Die am 5. Juli 1962 proklamierte Unabhängigkeit Algeriens beendet einen siebenjährigen brutalen Kolonialkrieg, der zur Zerreißprobe für Frankreich geworden ist. Ein Teil seiner Generäle, die bereits 1954 die historische Niederlage im vietnamesischen Dien Bien Phu schlucken mussten, schreckt in den letzten Jahren des Konflikts weder vor Putschversuchen gegen den verhandlungsbereiten Präsidenten Charles de Gaulle zurück, noch davor, durch die „Organisation de l’armée secrète“ (OAS) den Terror auch ins „Mutterland“ zu tragen.
130 Jahre lang ist in Paris Algerien als integrales nationales Territorium betrachtet worden, ohne den muslimischen Einwohnern je bürgerliche Rechte zuzugestehen. Anders als in den Nachbarkolo
achbarkolonien Tunesien und Marokko hatte man die algerische Feudalität enteignet und der Boden kam in den Besitz europäischer Einwanderer. Nur den seit dem 2. Jahrhundert in diesem Teil Nordafrikas nachweisbaren berberischen Juden waren 1870 die Bürgerrechte gewährt worden, weshalb sie sich in den Jahrzehnten danach sozial assimilierten. Der Aufstand, mit dem die Muslime dasselbe forderten, wurde 1871 niedergeschlagen. Noch 1962 haben nur zehn Prozent der Muslime eine Schule besucht. Weil sich die durch die OAS radikalisierten 800.000 Algerienfranzosen vor Racheakten fürchten, fliehen sie nach dem Unabhängigkeitskrieg fast vollständig nach Frankreich – mit ihnen 110.000 Juden, von denen 10.000 in Israel bleiben. 135.000 Muslime, die mit der Kolonialmacht zusammengearbeitet haben, fliehen ebenfalls. Um ihre soziale Integration müssen sie in Frankreich jahrzehntelang kämpfen.Der Weg zur Souveränität war nach den Verhandlungen zwischen der französischen Regierung und der Befreiungsbewegung „Front de Libération Nationale“ (FLN) in Evian offen und sollte demokratischen Charakters sein. Eine Übergangsregierung entsteht und wird von den heute fast vergessenen Politikern Benyoucef Benkhedda und Ferhat Abbas geführt, die als Kader der FLN für ein Mehrparteiensystem stehen. Als am 9. September 1962 der bis dato unbekannte Colonel Houari Boumédiène von Tunesien her mit sowjetischen Panzern nach Algier zieht, wird deutlich, dass Algerien trotz erklärter Blockfreiheit künftig eng mit dem Ostblock verbunden sein wird. Boumédiène überlässt die Macht in der am 25. September verkündeten Demokratischen Volksrepublik Algerien zunächst dem charismatischen Ahmed Ben Bella und übernimmt selbst das Amt des Verteidigungsministers. Während Ben Bella auf der Welle der internationalen Solidarität für den algerischen Befreiungskampf schnell zu einer populären Führungsfigur der Blockfreien aufsteigt, eskalieren die Zustände im Inneren. Rivalisierende politische Bewegungen sprengen die im Unabhängigkeitskampf geschlossen agierende FLN. Besonders die politisch von Hocine Aït Ahmed geführte Kabylei als Enklave der Berber widersetzt sich dem von Ben Bella proklamierten Panarabismus und verlangt politische wie kulturelle Freiheiten innerhalb eines föderalen Systems. 1963 rebelliert die Kabylei, wird aber militärisch niedergehalten. Im gleichen Jahr kommt es zum bewaffneten Grenzkonflikt mit Marokko, das den algerischen Unabhängigkeitskampf eben noch solidarisch unterstützt hat.Am 19. Juni 1965, drei Tage nachdem die Presse eine Übereinkunft zwischen Ben Bella und Aït Ahmed bekanntgegeben hat, holt Boumédiène zum Staatsstreich aus, um das Land bis zu seinem Tod Ende 1978 als Einparteienstaat zu führen. Aït Ahmeds sozialdemokratisch orientierte „Front des Forces Socialistes“ (FFS) und nun auch die KP Algeriens finden sich samt ihrer Jugendverbände gewaltsam in den Untergrund gedrängt. Was unter „algerischem Sozialismus“ zu verstehen ist, bestimmt allein die Staatspartei FLN. Da das Land über keine kapitalkräftige Bourgeoisie verfügt, können Entwicklung und Prosperität nur zu errichtenden Staatsunternehmen zu verdanken sein. Die 1971 nationalisierte Erdölförderung soll dafür die nötigen Finanzen erwirtschaften. Sie muss zudem dafür aufkommen, die alte Feudalelite zu entschädigen, die 1962 ihre Ländereien wieder in Besitz genommen hat. Gedacht ist an eine moderne sozialistische Landwirtschaft, die auch den 1962 auf herrenlosem Land entstandenen Volksgütern zu höherer Produktivität verhilft.Aber es kommt anders. Trotz spürbar verbesserter Lebensverhältnisse ist ein Großteil der Bevölkerung den Herausforderungen umfassender Vergesellschaftung nicht gewachsen. Der Durchschnittsalgerier träumt von lukrativen Kleinunternehmen. Von außen werden die Nationalisierungen nicht nur vom Westen angefeindet, sondern auch von den Golfmonarchien. Sie schleusen über religiöse Vereine große finanzielle Mittel in den Bau von Moscheen.Die Imame erklären die sozialistische Wirtschaftsweise und die Gleichberechtigung in der Familie für durchweg gottlos. So toben schon in den 1970er-, mehr noch den 1980er- Jahren vermehrt Straßenkämpfe zwischen stark religiösen Jugendlichen und Altersgefährten, die weiter für eine säkulare und progressive Perspektive eintreten. Auch die ausgebliebene Anerkennung der Berber-Kultur führt zu schweren Konflikten. So entschließt sich Boumédiènes Nachfolger Chadli Benjedid zu Kurskorrekturen, indem die Kollektivierung der Landwirtschaft zurückgefahren, die bis dann dahin stark reglementierte Gründung von Privatunternehmen erleichtert und das Vereinswesen soweit liberalisiert wird, dass Menschenrechtsverbände entstehen können. Ein Preissturz bei Erdöl auf zehn Dollar pro Barrel erzwingt, dass die noch lange nicht rentabel arbeitenden Staatsbetriebe ebenfalls gestutzt werden. Schließlich führt eine massive Verelendung in den Großstädten 1988 zu einem Jugendaufstand, der gewaltsam niedergeschlagen wird. Doch findet eine sich aus ihren Fesseln befreiende Zivilgesellschaft in der Presse zahlreiche Verbündete, die es wagen, das Foltern festgenommener junger Algerier zu skandalisieren. Was folgt, ist eine grundlegende politische Neuausrichtung. Noch 1988 wird der Führungsanspruch der FLN gekippt und der Weg zum Mehrparteiensystem wie zur Pressefreiheit geebnet.Der Ansatz zu einer eigenständigen demokratischen Selbstkorrektur passt freilich nicht in die vom Westen nach 1989 initiierte Demokratiestrategie, wonach Länder nur kreditwürdig sind, wenn sie sozialstaatliche Subventionen kürzen und günstige Bedingungen für in- und ausländisches Kapital schaffen. Da in Algerien eine solche Agenda – mit Rückendeckung der Golfstaaten – von islamistischer Seite formuliert wird, sperren sich die mittlerweile selbstbewusstere Zivilgesellschaft, Teile des Staatsapparates und die Armee entschieden dagegen. Das Land stürzt in einen erneut opferreichen, fast zehn Jahre dauernden Bürgerkrieg, in dem islamistische Akteure auch von westlichen Staaten unterstützt werden.In den USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland können sich Netzwerke einer radikalislamischen Exilregierung als „authentischer Ausdruck des algerischen Volkes“ etablieren. Ihr Aktionsradius wird erst Mitte der 1990er-Jahre hauptsächlich durch die USA eingeschränkt. Diese fühlen sich durch international agierende, antiwestlich eingestellte Islamisten wie Osama bin Laden bedroht, der auch algerischen Afghanistan-Kämpfern zur Heimkehr verholfen und diese massiv subventioniert hat.Obwohl die Armee 1995/96 in Algerien die Oberhand gewinnt, kann der Bürgerkrieg erst vier Jahre später beendet werden. Und das auch nur durch einen Kompromiss, der das islamistische Lager mehr begünstigt als die Familien seiner Opfer, die für eine demokratische Modernisierung eingetreten sind. Außerdem wird die Wirtschaft weitgehend liberalisiert, auch wenn bis heute alle Regierungen an sozialstaatlichen Errungenschaften festhalten und eine Dominanz ausländischen Kapitals abwehren. Es ist einer mächtigen Volksbewegung zu verdanken, dass daran bisher nicht gerüttelt wird.