Anfang des Jahres präsentierte der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein in Kiel eine Ausstellung mit Fotos, die auf dem Freitagsmarkt El Aljuma in Tripolis entstanden waren. Sie zeigten sowohl Flüchtlinge als auch Einheimische beim Tausch jämmerlichster Altwaren und offenbarten das erschütternde Elend auch der autochthonen Bevölkerung. Derartiges kannte man bis dahin nur von Aufnahmen aus arabischen Ländern vor dem Zweiten Weltkrieg oder allenfalls aus dem Jemen. Bei diesen Menschen kommt anscheinend seit Langem nichts mehr von den Öleinnahmen an, wie sie der Tripolis beherrschenden und durch die Vereinten Nationen anerkannten Regierung des Premiers Fayiz as-Sarradsch zufließen.
Tatsächlich landen die Petrodollars vorzugsweise bei Milizen, um Waffenkäufe zu bezahlen und der von General Chalifa Haftar geführten Libyschen Nationalarmee (LNA) standzuhalten. Diese dominiert den Osten und Süden des Landes, hat zudem Städte im Westen erobert und belagerte die Hauptstadt. Ob Haftar Tripolis gewaltsam einnehmen wollte, blieb offen. Bekannt war, dass er dem Gros der dort in Milizen organisierten Libyer anbot, die Waffen niederzulegen und sich ihm anzuschließen, wie das in anderen Regionen bereits geschehen ist. Dass ein solcher Übertritt nie zustande kam, war vermutlich darauf zurückzuführen, dass sich die im Großraum Tripolis stehenden Kontingente vorzugsweise aus islamistischen Kämpfern anderer Länder rekrutierten.
Gefüllte Kriegskassen
Spätestens seit April liegt nun die militärische Initiative bei diesen Formationen, die inzwischen bereits als Armee bezeichnet werden. Der offenkundig in Bedrängnis geratene Haftar reagiert darauf, indem er einen Waffenstillstand und Verhandlungen anbietet, sekundiert von seinem Hauptverbündeten, dem ägyptischen Präsidenten Chalil as-Sisi. Der verlangt nach wie vor, dass für eine dauerhafte Feuerpause vor allem nicht libysche Kombattanten zu entwaffnen seien, worauf as-Sarradsch nicht eingehen will.
Hat sich das militärische Kräfteverhältnis zu seinen Gunsten verschoben, dann weil das von der UNO verhängte, auf den Libyen-Konferenzen in Moskau und Berlin zu Jahresanfang von vielen Staaten bekräftigte Waffenembargo umwirksam bleibt. Vorrangig die Türkei hat daran Anteil, wenn sie zuletzt ein komplettes Raketenabwehrsystem an die Regierung as-Sarradsch lieferte. Doch betraf dieser Transfer übers Mittelmeer nicht nur Defensivwaffen, ebenso Ausrüstungen für Angriffsoperationen und – nach eigenen Angaben – Soldaten und Berater. Bislang nicht verifiziert sind Berichte, wonach Haftar im Mai seinerseits mindestens sechs russische Jagdflugzeuge des Typs MIG 29 und zwei Düsenjets vom Typ Suchoi 24 erhalten hat, die aus Syrien kamen und syrische Hoheitszeichen trugen.
Bei Operationen der Nationalarmee wurden diese Maschinen jedenfalls noch nicht gesichtet, wohl aber die zur Unterstützung von as-Sarradsch nach Libyen geschickten und von türkischen Militärs logistisch geführten Offensivwaffen. Damit konnten die Streitkräfte der Regierung in Tripolis binnen Kurzem Städte im Westen Libyens zurückerobern. Gegenwärtig marschieren sie in Richtung der strategisch bedeutsamen Stadt Sirte, dem wichtigsten Umschlaghafen für die Ölausfuhren. Dass der Export libyschen Erdöls wegen der Corona-Krise um 97 Prozent zurückgegangen ist, dürfte die Manövrierfähigkeit der beiden Konfliktparteien nicht unmittelbar beeinflussen. Deren Kriegskassen sind bestens gefüllt. Es ist ein Paradox dieses Konflikts, dass man sich die Öleinkünfte weiterhin teilt.
Erkenntnisse über die Lebenssituation der am meisten benachteiligten, vom Krieg geschädigten Libyer, wie sie dank der Ausstellung in Kiel möglich waren, erreichen die hiesige Öffentlichkeit seltener als Berichte aus anderen Krisengebieten. Obwohl der libyschen Bevölkerung 2011 vollmundig versprochen wurde, dass sie nach dem Sturz von Staatschef Muammar al-Gaddafi selbstbestimmt leben könne, war sie nie fremdbestimmter als jetzt. Die Menschen sind einer Verelendung ausgesetzt, die sie zuvor nie gekannt haben.
Chronik des Desasters
2011 Von NATO-Staaten durch Luftangriffe unterstützt, kann eine Rebellenarmee aus der Cyrenaika im Osten Staatschef Gaddafi stürzen, der am 20. Oktober bei Sirte gelyncht wird.
2012 Allgemeine Wahlen gewinnt eine säkulare Allianz der Nationalen Kräfte, doch kann sie gegen den Widerstand islamistischer Parteien keine Regierung bilden. Das Land zerfällt, wird international zusehends als „failed state“ wahrgenommen.
2016 Fayiz as-Sarradsch bildet mithilfe der UNO und der EU in Tripolis eine Regierung der Nationalen Einheit, die aber vom Parlament in Tobruk wie General Haftar, dem Machthaber der Cyrenaika, nicht anerkannt wird.
2019 Chalifa Haftar hat seine Nationalarmee (LNA) reorganisiert, große Teile des Südens eingenommen und beginnt mit dem Marsch auf Tripolis, um as-Sarradsch zu vertreiben und das Land wieder zu einen.
Spielball fremder Mächte
Seit gut einem Jahrzehnt nun schon wird das Land zum Spielball fremder Mächte, die größtenteils auch noch untereinander konkurrieren. Zu nennen wären etwa Italien und Frankreich, die sich Zugriffsrechte auf libysches Öl streitig machen. Anderen europäischen Ländern wie Deutschland geht es eher um geostrategischen Einfluss in einem Brückenland nach Afrika, das unter Gaddafi bestrebt war, einen eigenständigen Block regionaler Länder zu begründen. Libyen wieder stärker in seinem Umfeld einzubinden, anstatt es der Europäischen Union anzunähern, scheint auch Chalifa Haftars Ziel zu sein. Medial wird allerdings nur vermittelt, dass der Einfluss Russlands in Libyen zurückgedrängt werden müsse.
Es gibt ein weiteres, öffentlich kaum verhandeltes Motiv, weshalb die Regierung von as-Sarradsch unterstützt wird. Die in dessen Milizen stehenden nicht libyschen Islamisten, die bereits in anderen Teilen Arabiens wie auch des Kaukasus gekämpft haben, möchte Europa ebenso wenig als Asylanten aufnehmen wie die dschihadistischen Kader, die von der syrischen Armee in die Provinz Idlib abgedrängt wurden.
Daraus erklärt sich auch, weshalb Präsident Erdoğan mit Billigung der EU wie der NATO nicht nur in Nordsyrien, sondern ebenso in Libyen aktiv werden darf. Und das, obwohl seine Regierung in Brüssel wie in Berlin permanent dafür gerügt wird, Menschenrechte zu verletzen und demokratische Standards im eigenen Land zu missachten. Die inhumanen Praktiken, wie sie as-Sarradschs Milizen gegenüber den zahlreichen, in Libyen gestrandeten Flüchtlingen aus der Sahelzone anwenden, hat die Partei Bündnis 90/Die Grünen dazu gebracht, einem bereits vage erwogenen militärischen Engagement der Bundeswehr bei einer Libyen-Mission eine Absage zu erteilen.
Noch ist nicht entschieden, ob sich die militärische Wende verfestigt und für die Rückkehr zu mehr libyscher Staatlichkeit von Vorteil ist. Wozu die momentane Situation auch immer führt: Es wäre prioritär, dass für die Bevölkerung wenigstens die Aussicht besteht, sich wieder normalen Lebensverhältnissen annähern zu können. Auch die Nachbarländer Tunesien und Algerien wünschen sich nichts sehnlicher als eine legitimierte libysche Autorität, die als verlässlicher Ansprechpartner in Betracht kommt. Wie sich in Afghanistan Regierung und Taliban arrangiert haben – so fragil die dort gefundenen Übereinkünfte auch sein mögen –, sollte es in Libyen vergleichbare Vereinbarungen geben. Insbesondere der EU-Diplomatie müsste daran gelegen sein, dass es dazu kommt. Ungeachtet dessen, was die Konfliktparteien davon halten.
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