt. Eine ähnliche Entwicklung gab es in Marokko, wo ungefähr die Hälfte der Bevölkerung Berberisch im Alltag spricht. Dass es sich hierbei um einen hart erkämpften, aber erheblichen Demokratisierungsschub handelt, wird im Westen nicht wahrgenommen.