Chaos und Profit

Libyen Warum leistet sich Europa vor seiner eigenen Haustür einen gescheiterten Staat?
Ausgabe 05/2019

Was Venezuela wohl bevorsteht, hat der „Failed State“ (gescheiterter Staat) Libyen schon seit 2015: eine laut Medien „international anerkannte Regierung“, die niemand gewählt hat. Dass sie von den UN zusammengestellt wurde, hat ihr kein Prestige eingebracht: Fayiz as-Sarradsch versucht, von einem Schiff im Hafen von Tripolis aus zu regieren. Aber er kontrolliert nicht einmal die Hauptstadt.

Auch der Flugplatz befindet sich in der Hand von Milizen. Eine davon bestimmt, wer ins Land hinein- oder hinausdarf. Milizen kontrollieren auch die Banken, die den Bürgern manchmal gar nicht, manchmal nur geringste Summen abzuheben erlauben. Strom steht nur stundenweise zur Verfügung. Rationiert ist auch das Benzin, das importiert werden muss, weil es im Land keine Raffinerien gibt. Und das, obwohl der Erdölexport weiterhin floriert und märchenhafte Einnahmen generiert.

Märchenhafte Zinseinkünfte fließen aus dem im Ausland liegenden Guthaben des ehemaligen Gaddafi-Staates – ohne dass jemand genau sagen könnte, wohin. Manche sagen: in die Black Boxes der Milizen. Diese machen sich gegenseitig Konkurrenz. Im September 2018 marschierte eine externe Miliz in einige Viertel der Hauptstadt ein, um eine Schlacht „gegen die Korruption und die Diebe öffentlicher Gelder“ zu eröffnen, was aber keine nachhaltige Veränderung brachte.

Dass sich Europa diesen Failed State vor seiner Nase erlaubt, erstaunt wenig, da die alte Kolonialmacht Italien und auch Frankreich vom Chaos profitieren. Sie haben gegenwärtig offenbar kein Interesse daran, es zu beheben. Dorthin gelangen die größtenteils nicht registrierten Erdölexporte, von dort kommt das Benzin und dort sind wohl die alten Devisenreserven Gaddafis gebunkert.

Dass man sich wegen des Flüchtlingsproblems weniger Sorgen macht als öffentlich zugegeben, wird daran deutlich, dass man sich stets nur Fragen zur zum Mittelmeer hin offenen Grenze stellt, nicht aber zu den offenen Grenzen im Sandmeer der Sahara, womit den mit Menschen handelnden Milizen und Clans freie Hand bleibt.

Unter den libyschen Bürgern selbst hat die Auffassung um sich gegriffen, dass das aktuelle Chaos zahlloser rivalisierender Mächte für sie noch unvorteilhafter ist, als es die Herrschaft Gaddafis war. Dass man nach dessen Sturz auch die Funktionsträger in Behörden und Staatsbetrieben mitunter durch völlig unqualifiziertes Personal ersetzte, gilt als großer Fehler. 2012 hatten die Libyer bei den ersten Wahlen die Muslimbrüder gewählt. Weil sich deren Ideen nicht mit dem eigenen toleranten Sufi-Islam vertrugen, wurden sie 2014 abgewählt. Seitdem bilden sie die stärkste Fraktion der Milizen, in Konkurrenz zu salafistischen Milizen, die unter Gewaltandrohung durchsetzten, dass es kein gesetzliches Mindestheiratsalter für Frauen mehr gibt, in den Schulen Geschlechtertrennung eingeführt wurde und Imame predigen, dass Frauen nicht arbeiten gehen sollen.

Hoffnungsträger ist Khalifa Haftar, der – unterstützt von Ägypten – im Osten und im Zentrum eine Armee aufbaut, die der Stützpfeiler eines neuen Zentralstaats werden will.

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