Der zweite könnte bald erster Sieger sein

Ägypten Nach den Wahlen gilt der Islam mehr denn je als ­Synonym für sozialen ­Ausgleich. Davon profitieren zunächst die Muslimbrüder, vor allem aber die radikaleren Salafisten

Es scheint leichtsinnig, dass in Ägypten bislang verbotene Parteien autorisiert wurden, an den Parlamentswahlen teilzunehmen, ohne dass es zuvor eine landesweite Abstimmung über eine Verfassunggebende Versammlung gab. Man vermied die umfassende Diskussion über neue Kriterien, nach denen Parteien zugelassen werden. Vermutlich wollte der regierende Militärrat die Zeit bis zur Installierung einer neuen Autorität verkürzen und hielt sich zugleich durch das stufenweise Abwickeln der Wahl Möglichkeiten eines eigenen robusten Eingreifens offen. Dass ein solches Vorgehen nicht vor Erschütterungen bewahrt, zeigt sich seit Wochen.

Ungeachtet dessen steht außer Frage, dass Muslimbrüder und Salafisten aus der ersten als „frei“ geltenden Parlamentswahl des Landes als Sieger hervorgehen. Das überrascht Kenner der Region weniger als diejenigen, die meinten, die Früchte der Revolution könnten von den Demonstranten des Tahrir-Platzes geerntet werden. So hatte es im Februar 2011 mit Hussein Mahmoud sogar der Generalsekretär der Muslimbrüder gesehen. Die wollten sich an den Protesten kaum aktiv beteiligen, waren aber in der Etappe dabei und versorgten in Moscheen Verwundete und Traumatisierte. Allerdings waren derartige Hilfsstätten Laizisten zu verdanken, etwa dem Verleger Mohammed Hashem, der kürzlich mit dem Hermann-Kesten-Preis des deutschen PEN-Zentrums ausgezeichnet wurde.

Gottgewollte Gerechtigkeit

Es bleibt eine historische Erfahrung, dass Revolutionen, die in demokratische Prozesse münden, oft anders funktionieren als ihre Initiatoren hoffen. Das jakobinische Frankreich entbehrte Eigenschaften, von denen die Eroberer der Bastille im Juli 1789 träumten. Aus der DDR wurde nicht, was sich die Aktivisten des Neuen Forums oder die Demonstranten des 4. November 1989 in Ostberlin erhofften. Auch in Ägypten haben nun die Kräfte Erfolg, die sich Vertrauen und Prestige schon lange vor dem Umbruch durch ihre karitativen Aktivitäten und den Beistand für Bildungswillige erworben haben. Obwohl sie offiziell als politische Formation verboten blieben, hatten die Muslimbrüder schon 88 als unabhängige Kandidaten gewählte Vertreter im letzten Parlament, das unter der Präsidentschaft Hosni Mubaraks zustande kam.

Gegründet wurde die Bruderschaft 1928 von Hassan al Banna, der die englische Kolonialmacht wegen ihrer Politik in Ägypten und wegen ihrer Bevorzugung der Juden in Palästina angriff. Damals unterhielten die Muslimbrüder einen Terrorapparat, der zunächst nur zur Verteidigung Palästinas diente. Doch breitete sich die davon ausgehende Gewalt bald in Ägypten selbst aus. Im Widerstand gegen die Engländer konkurrierten die Muslimbrüder mit der Wafd-Partei, die einen laizistischen Parlamentarismus wollte. 1966 ließ der damalige Präsident Gamal Abdel Nasser den Muslim-Führer Sayyid Qutb, einen der wichtigsten islamischen Theoretiker des 20. Jahrhunderts, hängen. Danach verabschiedete sich die Bruderschaft von der Gewalt. Nassers Nachfolger Anwar as-Sadat (1970 bis 1981 im Amt) gehörte einst selbst zu dieser religiösen Vereinigung und förderte sie während seiner Regierungszeit. Heute gilt als erwiesen, dass Sadat bei der Militärparade vom 6. Oktober 1981 nicht – wie lange angenommen – einem tödlichen Anschlag der Bruderschaft zum Opfer fiel.

Immer schon agitierten die Muslimbrüder gegen die Verwestlichung der ägyptischen Oberschicht und appellierten an die im einfachen Volk verwurzelten Werte des Islam. Diese seien unter dem Begriff der von Allah gewollten „Gerechtigkeit“ zusammenzufassen, hebt die ägyptische Feministin Nawel Es-Sadawi hervor, die trotz ihrer 80 Jahre auf dem Tahrir-Platz wochenlang dabei war. Im Unterschied zu den Muslimbrüdern, die darauf beharren, Elemente der Scharia konstitutionell zu verankern, versteht sie unter „gottgewollter Gerechtigkeit“ ein politisch-soziales System, in dem Frauen und Minderheiten wie die Christen gleiche Rechte genießen. Viele arme Ägypterinnen finden sich mit einem familiären Patriarchat ab, wenn ihnen die Muslimbrüder mehr soziale Gerechtigkeit für ihre Familien versprechen. Weil die Bruderschaft genau das über die Gewerkschaften durchzusetzen sucht, wurde sie jetzt von Fabrik- und Landarbeitern ebenso wie von Frauen gewählt.

Sollte jedoch die sich abzeichnende Regierungsverantwortung nicht genutzt werden, vorhandene Erwartungen zu erfüllen, kann das zur Chance der Salafisten werden. Diese ebenfalls alte Strömung im Islam vertritt radikale Positionen, wie man sie inzwischen nur noch bei einem Teil der Muslimbrüder findet.

Für Salafisten darf es – außer der technischen – keine Entwicklung geben. Außerdem müssen sich Muslime stets direkt auf den Koran und die Zeit der ersten vier „rechtgeleiteten“ Kalifen beziehen. Salafisten lehnen sogar die „Tradition“ der islamischen Auslegung ab und wenden sich gegen jede Rechtsprechung, die vom Koran abweicht. Dabei gilt der Wahhabismus – eine Spielart der Salafiyya, die dank saudischer Finanzierung viele Länder erfasst – als stärkste Ausprägung dieses islamischen Fundamentalismus. Während anzunehmen ist, dass die Muslimbrüder die parlamentarische Struktur des ägyptischen Staates erhalten, ohne sie freilich für Christen zu öffnen, würde eine salafistische Regierung damit nichts zu tun haben wollen und auf einen Gottesstaat setzen. An dieser Stelle kommt das in der Sahara operierende Al-Qaida-Netzwerk ins Spiel. Es ist für Ägypten insofern relevant, als es von Salafisten dominiert wird, die aus Algerien stammen. Es finanziert sich nicht zuletzt durch den Handel mit südamerikanischen Drogen, die von der Atlantikküste bis ins ägyptische Alexandria transportiert und von dort nach Europa verschifft werden.

Stille Geldströme

Wo in islamischen Ländern die Armut wächst, trifft das gleichfalls auf den Einfluss der Salafisten zu, weil auch sie über ihre Moscheen eine Art Sozialhilfe organisieren. Solange die für einen Großteil der Bevölkerung aus religiösen Institutionen kommt, kann der Staat nicht laizistisch werden. Deshalb fordern ja laizistisch geprägte Parteien in Tunesien, dass der Staat eine Sozialhilfe von etwa 100 Euro einführt. Eine solche Maßnahme würde die Abkoppelung vom saudisch-wahhabitischen Einfluss erleichtern und dazu zwingen, in Ländern ohne hohe Öleinkünfte nicht nur die Einnahme, sondern auch die Verteilung von Steuern entscheidend zu verändern.

Dies zu tun, liefe auf einen radikaleren Umbruch hinaus als den 2011 in Ägypten oder Tunesien erlebten. Wahrscheinlicher ist, dass sich auch die neuen politischen Eliten die Armenpflege lieber von stillen Geldströmen aus dem Golf abnehmen lassen. Auch die Muslimbruderschaft, die an zirka einem Drittel der ägyptischen Wirtschaft beteiligt ist und ihre karitativen Werke partiell aus freiwilligen Abgaben eines engagierten Unternehmertums finanziert, wird als Transfervehikel weiter die Moschee bevorzugen, anstatt eine einklagbare Sozialgesetzlichkeit durchzusetzen.

Alles läuft in Nordafrika auf eine zunehmende Islamisierung des politischen und zivilen Lebens hinaus. Moncef Marzouki, der Übergangspräsident Tunesiens, dessen Partei Kongress für die Republik (CPR) laizistisch ausgerichtet ist, musste in seiner Antrittsrede versichern, dass der Staat in seinen Institutionen nicht nur die unverschleierte, sondern auch die verschleierte Frau schützen werde.

Sabine Kebir ist Essayistin, Literaturwissenschaftlerin und Nordafrika-Spezialistin

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