Hat sich nicht jeder schon einmal einen Präsidenten gewünscht, den es auch in der Metro oder im Café an der Ecke treffen kann? Fast 73 Prozent der tunesischen Wähler ist es in der Stichwahl am 13. Oktober gelungen, sich diesen Traum zu erfüllen. Der keiner Partei oder Organisation angehörende 61-jährige Juraprofessor und Verfassungsrechtler Kaïs Saïed, den die Medien keineswegs favorisiert hatten und der über kein festes Wahlkampfteam verfügte, sicherte sich schon im ersten Wahlgang am 15. September unter 26 Bewerbern den Spitzenplatz. Den hatte man allenfalls dem Medienmogul Nabil Karoui zugetraut, der seinen Fernsehkanal zur Propaganda für einen konsumorientierten Charity-Kapitalismus zu nutzen wusste. Karoui saß zwar wegen des Verdachts, in einen Geldwäscheskandal verwickelt zu sein, in Untersuchungshaft, war aber mit dem Präsidentenvotum auf freien Fuß gesetzt worden und erreichte Rang zwei. Im Stechen jedoch kam Karoui auf nicht einmal halb so viel Stimmen wie Kaïs Saïed.
Dieser hatte Wahlkampf in einem völlig anderen Stil als seine Konkurrenten geführt. Er verzichtete demonstrativ auf öffentliche Gelder. Sein Büro stand nicht nur für Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Medien offen. Jedweder Bürger konnte sich unter die Wartenden begeben und in der Regel mit einem Gespräch rechnen. Aufsehen hatte Saïed besonders damit erregt, dass er von Café zu Café zog, um junge Leute nach ihrer Meinung über die herrschenden Zustände und nach ihren Zukunftsvorstellungen zu fragen. „Euer Programm wird mein Programm sein!“, so Saïed, der bewusst auf einen detaillierten eigenen Katalog der Forderungen verzichtet hatte. Außer, dass er Korruption und Armut bekämpfen und die Jugend fördern wolle, war nichts Genaues über seine Absichten bekannt. Dennoch hat gerade das offenkundig überzeugt, über die sozialen Medien wurde massiv für ihn geworben. Die Bekanntgabe des Wahlergebnisses löste denn auch ein von jungen Tunesiern angefeuertes Volksfest aus.
Sieht man in Saïed den Typus einer anderen Spielart des Populismus, wie ihn Karoui verkörpert, ist das zu kurz gegriffen. In ihrer Strahlkraft nicht zu überschätzen sind Saïeds Pläne, die Macht im Land zu dezentralisieren. Die kommunalen Deputierten in den Provinzen sollen nach seiner Vorstellung auch während einer Legislaturperiode abwählbar sein, sofern es ihnen nicht gelingt, gesteckte Ziele mit Leben zu erfüllen. Würde dies wirksam, wäre Tunesien ein Pionier, um im nordafrikanischen Raum die Demokratie von ihrem Dämmerzustand zu erlösen.
Dem steht allerdings entgegen, dass die Macht eines Staatsoberhauptes in Tunesien eingeschränkter ist als etwa in Algerien oder Ägypten. Über eine für die Jugend entscheidende Reform des Arbeitsmarktes, über die für arme Regionen wichtige Gebietsreform und über einen grundsätzlichen Rückgriff auf imperative Mandate entscheidet das Parlament. In den auf den 6. Oktober gelegten Legislativwahlen erlangte die als gemäßigt islamistisch geltende Partei Ennahda mit 52 von 217 die meisten Parlamentsmandate, die freilich bei Weitem nicht ausreichen, um viel ausrichten, womöglich allein regieren zu können. Qalb Tunes (das Herz Tunesiens), die Partei von Nabil Karoui, ist mit 32 Sitzen zur zweitgrößten Fraktion aufgestiegen, gefolgt von der Demokratischen Allianz mit 22 Abgeordneten. Das heißt, die Bildung einer Regierungskoalition dürfte eher schwierig und langwierig sein, sodass Kaïs Saïed vorerst nicht weiß, mit welchem Kabinett er rechnen muss. Festzustehen scheint allein, dass Rached al-Ghannouchi, langjähriger Vorsitzender von Ennahda, gute Aussichten hat, Parlamentspräsident zu werden.
Imperative Mandate in Lokalparlamenten einzuführen, wie das dem neuen Staatschef vorschwebt, das wird sich unter einer von Ennahda geleiteten Regierung kaum durchsetzen lassen. Andere Positionen Kaïs Saïeds dürften dagegen mit denen von Ennahda kompatibel sein. So gilt er als Gegner einer von der tunesischen Zivilgesellschaft in den vergangenen Jahren immer wieder in die Debatte gebrachten Gleichberechtigung der Frauen im Erbrecht. Womit der letzte Schritt zur vollkommenen gesetzlichen Emanzipation getan wäre. Wie die Islamisten argumentiert auch Saïed: Die Frage, ob Frauen ebenso viel oder nur halb so viel wie Männer erben, sollte den Familien überlassen bleiben.
Des Weiteren spricht er sich zwar dafür aus, dass Homosexualität „weitgehend“ straffrei sein soll. Doch will er den entsprechenden Paragrafen im tunesischen Strafrecht nicht streichen und das Recht, diese sexuelle Präferenz in der Öffentlichkeit zu manifestieren, weiterhin einschränken. Andererseits war Saïed mit dem Arabischen Frühling 2011 als einer der Wegbereiter für eine gründlich renovierte Verfassung in Erscheinung getreten. Auf jeden Fall ist zu erwarten, dass dieser Präsident einen Dammbruch islamistischer Wertvorstellungen verhindert. Er gilt als aufrichtiger Verfechter einer Magna Charta, die er als Vermächtnis der Jahre eines demokratischen Wandels schätzt.
Saïeds erster offizieller Auslandsbesuch soll ins Nachbarland Algerien führen, das Tunesien bedeutende Hilfen auf ökonomischem und militärischem Gebiet zukommen lässt. Für die dortige Volksbewegung, die ebenfalls nach politischen Formen sucht, die über das bestehende System hinausgehen, stellt er schon jetzt ein hoffnungsvolles Beispiel dar. Der Zeichner Hic veröffentlichte ein Karikatur, die einen kleinen tunesischen Präsidenten zeigt, der den faktisch regierenden algerischen Führungskadern von Militär und Polizei die Fahne seines Landes entgegenträgt.
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