Arabischer Herbst

Tunesien Bringt die Delta-Variante die Demokratie zu Fall?
Ausgabe 30/2021
In vielen Städten wird demonstriert
In vielen Städten wird demonstriert

Foto: Fethi Belaid/AFP/Getty Images

Bringt die Delta-Variante die tunesische Demokratie zu Fall? Dass im Vorjahr nahezu touristenfreie Monate anstanden und derzeit ein Corona-Ausbruch schwer zu schaffen macht, gleicht für das vom Fremdenverkehr abhängige Land einer Katastrophe. Verglichen mit 2020 ist das Bruttosozialprodukt nochmals um 8,2 Prozent geschrumpft, sodass eine registrierte Arbeitslosigkeit von 17 Prozent kaum verwundern kann. Realiter dürfte sie viel höher sein.

Die Regierung hat es nicht vermocht, für genügend Impfstoff zu sorgen. Die Folge ist eine aktuell sieben Mal höhere Inzidenz als im Nachbarland Algerien. Weil es für schwer Erkrankte an Sauerstoff fehlt wie an Betten in den Hospitälern, sind die Ärzte zur Triage gezwungen. Eine Mehrheit der Bürger sieht in der Misswirtschaft und einem schlechten Management der Regierenden den maßgeblichen Grund dafür, dass die Pandemie derart um sich greift. Seit Tagen wird deshalb in vielen Städten demonstriert, es gibt die schwersten Zusammenstöße mit Ordnungskräften seit dem Arabischen Frühling von Anfang 2011.

In dieser Lage hat sich Präsident Kaïs Saïed auf Artikel 80 der Verfassung berufen, der es ihm bei extremer Gefahr erlaubt, die exekutive Macht an sich zu ziehen und mithilfe der Armee durchzuregieren. Dass seit dem 25. Juli die Regierung abgesetzt und die Arbeit des Parlaments für einen Monat eingefroren ist, wirft die naheliegende Frage auf, ob der Staatschef völlig verfassungskonform handelt. Man kann Saïed sicher zugutehalten, dass er einen monatelangen Kampf mit Premier Mechichi beenden wollte, der wiederum mit Gesundheitsminister Faouzi Mehdi in Dauerfehde lag.

Saïed hat nun die Pandemieabwehr der Armee übertragen, er kann sich auf Sauerstoffspenden anderer Ländern stützen – darunter sogar aus Ägypten – und lässt damit Gebiete versorgen, die bislang vollkommen leer ausgingen. Teilweise mussten dort Patienten wegen fehlender Krankenhauskapazitäten auf öffentlichen Plätzen behandelt werden.

Schon zeichnet sich eine Zerreißprobe ab, und das vor einem brisanten Hintergrund. Rached al-Ghannouchi – Chef der islamistischen Ennahda-Partei, die bisher die meisten Minister und Abgeordneten stellte – erklärt die durch eine humanitäre Notlage provozierte politische Notlösung zum Staatsstreich, der die 2011 errungene Demokratie unterlaufe. Ähnliche Kommentare liefern westliche Medien, die sich darauf versteift haben, Tunesien als „einzigem Land des Arabischen Frühlings“ den erfolgreichen Aufbau einer Demokratie zu bescheinigen. Dass sich Islamisten als deren Verteidiger aufspielen, wird auch jetzt nicht als Widerspruch wahrgenommen. Nur offenbaren eben die seit 2011 akut verschlechterten wirtschaftlichen Zustände, dass eine formale Implantation des westlichen Demokratiemodells keine Wohlstandsperspektive bietet.

Chokri Ben Nessir, Direktor von La Presse de Tunisie, findet, dass die Tunesier nicht um eine Demokratie bangen sollten, die ihnen ein Jahrzehnt lang nichts gebracht habe. „Der Kampf um die Demokratie muss fortgesetzt werden, aber mit einer neuen, realistischeren Vision und Herangehensweise, die den Alltag der Bürger durch konkrete, vor allem spürbare Maßnahmen verbessert.“ So schaukelt sich ein Machtkampf hoch, bei dem Islamisten gegen den Präsidenten stehen und laizistische Bürger für ihn sind. Kaïs Saïed hat dem Land mit Verve versprochen, dass er die Demokratie schützen wolle.

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