Am Volk vorbei

Algerien Trotz Wahlboykott und Wahlfarce hat das Land einen neuen Präsidenten
Ausgabe 51/2019
Protestierende umgeben von Sicherheitskräften bei einer Anti-Regierungs-Demonstration in Algier. Auf dem Schild steht in arabischer Schrift „Nein“
Protestierende umgeben von Sicherheitskräften bei einer Anti-Regierungs-Demonstration in Algier. Auf dem Schild steht in arabischer Schrift „Nein“

Foto: Ryad Kramdi/AFP/Getty Images

Als „Pseudoalgerier, Verräter, Perverse und Söldner“ hat Innenminister Salah-Eddine Dahmoune den „Hirak“ beschimpft, die landesweite Bürgerbewegung, die seit Februar gegen diese Präsidentenwahl ohne vorherige Transition aufbegehrt hatte. Dahmoune stieß besonders in den sozialen Medien auf scharfe Kritik. Schließlich sieht sich der „Hirak“ als legitime Volksvertretung und macht dem Staat den Bezug auf revolutionäre Traditionen der antikolonialen Befreiung streitig.

In Zeiten einer allein regierenden Staatspartei FLN hätte man sich gefreut, unter fünf Kandidaten für das Präsidentenamt wählen zu können, 2019 jedoch will sich eine Mehrheit nicht damit abfinden, dass alle fünf Bewerber zur Entourage von Ex-Präsident Bouteflika zählten. So gab es am Wahltag, dem 12. Dezember, inmitten enger Polizeispaliere und unter knatternden Hubschraubern volksfestartige Großdemonstrationen. Zwei Tage zuvor hatte es die Wahllaune nicht angefacht, dass der Korruptionsprozess gegen zwei ehemalige Premierminister, Ahmed Ouyahia und Abdelmalek Sellal, Ex-Minister und Unternehmer zu Ende ging. Man empfand das als billiges Manöver, was auch die Anwälte der Beschuldigten unterstrichen. Sie boykottierten das Verfahren, weil es an Zeit fehlte, sich mit den Akten zu befassen. Dennoch wurde Ouyahia zu 15 und Sellal zu zwölf Jahren Haft verurteilt, die zwei Ex-Minister Mahdjoub Bedda und Youcef Yousfi zu zehn und der flüchtige Industrieminister Abdeslam Bouchouareb sogar zu 20 Jahren.

Als am 7. Dezember die Auslandsalgerier wählen konnten, hatte sich eine Berliner „Hirak“-Gruppe vor der algerischen Botschaft eine effektvolle Performance ausgedacht: Ein mit offiziellen Parolen Werbender schwenkte eine transparente Wahlurne, in die Abbilder der algerischen Flagge geworfen wurden. Weil solche Aktionen auch für den 12. Dezember im Land selbst zu erwarten waren, insistierten die Staatsmedien immer wieder, es sei zwar das Recht der Bürger, nicht zu wählen, aber rechtswidrig, andere am Wählen zu hindern. In den zum Ritual gewordenen Dienstagsmarsch hatten sich am 10. Dezember viele ältere Männer und Frauen gemischt, weshalb das Ganze umfangreicher als gewöhnlich ausfiel, auch entschlossener. „Eure Wahlen haben keine Bedeutung für uns!“, wurde skandiert.

Einem Aufruf zum Streik waren gut zwei Drittel der Ladeninhaber in Algiers Zentrum gefolgt. Zugleich zeigte das Staatsfernsehen am Wahltag von früh bis spät Aufnahmen aus Wahlbüros. Dass diese teilweise leer waren, blieb nicht verborgen. Über französische Sender verbreitete Videos zeigten, dass in der Kabylei Jugendliche Wahlurnen entwendet und ihren Inhalt dem Wind überlassen hatten. In dieser Region dürfte die Beteiligung gegen null tendiert haben. Offiziell lag sie landesweit bei etwa 40 Prozent, sie war im Süden und Westen höher als im traditionell rebellischen Osten.

Mit 58 Prozent setzte sich Abdelmadjid Tebboune als neuer Präsident durch, ein langgedienter Funktionär der FLN, Premier zwischen Mai und August 2017. Tebboune war als Parteiloser mit dem Versprechen angetreten, illegale Vermögen aus dem Ausland zurückzuholen. Für den „Hirak“ war er trotzdem tabu, schon weil sein Sohn in den Schmuggel von 700 Kilo Kokain verstrickt sein soll, das im Hafen von Oran entdeckt wurde. So brandete der „Hirak“ am Tag nach der Abstimmung nochmals auf, als „Tebboune – Kokain“ gerufen wurde.

Dem Wahlsieger blieb nichts weiter übrig, als in seiner ersten Rede als designierter Staatschef auf den „Hirak“ einzugehen. Er kündigte an, in seiner Regierung werde es junge Leute um die 30, zudem viele Frauen geben. Die Arbeit an einer neuen Verfassung sei die Sache aller Algerier. Wirklich? Ob sich die Hoffnung für mehr ökonomische Teilhabe erfüllt, ist fraglich. Es ist der globalisierte Neoliberalismus, der in Ländern wie Algerien eine kapitalistische Primärakkumulation entfesselt. Sie ist für die Mächtigen eine ständige Versuchung, sich allein ihm zu unterwerfen.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden