Den Alltagsverstand provozieren

Radikaldemokratie Kultur, Reformpädagogik und Hegemonie bei Antonio Gramsci. Ein Buch zum Erziehungsmodell des 1937 verstorbenen Philosophen

Am 27. April jährte sich zum 70. Mal der Tag, an dem Antonio Gramsci nach elfjähriger Haft starb, die der Leiter der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) als angeblicher Hochverräter in den Kerkern des faschistischen Italien verbracht hatte. Weil der 46-Jährige an diesem Tag auf Grund einer Amnestie freikommen sollte, bleiben Zweifel an der "Natürlichkeit" seines Todes. Er selbst war seit seiner Verurteilung 1928 der Auffassung, dass die für seine schwache Gesundheit lebensbedrohliche Höhe der Strafe von 20 Jahren auch von der in Moskau sitzenden Exilführung der KPI provoziert worden sei - durch einen Brief des Genossen Grieco in die Untersuchungshaft, in dem seine Verdienste um die Partei allzu genau und emphatisch gerühmt wurden.

Kurz vor seiner Inhaftierung hatte Gramsci an Togliatti in Moskau einen Brief zur Weiterleitung an die Komintern geschickt, in dem er vor einer gewaltsamen statt einer demokratischen Lösung der Fraktionskämpfe zwischen Trotzki und Stalin warnte.

Um Konflikte mit der Komintern zu vermeiden, übergab Togliatti den Brief nicht und es ist auch denkbar, dass der Lobesbrief in die Haftanstalt der Überzeugung entsprang, dass Gramsci im faschistischen Kerker eine bessere Überlebenschance hätte als in Moskau. Diese schreckliche Wahrheit drang offenbar zu Gramsci zurück. Denn über den in Cambridge Wirtschaftswissenschaften lehrenden Freund Piero Sraffa, der ihn regelmäßig besuchte, kommunizierte er bis zu seinem Lebensende dann doch mit seinen Genossen in Moskau. So übermittelte er ihnen unter anderem die Botschaft, dass die KPI nach dem Ende des Faschismus nicht für eine Diktatur des Proletariats, sondern für eine Verfassunggebende Versammlung eintreten solle, in die alle antifaschistischen Gruppen der Gesellschaft eingebunden sein würden. Tatsächlich wählte Togliatti nicht den griechischen Weg der offenen Systemkonfrontation, sondern setzte - gegen erhebliche Widerstände in der Partei - genau diese Linie durch. Ab 1948 gab er auch die Kerkerhefte Gramscis heraus, die niemals vollständig in einem Ostblockland erscheinen konnten.


Die bis heute auch für den "Westen" immer brisanter gewordene Lehre Gramscis hat den Begriff der Hegemonie zum Zentrum. Er entwickelte ihn aus dem historischen Vergleich der Bedingungen, unter denen die Oktoberrevolution stattgefunden hatte mit denen, die einer Revolution in entwickelten kapitalistischen Ländern begegnen würde. Die Differenz sah er in den Mitteln, mit denen die herrschenden Klassen die Unterschichten zur Anerkennung und Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft brachten. Während es sich im alten Russland um den direkten repressiven Zwang der Staatsmacht in Form von Polizei- und Justizterror handelte und die einzige Massenkultur die orthodoxe Religion war, etablierten sich in den entwickelteren Ländern eine beträchtliche Menge von zivilgesellschaftlichen Institutionen wie eine relative Assoziations- und Pressefreiheit, Bildungsinstitute sowie der stetig anwachsende Sektor der Unterhaltungsindustrie. Sie sorgten scheinbar "zwanglos" dafür, dass die bürgerliche Gesellschaft auch in ihrer großen Krise nach dem 1. Weltkrieg von den großen Mehrheiten nicht dauerhaft in Frage gestellt wurde.

Während sich die Russische Revolution als Staatsstreich vollzogen hatte, ohne dass die Bevölkerung überhaupt wusste, was unter Sozialismus zu verstehen sei, würde sich eine sozialistische Perspektive in den westlichen Ländern erst eröffnen, wenn die Mehrheit der Bevölkerung bereit sei, diesen Weg bewusst mitzugestalten. Dafür musste die vom Faschismus bedrohte, beziehungsweise wie in Italien bereits abgeschaffte bürgerliche Demokratie zurückgewonnen und ausgebaut werden, ehe sie in eine sozialistische Demokratie (das heißt eine sozialistische Wirtschaftsweise) transformiert werden könnte. Im Vorgriff auf die Kritische Theorie erkannte er jedoch schon nach dem 1. Weltkrieg auch die großen manipulativen Kräfte, die die bürgerliche Gesellschaft mit der Kulturindustrie entwickelte und die - als neues "Opium des Volkes" - die Menschen ruhigstellte und am Umbau der Gesellschaft uninteressiert machte. (Gramsci analysierte unter dieser Perspektive Bücher, Feuilletonromane in Zeitungen, Kino, Boulevardtheater und Radio.)

Nach Gramsci kommt ein Umbau überhaupt nur in Gang, wenn es die nach Veränderung strebenden historischen Subjekte verstünden, neue kulturelle Strukturen zu errichten, die schon vor dem Umbruch neue Mentalitäten und Qualifikationen hervorbrächten. Der Bedeutung des Kulturkampfs ist sich aber heute eher die extreme Rechte bewusst, in der tatsächlich auch eine Gramsci-Rezeption zu beobachten ist. Dagegen betreiben linke Parteien Kultur- und Bildungspolitik sogar als Sparpolitik und zerstören damit das Terrain, auf dem den Manipulationen der herrschenden Bildungs- und Kulturindustrien wirkungsvoll begegnet werden müsste.

Armin Bernhard von der Universität Duisburg-Essen hat untersucht, dass Gramscis Hegemoniekonzept auch schulpolitische und pädagogische Vorstellungen enthält, die das Problembewusstsein der aktuellen Erziehungswissenschaft schärfen könnten. Sie entstanden in Auseinandersetzung mit der in Italien sehr lebendigen Reformpädagogik und mit der vom Philosophen Giovanni Gentile als Bildungsminister Mussolinis in die Wege geleiteten Neuformierung des Schul- und Bildungswesens. Den Ansatz, dass jedes erzieherische Lehrprogramm von der konkreten Lebenswirklichkeit der zu Unterrichtenden auszugehen habe, übernahm Gramsci aus der Reformpädagogik. Er warf ihr freilich vor, die Annahme Rousseaus weiterzutragen, dass im Kind der Kern des ganzen künftigen Menschen vorhanden sei und unter möglichst geringem Einfluss, beziehungsweise Zwang von außen entwickelt werden müsse.

Rousseaus Annahme hielt Gramsci für Metaphysik. Vielmehr sei der Mensch von seiner Geburt an entscheidend von seinem Milieu her geprägt und sozialisiert. Eine Pädagogik, die sich allzu eng an der Lebenswelt der Schüler und ihrem geistigen Klima orientiere, laufe auf die Reproduktion bestehender Klassenverhältnisse hinaus. Genau diese Seite der Reformpädagogik wurde durch die faschistische Bildungsreform aufgenommen und verstärkt. Sie sah viele Schulformen vor, die scheinbar freundlich auf die verschiedenen Schichten und Gruppen der Gesellschaft zugeschnitten waren, zwischen denen aber bezeichnenderweise keine Übergänge möglich sein sollten. Während die Oberschichten selbstverständlich universalistisches Wissen erwerben konnten, sollten den unteren Klassen milieugerecht nur elementare Grundkenntnisse und möglichst früh berufliche Fertigkeiten vermittelt werden.


Wie die Reformpädagogik unterstrich Gramsci, dass die Wissensaneignung in jeder Bevölkerungsgruppe auf verschiedene Voraussetzungen trifft. So hielt er es auch für erforderlich, dass zum Beispiel Unterricht für Kinder in einer dörflichen Gegend, die von der nationalen und internationalen Kultur weitgehend abgeschnitten war, von deren folklorischer Vorstellungswelt auszugehen habe. Aber im Gegensatz zur Reformpädagogik sollte der Unterricht diese folklorischen Vorstellungen auch provozieren und kritisieren und das Kind stufenweise mit Techniken und Weltanschauungen konfrontieren, die es auf ein nationales und sogar internationales Wissensniveau bringen würden. Diese Haltung zeigte er übrigens auch bei der Kritik des in ganz Europa zur Schulung von KP-Kadern eingesetzten Lehrbuchs der Soziologie von Nikolai Bucharin. Es sei falsch, dass das Lehrbuch den Marxismus aus der Geschichte der Philosophie heraus zu erklären versuche. Richtiger wäre, vom Alltagswissen ("Alltagsverstand") der jungen Arbeiter auszugehen und erst in einer späteren Phase andere Philosophien kritisch einzuführen.

Hinsichtlich der Möglichkeit, Erziehung und Bildung praktisch ohne Zwang durchzuführen, widersprach Gramsci der Reformpädagogik. Zwar sprach er weder einer Bestrafungs- noch einer Paukschule das Wort. Er verwies darauf, dass gerade die Bildungsanstalten für die Abkömmlinge der herrschenden Klassen Phasen kumulativer Wissensaneignung vorsahen und dass diese auch für Lernende aus den bisherigen Unterschichten unverzichtbar seien.

Prinzipiell plädierte er für ein kostenloses einheitliches Bildungswesen mit offenen Übergängen auf die jeweils höhere Stufe. Für unabdingbar hielt er eine lange schulische Phase zweckfreien Lernens, in der humanistische Erziehung mit Elementen polytechnischer Bildung kombiniert werden sollte. In dieser Phase sollten die Heranwachsenden ihre verschiedenen Fähigkeiten testen und entwickeln können, um Richtungsentscheidungen zu treffen.

Es ist ein Verdienst von Armin Bernhard, die Aktualität der von Gramsci geführten Kontroversen und seines Bildungskonzepts für die Diskussionen über Vergangenheit und Zukunft der bundesdeutschen Pädagogik fruchtbar zu machen. Leider dehnt das stellenweise etwas redundante Buch die Diskussion nicht auf die Geschichte des DDR-Schulwesens aus. Dort war zwar Gramscis Strukturvorstellung der Einheitsschule bis hin zum Zeitrahmen der einzelnen Stufen einschließlich der abstrakten Wertevorgaben verwirklicht. Aber diesem System fehlte gerade das, was Gramsci von den reformpädagogischen Ansätzen übernehmen wollte - nämlich das bewusste Anknüpfen an die lebensweltlichen Herkünfte und Denkweisen der Schüler.

Weil das System Emanzipation nur in engen Grenzen zuließ und auf ein konformistisches "sozialistisches Menschenbild" zielte, wurden die Schüler im Sinne eines abstrakten Universalismus als konkrete Persönlichkeiten schon ausgelöscht, ehe der Lernvorgang begann. Angebracht wäre auch ein Verweis auf Rudolf Bahros Alternative gewesen. Deren größte analytische Leistung hatte darin bestanden zu zeigen, dass auch das sozialistische Bildungssystem Herrschaftsstrukturen reproduzierte: Als gegen Ende der sechziger Jahre der Bedarf an qualifizierten leitenden Kadern gedeckt war, wurden die höheren Bildungsgänge quantitativ abgeschmolzen und der Zugang zur Oberschule und zur Universität im Vergleich zu früheren Jahrgängen extrem erschwert.


In der Bundesrepublik kamen und kommen reformpädagogische Ideen in vielerlei Form zum Einsatz. Die sozialdemokratische Gesamtschule der siebziger Jahre hatte konzeptionell auch den Anspruch, einen stufenweisen Übergang zum universalistischen Wissen für alle zu ermöglichen. Freilich war der universalistische Impuls zu schwach und eben auch nicht kontinuierlich genug, um den sozialen Aufstieg von Jugendlichen aus den Unterschichten zur dauerhaften Selbstverständlichkeit zu machen. Er scheiterte gänzlich in Hinblick auf die Integration der Migranten.

Reformpädagogische Ansätze reproduzieren heute nicht nur die klassenmäßige, sondern auch die ethnische Struktur der Gesellschaft. Von Bernhard nicht diskutiert, aber wichtig wäre der Hinweis, dass die identitätspolitischen Ideen der neunziger Jahre eine Neuauflage der Rousseauschen Metaphysik von einem im Menschen von Geburt an vorhandenen Persönlichkeitskern darstellten. Allzu schematische Identitätsvorstellungen können gerade in der reformpädagogischen Praxis dazu führen, einen solchen Kern überhaupt erst zu konstruieren. Die Zulassung des Kopftuchs bei Minderjährigen an staatlichen Bildungseinrichtungen entspränge einer reformpädagogischen Toleranz, die auf die Ausbildung sexuell emanzipierter Geschlechterverhältnisse bewusst verzichtet.

Und es ist natürlich kein Zufall, dass das Zurückschrauben der Kostenfreiheit der Bildungseinrichtungen mit Zunahme von reformpädagogischen Bildungsvorstellungen schmackhaft gemacht werden soll: Nur, wenn für Bildung wieder bezahlt werde, könne sich die Bildungslandschaft genügend ausdifferenzieren, um für jedes einzelne Kind optimale Chancen bereitzuhalten. In Wirklichkeit wird nicht nur durch die Kostenpflichtigkeit von Qualitätsbildungsgängen, sondern auch durch das radikale Abschmelzen der humanistisch-universalistischen Bildungsbestandteile und die unkritische Ausweitung reformpädagogischer Ansätze erneut versucht, Klassenprivilegien für kommende Generationen zu reproduzieren.

Mit Gramsci verweist Bernhard eindringlich darauf, dass Bildungs- und Kulturpolitik wesentliche Säulen von Herrschaft und Führung darstellen. Als solche müssen sie auch von denen begriffen werden, die eine radikaldemokratische Zivilisation anstreben.

Armin Bernhard: Antonio Gramscis Politische Pädagogik. Grundrisse eines praxisphilosophischen Erziehungs- und Bildungsmodells. Argument, Hamburg 2005, 280 S., 17,50 EUR


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