Die Gefahr lauert anderswo

Tunesien Der Präsident hat alle Macht an sich gezogen und regiert durch. Warum ihn zahlreiche Linke dabei unterstützen
Ausgabe 32/2021

Am 26. Juli, einen Tag nachdem Präsident Kaïs Saïed wegen einer ausufernden Corona-Krise die Exekutivgewalt an sich gezogen hat, versucht Rached al-Ghannouchi, Vorsitzender der islamistischen Ennahda-Partei und Parlamentspräsident, das Gelände des Regierungssitzes zu betreten. Als er von Soldaten daran gehindert wird, sagt er: „Das tunesische Volk wird den Rückfall in die Tyrannei nicht akzeptieren. Wenn die Freiheit bedroht ist, hat das Leben keinen Wert.“ Ghannouchis seit über 40 Jahren stets von Neuem verkündete Botschaft gilt dem Aufbau einer islamischen Gesellschaft auf demokratischem Wege. Freilich hat seine Partei nach ihrer Legalisierung in der Zeit des Arabischen Frühlings Anfang 2011 heftige Verluste in der Wählergunst hinnehmen müssen. Während sie vor zehn Jahren 89 Sitze erobert hat, waren es 2014 nur noch 69. Mittlerweile ist die Zahl auf 52 geschrumpft, nicht einmal mehr ein Viertel der 217 Mandate in der Abgeordnetenkammer, weshalb Ennahda Koalitionen braucht, um zu regieren.

Wie sehr die Ennahda-Partei im Krisenmodus steckt, offenbarte die von leidenschaftlichen Debatten geprägte Sitzung des Schura-Rates am 4. August, als jüngere Mitglieder Rached al-Ghannouchi den Rücktritt nahelegten. Da dieser Ennahda jedoch seit 40 Jahren führt, für seine Überzeugungen im Gefängnis saß und ins Exil musste, brauchte es einen würdevollen Abgang. Auf dem nächsten Parteikongress, der bisher noch nicht einberufen ist?

Die Hoffnungen der Tunesier auf ihre Revolution seien enttäuscht worden – so der Altlinke Jalel Ben Brik Zoghlami in La Presse de Tunisie. Die seit dem Umbruch 2011 gewählten Regierungen hätten das Land dem Internationalen Währungsfonds und zweifelhaften Geldgebern aus den Golfstaaten ausgeliefert. Mit Kaïs Saïed verfügten die Armen und die Jugend jetzt über einen Staatschef, der den „Sieg von 2011 endlich konkretisieren“ wolle. Die Meetings, mit denen man den Ausnahmezustand im ganzen Land begrüße, würden zeigen, wie unberechtigt im Ausland geäußerte Sorgen um die tunesische Demokratie seien. In der Tat ist selbst bei Ennahda-Anhängern die Enttäuschung darüber erheblich, dass nach den Wahlen 2019 die soziale Lage der unteren Schichten noch miserabler wurde und die Regierung sich mit einem katastrophalen Corona-Management blamiert hat. Zuvor schon nahm die Tourismusbranche durch islamistische Gewaltakte Schaden. Ganz zu schweigen von der Gefahr, unter der die Gegner militanter Dschihadisten leben müssen. Und was – fragen viele –, wenn die vielen tunesischen Söldner demnächst aus Libyen heimkehren?

Dem durchregierenden Präsidenten gelang es sofort, 400.000 Gratis-Impfdosen aus China zu erhalten. Zugleich wurden Biontech/Pfizer-Impfungen weltweit um 30 Prozent teurer, ein Affront gegenüber allen Entwicklungsländern. Sympathien sicherte sich Saïed nicht nur, indem er das Corona-Management der Armee übertrug. Sein energischer Appell an die Eigentümer von Lebensmittelketten, die Preise für Grundnahrungsmittel zu senken, zeitigte umgehend Wirkung. Andere Branchen stehen unter Druck, sich anzuschließen. Dies sei „Klassenkampf“, befindet das marktliberale Blatt L’Économiste. Genau deshalb unterstützen Linke wie Zoghlami den Präsidenten, obwohl sie Tunesiens Präsidialsystem ablehnen. Sollte es auf Dauer zu staatlich gedrosselten Preisen kommen, könnte das geeignet sein, eine informelle und neoliberale Wirtschaftsweise zu kappen, die zu den Grundprinzipien der Muslimbrüder gehört, denen sich Ennahda zugehörig fühlt.

Die Weltbank brüskieren

Mit dem von Saïed verfügten einmonatigen „Einfrieren“ des Parlaments ist auch die Immunität der Abgeordneten obsolet. Das heißt, es können jahrelang „eingefrorene“ Strafverfahren gegen Deputierte eröffnet werden, die teils verbale, teils handgreifliche Übergriffe auf den jetzigen und den vorherigen Präsidenten sowie auf Frauen in der Legislative verübt haben. Gerichtlich überprüft werden ebenso gesetzlich untersagte Geldspenden vom Golf, die Ennahda und zwei andere Parteien 2019 als Wahlkampfhilfe erhielten. Für viele Bürger ist eine solche Kontrolle die angemessene Antwort auf die Ennahda-Forderung, der Staat müsse umgerechnet vier Milliarden Euro als Wiedergutmachung für Polizeigewalt zahlen, der die Partei in der Ära des 2011 gestürzten Autokraten Ben Ali ausgesetzt war.

So autoritär, wie Ennahda und westliche Medien meinen, kann Präsident Saïed nicht sein. Immerhin darf der kaltgestellte Premier Mechichi bis zum 24. August ein neues Kabinett vorschlagen. Nur hat sich das Umfeld geändert, weil Kaïs Saïed diverse Akteure der Zivilgesellschaft zu Gesprächen eingeladen hat, darunter Menschenrechtsgruppen, Frauenvereine und die – dank einer Million Mitglieder – mächtigen Gewerkschaften, die eine stärker regulierte Wirtschaft wollen. Damit allerdings würde eine tunesische Regierung die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds brüskieren und dringend benötigte Kredite erheblich gefährden. Aus dieser Zwickmühle erwachsen die eigentlichen Gefahren für die Demokratie.

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