Der Geist der Erzählung

Seriencharakter Claudia Ott hat die Märchen von Tausendundeiner Nacht neu übersetzt

Es ist eine heute außergewöhnliche verlegerischen Initiative, dass der Beck-Verlag über mehrere Jahre die Übersetzung jener arabischen Vorlage von Tausendundeine Nacht förderte, die den Grundstein für den Weltruhm dieses Werkes legte, das im Orient eher zur Trivialkultur gerechnet wird. Es handelt sich um die bis heute in der Pariser Bibliothèque Nationale befindliche dreibändige Handschrift des Muhsin Mahdi, die wahrscheinlich aus dem 15. Jahrhundert stammt und rätselhafterweise mit der 282. Nacht endet, mitten in der Geschichte von Kamarassaman.

Antoine Galland hatte sie zu Beginn des 18. Jahrhunderts übersetzt. Weil er eine authentische Fortsetzung nicht finden konnte, stellte er - nach dem überwältigenden Erfolg - aus anderen, im Orient gesammelten Geschichten, weitere Bände zusammen. So gelangten Sindbad und Ali Baba in Tausendundeine Nacht, als Rückübersetzung übrigens auch in spätere arabische Ausgaben. Da Galland und seine Nachfolger - darunter die für die gängigsten deutschen Fassungen zeichnenden Enno Littmann und Felix Tauer - ebenfalls aus späteren Quellen schöpften, ergänzten, hin und wieder aber auch etwas wegließen, ist Mahdis Handschrift als eigentliche Urquelle der Europäer interessant. Eine englische Übersetzung erschien 1990, eine niederländische 1999.

Die Orientalistin und Orientmusikerin Claudia Ott setzte sich das Ziel, im Deutschen nicht nur die Frische des "Originals" wiederzugeben, sondern auch - soweit irgend möglich - die zahlreichen Prosareime und Verse der arabischen Vorlage als solche ins Deutsche zu bringen. Damit überwand sie Littmann, der auf Sprache und Techniken der deutschen Klassik zurückgegriffen hatte. Auch machte sie Schluss mit der prüden Zensur der europäischen Ausgaben. Eine Frau, die ihrem Mann bei Galland mit den Worten entgegentritt: "Mäßige Deinen Zorn!" und bei Littmann sagt: "Zurück, Hund, der du bist!", schreit ihn bei Ott - getreu nach Mahdi - mit den Worten an: "Scher dich fort, du Hund und zieh den Schwanz ein!"

Die übersprudelnde Sinnlichkeit des Werks wird fälschlicherweise oft auf orientalische Exotik und Erotik reduziert. Selten wird auf den aufklärererischen Kern dieser Sinnlichkeit hingewiesen, der zweifellos das Geheimnis des anhaltenden Erfolgs ist. Tausendundeine Nacht ist ein multikulturell und kollektiv verfasstes Werk ohne feste Textgrenzen, der erste Fortsetzungsroman der Welt, die Urform der Fernsehserie. Es beruht auf früheren Sammlungen aus Indien, die über Persien im 8. Jahrhundert in den arabischen Sprachraum gelangten und dort weitere spezifische Einfärbungen und besonders in Ägypten erhebliche textliche Bereicherungen erhielten.

Nicht nur bei Mahdi, sondern auch bei den meisten europäischen Übertragungen blieb ein robuster Kern uralter orientalischer naturrechtlicher Vorstellungen erhalten. Sie sind als kräftiger Funken auch im Gründungsinhalt des Islam zu erkennen, von dem heute freilich weder seine Freunde noch seine Feinde und auch viele Muslime etwas wissen: Aufhebung der Sklaverei und Aufwertung der Frauen, die in großen Teilen Arabiens vor den vom Propheten erlassenen Gesetzen so gut wie keine Rechte hatten. In Tausendundeine Nacht herrscht jedoch sogar Chancengleichheit im Kampf um Glück. Männern und Frauen, Reichen und Armen, bis hin zu Tieren und Geistern wird stets derselbe Glücksanspruch zugesprochen, und derselbe unermüdliche Initiativgeist, dieses Glück auch zu erringen. Weil aber jedes Glück auch weniger Glückliche oder gar Geschädigte erzeugt, verlangt die Geschichte zwangsläufig nach Fortsetzung; aus dem Geist der Erzählung selbst entsteht ihr Seriencharakter.

Die kühne Fabel der Rahmengeschichte, dass die Frauen eines Königs diesen mit den Sklaven betrügen, und beide Gruppen eine Zeit des Glücks erringen, ist für das europäische Normalmärchen undenkbar. Im dort vorherrschenden Grundmuster der Erlösung der Bauerntochter durch die Hochzeit mit dem Prinzen spiegelt sich nicht nur christliche Erlösungshoffnung, sondern auch ihre Übertragung auf die mittelalterliche feudale Pyramide. Sie wird durch dieses, häufig auftauchende Motiv konfirmiert - bis zum modernen Hollywood-Kitsch. Wieviel aufklärerisches Gedankengut hingegen Tausendundeine Nacht enthält, zeigt auch ein Blick auf Schahrasad, die den frustrierten König durch allnächtliches Erzählen von seiner Obsession heilt, jeden Tag eine Jungfrau zu heiraten und sie im Morgengrauen köpfen zu lassen, damit sie ihn nicht betrügen kann.

Es wird ausdrücklich betont, dass Schahrasad im Gegensatz zu ihren unglücklichen Vorgängerinnen und auch zum Sultan Schahriyar über das gesamte Bildungsgut ihrer Zeit verfügte. Sie zähmte den Tyrannen nicht nur durch Erotik, sondern weil sie ihm immer neue Beispiele für den unausrottbaren Gegensatz zwischen Natur und Gesetz erzählte. Obwohl sie auch fromme Formeln enthalten, positionierte sich Tausendundeine Nacht damit diametral gegen die sich herausbildende islamische Orthodoxie, die das Leben mit dem - angeblich gottbefohlenen - Gesetz in Übereinstimmung bringen wollte. Es war das Milieu der weltoffenen Stadtbürger, in dem die Geschichten trotzdem weiter gesponnen und auch wieder aufgezeichnet wurden. Weil sich die drei abrahamitischen Religionen unter islamischer Herrschaft nebeneinander entwickeln konnten und deshalb auch Juden und Christen zu den handelnden und oft auch positiven Figuren in Tausendundeine Nacht gehörten, hat Claudia Ott "Allah" auch stets mit "Gott" übersetzt, dem Allgemeinbegriff für Gott im Arabischen.

Die von emanzipierten, literarisch interessierten Damen dominierten Pariser Salons des 18. Jahrhunderts erkannten die aufklärerischen Züge, die ihrem eigenen aufkeimenden Universalismus ähnlich waren. Ganz wie es die vielen vorherigen Erzähler und Aufschreiber getan hatten, passte auch Galland die Erzählungen der Welt dem Geschmack seiner Leser und vor allem seiner Leserinnen ein wenig an: einen Liebhaber, der im orientalischen Märchen der Koch gewesen war, machte er zum jungen Offizier. Dieser hätte zum orientalischen Harem eigentlich keinen Zugang gehabt, entsprach dem ausgeprägteren Standesdenken der Salonières aber eher.

Obwohl es natürlich interessant ist, die Version von Tausendundeine Nacht lesen zu können, die die Erfolgsgeschichte des Werkes in der westlichen Kultur einleitete, und damit zu ermessen, was Galland und spätere Adaptionen veränderten, ist es doch wenig verständlich, dass der Verlag seine Werbung nicht auf der gerade heute wieder so großen kulturellen Explosivkraft der Schrift gründet, sondern ausgerechnet auf den Aspekt der Authentizität. Dem liegt der modische Gedanke von der Autonomie und Hermetik des Textes zu Grunde, Kategorien, die bei einem Kollektivwerk doch von vornherein fragwürdig sind.

In genau diesem Denken verharren jedoch auch die meisten europäischen Märchenerzählervereine, wenn sie beispielsweise Wettbewerbe ausschreiben, wer am besten den Wortlaut eines Grimmschen Märchen wiedergibt. Damit wird der ursprüngliche Sinn der hohen Kunst des Märchenerzählens verfehlt, der nicht in exakter Wiedergabe, sondern in kritisch-aktueller Anverwandlung besteht. Aus diesem Grunde wurden Märchenerzähler nicht nur durch Stalin in der Sowjetunion sondern sogar durch die demokratische Kolonialmacht Frankreich in Nordafrika systematisch vernichtet.

Wenn die Verlagswerbung davon spricht, dass hier kein "europäischer Orientalismus" zu uns spreche, sondern "endlich der Orient selbst", suggeriert sie eine Kulturschranke, die gerade Tausendundeine Nacht nie repräsentiert hat. Auch die Mahdi-Version war nur ein Augenblick in der Entwicklung dieses damals schon von vielen Kulturen imprägnierten Kollektivwerks. Und die europäischen Anverwandler haben nichts anderes getan, als neue kulturelle Schichten hinzuzufügen. Gerade heute sollte darauf gepocht werden, dass Tausendundeine Nacht - nicht zuletzt durch Rückübersetzungen in orientalische Sprachen - längst zur dauerhaftesten Kulturbrücke zwischen Orient und Okzident geworden ist.

Tausendundeine Nacht. Nach der ältesten arabischen Handschrift in der Ausgabe von Muhsin Mahdi erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott. H. Beck, München 2004, 685 S., 29,90 EUR


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