Literatur ist mehr als schöner Zeitvertreib. Aber besitzt sie ein exklusives Wissen über Bereiche, die den Wissenschaften verschlossen bleiben? Die französische Historikerin Sonia Combe beschäftigt sich mit den Positionen osteuropäischer Intellektueller und deren historischer Rezeption. Sie gehört zu denen ihrer Zunft, die auch in der Literatur eine wichtige Quelle erkennen. Das ergibt Sinn, denn der Einfluss des literarischen Schreibens auf das gesellschaftliche Leben im Ostblock war wohl größer als im Westen.
Ein Text von Christa Wolf über Psychosomatik mit dem Titel Krankheit und Liebesentzug aus dem Oktoberheft von 1986 der Neuen Deutschen Literatur hatte sie seinerzeit fasziniert. Sie übersetzte ihn für Les temps modernes und gab i
Les temps modernes und gab ihn „mindestens zwanzig Mal Freunden und Bekannten weiter, sogar meinem Gynäkologen“. Das erzählte Sonia Combe vor ein paar Wochen im Berliner Institut Francais, wo sie ihr Buch Maladie et privation d’amour. De Christa Wolf à Canguilhem. Pour un retour à la clinique vorstellte.Das Buch enthält neben Wolfs Text auch eine kulturpolitische Einordnung in die Problematik der Frauenemanzipation im Ostblock und eine Kritik der heute herrschenden Sicht darauf. Im zweiten Teil des Buchs schlägt der Journalist und Humanwissenschaftler Antoine Spire eine Brücke von Wolf zu dem Arzt und Wissenschaftsphilosophen Georges Canguilhem (1904 – 1995). Spire hebt die Aktualität hervor, die der Forderung nach einer Abkehr von positivistischer Medizin hin zu einer ganzheitlichen Sicht auf die Ursachen und Heilungsmöglichkeiten von Krankheiten auch heute noch zukommt.Weil die Medizin der DDR vorrangig auf den technischen und pharmakologischen Fortschritt setzte, verwundert, dass es dort seit 1979 einen Verein psychosomatisch interessierter Gynäkologen gab, dessen Aktivitäten allerdings kaum bekannt gemacht, geschweige denn öffentlich diskutiert wurden. Auch Christa Wolf war überrascht, als 1984 der Vorsitzende des Vereins, Dr. Paul Franke, anfragte, ob sie bereit sei, auf der nächsten Tagung in Magdeburg den Einleitungsvortrag zu halten. Dr. Franke, der auch im französischen Kulturinstitut anwesend war, glaubte, dass Wolfs Literatur viel Material zu den Wechselwirkungen zwischen Körper und Psyche der Frauen enthielt. Das trifft für die Romane Kindheitsmuster (1976), Kassandra (1983) und besonders für Nachdenken über Christa T. (1968) zu. Dass Letztere jung an einer Krankheit zugrunde geht, wurde von einem Großteil der Leser als letzte Konsequenz ihrer Verweigerung aufgefasst, offiziellen Erwartungen in politischer und beruflicher Hinsicht zu entsprechen.Bovary, Briest, FrustWolf war sich der Risiken bewusst, die mit ihrer Einwilligung einhergehen würden. Nicht nur wegen ihrer Texte, die sich an der Dogmatik des sozialistischen Realismus rieben, galt sie als heikle Autorin. Sie hatte auch weder ihr Eintreten für eine liberale Kulturpolitik auf dem 11. Plenum der SED 1965 noch ihre Unterschrift gegen die Ausbürgerung Biermanns 1976 je widerrufen. Wolf antwortete Dr. Franke, dass ihr Auftritt den Psychosomatikern vielleicht mehr schaden würde. Sie befürchtete auch, dass ihre Äußerungen in literarischer Sprache auf die Mediziner banal wirken könnten.Im Vorfeld der Tagung musste sich Franke tatsächlich noch vor seinem politischen Vorgesetzten in Berlin dafür rechtfertigen, die Autorin eingeladen zu haben. Der verkündete, nur grünes Licht geben zu können, nachdem er sich mit weiteren Instanzen darüber verständigt hätte. Nach zwei Tagen kam das grüne Licht. Wolfs Vortrag berührte kaum eigene Texte, die einen Zusammenhang von psychischem Druck und Krankheit suggerierten, vielmehr griff sie vornehmlich ältere Zeugnisse dafür auf, dass man sich in früherer Zeit der Einheit von Körper und Seele bewusster gewesen sei. War in der griechischen Mythologie Psyche nicht die Gemahlin des Eros gewesen? Autoren wie Flaubert, Tolstoi und Fontane hatten mit den Figuren Emma Bovary, Anna Karenina und Effi Briest den Zusammenhang von sexueller Frustration und Nervenleiden beschworen, gegen den die Medizin machtlos war. Und hatte Goethes Faust nicht sowohl gegen die Magie als auch gegen den neuen Mythos Wissenschaft gekämpft? „Ihr Instrumente freilich spottet ... Geheimnisvoll am lichten Tag / Lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben, / Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag, / Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.“ Christa Wolf hatte sich erdreistet hinzuzufügen: „Auch nicht ... mit Geburtszange und mit Spekulum“.Die gegenwärtige Medizin sehe im Menschen nur „eine biologische Maschine“, sagte Wolf. Dass das der Realität nicht entspreche, habe sie selbst schon mit acht oder neun Jahren gespürt, als sie eine nächtliche Fehlgeburt ihrer Mutter miterlebte. Ohne über Empfängnis oder gar Verhütung aufgeklärt zu sein, habe sie deutlich gespürt, dass die Mutter kein weiteres Kind haben wollte. Das Urteil der Medizin wäre anders gewesen. Des Weiteren führte sie gynäkologische Heilungen an, die medizinisch wenig plausibel, wohl aber aus seelischen Entwicklungen erklärlich waren.Wolf sprach auch von den gesundheitsgefährdenden Konflikten im rasch vorangeschrittenen Emanzipationsprozess. Dazu gehörte die noch häufige Doppelbelastung durch Beruf und Haushalt, was dazu führen konnte, dass Frauen – aus Selbstschutzgründen – ihre anspruchsvoller gewordenen Berufskarrieren für eine Arbeit mit weniger Verantwortung aufgaben. Andererseits konnten auch krank machende Konflikte und Ängste bei Männern ausgelöst werden.Wolf führte eine mehrfach von Taxifahrern geäußerte Empörung darüber an, dass sie besonders nach den Feiern zum Internationalen Frauentag Frauen transportieren müssten, die ihnen „eindeutig-zweideutige Anträge“ machten. Auch auf Maxie Wanders Frauenprotokolle hätten Männer mit Abwehr auf die gestiegenen sexuellen Ansprüche der Frauen reagiert.Da Gynäkologen oft noch ausschließlich Männer waren, verspürten Frauen Unbehagen vor Untersuchungen. Sie fürchteten sich, zum „Objekt männlicher Verachtung, Abwertung und womöglich gar Rohheit“ zu werden. Ärzten, die sich als „echte Naturwissenschaftler“ fühlen, sei „die Welt der Gefühle unerheblich, irrational“, sagte Wolf und plädierte für eine Medizin, die „die Trennung von Körper und ‚Psyche‘, die ja nicht wirklich, sondern nur in den Köpfen existiert, nicht länger durch Spaltung der Therapie auf Internist oder Gynäkologen einerseits und Psychologen andererseits“ verfestige. Es müsse zu einer „Begegnung zwischen Arzt und Patientin“ kommen, in der nicht, „und sei es durch Routine, Distanz geschaffen wird, nicht die alten Muster von Besserwissen und Sich-Unterordnen bedient werden“, sondern eine teilnehmende Beziehung entstünde, die sich weder reduziert auf den „selektiven, naturalistischen Blick des Arztes nur auf die Organe der Frau“ noch auf etwaige Bedürfnisse der Frau „nach einem Helden, Retter, Gott“.Dem Patienten zuhörenDamit forderte Wolf dasselbe wie Canguilhem, der – wie Antoine Spire auch im Französischen Institut ausführte – sowohl in der Wissenschaft als auch in den französischen Gesundheitsinstitutionen für das teilnehmende Patientengespräch eintrat, was allerdings die bis heute unterbleibende Ausbildung der Mediziner in den Humanwissenschaften erfordert. Interessant ist, dass Canguilhem in der Résistance aktiv war und aus der psychiatrischen Schule von François Toscelles kam, aus der auch Frantz Fanon hervorging, der Begründer der ethnokulturell arbeitenden Psychiatrie und Autor von Die Verdammten dieser Erde.Heutige Patienten sind womöglich stärker noch mit einer maschinell, pharmakologisch und gentechnisch arbeitenden Medizin konfrontiert. Psychische Krankheitsursachen und Heilungschancen bleiben weiter unterbelichtet, teilnehmende Arztgespräche gelten vielen gar als „Gänseblümchenmedizin“. Nicht nur hier liegt die Aktualität von Combes Publikation auf der Hand, die Christa Wolfs Intervention in einen epochegeschichtlichen globalen Zusammenhang setzt. Sie hebt auch hervor, dass ein Blick auf die Länder des alten Ostblocks verfehlt ist, der sie nur als Gesellschaften sehen will, in denen Frauenemanzipation kein so großes Thema gewesen sein soll. Diese Sicht vergisst, dass Frauen sich nicht nur von politischer, sondern auch von männlicher Unterdrückung befreien müssen. Durch arbeitsrechtliche Gleichstellung, umfassenden Mutterschutz und das Recht auf Abtreibung erhielt die Frauenemanzipation einen zwar nicht widerspruchsfreien, aber kräftigen Schub.Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.