Der Erfolg der Terrorakte vom 11. September ist überwältigend. Sie haben die Weltwirtschaft in eine Rezession getrieben, deren Ende nicht absehbar ist, einen Krieg und planetare Debatten um den Zustand der Welt ausgelöst, die vordem undenkbar waren. Und das alles, ohne dass sich irgendjemand als Täter direkt zu erkennen gab oder ein Programm verkündet hätte. Von Islamisten müsste man annehmen, dass sie offiziell den Djihad ausrufen. Nichts dergleichen ist geschehen. Über die Hintergründe der Tat ist nicht wirklich etwas herauszubekommen. Wofür das Schweigen der Täter bislang gesorgt hat, das sind zwei verschiedene, aber koexistierende Interpretationsstränge.
Einerseits behauptet die an ihren empfindlichsten Statussymbolen getroffene Weltmacht, dass es sich um einen quasi pathologischen Angriff von Wahnsinnigen handelte, die man mittels überlegener, rationaler Technik orten und vernichten könne. Andererseits entfaltet sich parallel dazu weltweit eine Gesellschaftskritik, wie sie vor dem 11. September undenkbar war. Als ob sich das schlechte Gewissen der reichen Welt plötzlich nicht mehr unterdrücken ließe und schon dabei wäre, ein vorsichtiges Reuebekenntnis abzulegen. Welthandelsorganisation (WTO), Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) geben zu, Fehler in den Entwicklungsländern gemacht zu haben. Selbst die UNO hat Chancen, in Zukunft wieder eine wirkungsvollere Rolle spielen zu können. Auch das großräumige Zurückfahren von Sozialplänen und Staatsintervention soll nun doch ein Fehler gewesen sein. Zumindest in den Entwicklungsländern. Ab und zu wird sogar konzediert, dass dort tatsächlich ein "Terror der Ökonomie" gegen ganze Völkerschaften stattgefunden habe - ein Terror, der sehr wohl den Nährboden für Terroraktionen abgeben könne. Ursachen solcherart existieren tatsächlich genug auf dieser Welt. Und wenn die Attentäter schweigen, dann zweifellos deshalb, weil sie damit am besten die weltweite Unzufriedenheit derer bündeln können, die von Entwicklung und Fortschritt abgekoppelt sind.
Das Schweigen der Täter bündelt nicht nur den Zorn der Gruppe, die sie zu vertreten meinen, sondern jegliche Unzufriedenheit der gegenwärtigen Welt. Nicht zuletzt dieser Umstand mag das bizarre und Angst erregende Ballett der "Trittbrettfahrer" erklären. Ob wir diese Schmierenkomparserie des Terrors, vor allem aber die Angst jemals wieder loswerden?
Die Armen sind doch sanft und müde ...
Die weit verbreitete Selbstgefälligkeit des Westens meint, es genüge, mit einer verrückten Sekte abzurechnen - die Armen, die Marginalisierten hätten sich noch niemals zu solchen Wahnsinnstaten hinreißen lassen. Sie seien sanft und müde, viel zu kraftlos, um überhaupt von sich reden zu machen, geschweige denn, sich zu organisieren und zu handeln. Solche Aktionen gingen von fanatisierten Einzelnen oder kleinen Gruppen aus, die schrecklicher Weise mitten unter uns lebten.
In der Tat, Terrorakte in der Geschichte wurden immer von wenigen vorbereitet und oft von Einzelnen ausgeführt. Die Täter stammten nicht selten aus den Mittel-, manchmal sogar aus den Oberschichten. Es ist nicht zwingend, dass die Planung der Attentate auf New York und Washington in einer Höhle des Hindukusch stattgefunden hat. Attentäter sind oft gebildete Menschen, durchaus zu einem außergewöhnlichen sozialen Aufstieg fähig. Sie unterscheiden sich dadurch, dass sie vom System nicht korrumpierbar sind. Sie fühlen sich als Anwalt der Ausgegrenzten, der vom System außen Vorgelassenen.
Eine rasche Zuschreibung von Verrücktheit entspringt einer Haltung, die Widerspruch und divergierende Argumente schon lange nicht mehr hören und noch weniger respektieren will. Sie entspringt der Tatsache, dass der demokratische Raum, in dem Interessengegensätze offen ausgetragen werden könnten, weltweit gar nicht existiert, reine Fiktion ist. Wir wissen ja nicht einmal, ob die Täter aus einem eher linken oder rechten Spektrum kommen, auch wenn die Fragestellung heute antiquierter denn je erscheinen mag. Bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde "revolutionäre Gewalt" eher linken Bewegungen zugeordnet. Sie galt als Antwort auf die strukturelle Gewalt von Kolonisatoren und zielte damals auf Unabhängigkeit und eigenständige Emanzipation. In den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts ging terroristische Gewalt (die sich oft auch "revolutionär" nannte) eher von Bewegungen aus, die einen Teil der Menschheit in eine hierarchisierte Vormoderne führen wollten. Aber auch diese Bewegungen waren nur entstanden, weil die Moderne und die Emanzipation - dank des Neokolonialismus - immer noch nicht erreicht waren. Wie dem klassischen Kolonialismus war es ihm gelungen, erneut einen relevanten Teil der nationalen Oberschichten in Afrika - nicht minder in Asien und Lateinamerika - zu korrumpieren. Dieses Bündnis der Kollaboration gab sich gerade ein Stelldichein zur WTO-Konferenz in Katar.
Aber mit einem Blick in die Geschichte ...
Bezeichnenderweise ist die Zahl der Orte, an denen so etwas überhaupt noch stattfinden kann, sehr zusammengeschmolzen. Auch Katar ist nicht mehr sicher. Paradoxerweise gehört der Emir dieses Staates zu den Unbestechlichen und finanziert seit einigen Jahren einen der freiesten und politisch interessantesten Fernsehsender der Welt - El Djazira. Leider kann man den Kanal in Deutschland seit Beginn des amerikanisch-afghanischen Krieges nicht mehr empfangen. Wer wohl dahinter steckt? Jedenfalls denkt der offenbar keineswegs verrückte Emir von Katar daran, bald ein demokratisch-parlamentarisches System einzuführen. Dann dürfte auch Katar die längste Zeit eine demonstrationsfreie Zone gewesen sein.
Wer bereit ist, diese Zusammenhänge der Weltentwicklung der vergangenen Jahrzehnte wahrzunehmen, ist den wirklichen Ursachen von Gewalt und Terrorismus jedenfalls schon besser auf der Spur als alle, die meinen, mit Otto Schilys Anti-Terror-Gesetzen die Sicherheitslage stabilisieren zu können. Das Wesen von Terrorismus besteht doch gerade darin, die Gesetze genau zu studieren, um sie zielsicher hintergehen zu können. Man kann sogar sagen, dass Anti-Terror-Gesetze als Negativ-Matritze für Terror dienen könnten. Absolute Sicherheit kann es ohnehin nicht geben. Denn selbst wenn einmal alle sozialen Ursachen für Gewalt beseitigt sein sollten, wird es tatsächlich hin und wieder Verrückte geben, die Gewalt ausüben, sei es im privaten, sei es im öffentlichen Raum. Aber mit einem Blick in die Geschichte der Menschheit ließe sich leicht feststellen, dass in Perioden, in denen eine Gesellschaft Integration und sozialen Aufstieg für alle bot, der Gewaltpegel zurückging. Auch bei den wirklich Verrückten. Gesellschaft heißt heute zwingend: Weltgesellschaft.
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