Die müden Füße des Mufflons

Algerien Ist der greise Staatschef Bouteflika noch regierungsfähig? Eine belgische Journalistin meldet Zweifel an und schafft so eine diplomatische Krise
Ausgabe 26/2018
Dass er alles unter Kontrolle habe, bezeugen alle, die unter ihm hohe Posten bekleiden
Dass er alles unter Kontrolle habe, bezeugen alle, die unter ihm hohe Posten bekleiden

Foto: Ryad Kramdi/AFP/Getty Images

Jüngst sandte die algerisch-belgische Journalistin Layla Haddad aus offiziellen Räumen des EU-Parlaments, wo sie akkreditiert ist, eine kurze Videobotschaft an Präsident Abdelaziz Bouteflika. Der sitzt infolge eines Schlaganfalls seit 2013 im Rollstuhl und hat seine Redefähigkeit weitgehend verloren. Letztmalig war er am 9. April auf den Bildschirmen zu sehen, als die historisch bedeutende, von Grund auf restaurierte Moschee Ketchaoua am Fuße der Kasbah in Algier wiedereröffnet und danach eine neue Metro-Linie eingeweiht wurde. Eine Ansprache, die an seine feurigen Diskurse Ende der 1990er erinnert hätte oder gar an die berühmte Rede, die er als jugendlicher Außenminister 1964 vor der UN-Generalversammlung hielt, konnte er nicht mehr bieten. Nur Winken und Händeschütteln waren ihm möglich.

Dass Bouteflika trotzdem die Stränge der Regierungstätigkeit unter seiner Kontrolle hat, versuchen quasi alle Amtsträger, angefangen von Premierminister Ahmed Ouyahia bis zu den Fachministern, deutlich zu machen, indem sie Projekte ihrer Ressorts stets als Vorhaben des Staatschefs vorstellen. Geglaubt wird das von niemandem, wobei unklar ist, über welche Macht und welche Kapazitäten Bouteflika realiter noch verfügt. Als inoffizieller Stellvertreter tritt gelegentlich sein Bruder Said in Erscheinung, was die Öffentlichkeit als Zeichen für den eisernen Willen eines Clans zum Machterhalt deutet.

Layla Haddad sprach den Präsidenten auf seinen „verstörten Blick“, „einen klaffenden Mund“ und seinen Körper an, der nur noch eine „Masse von Fleisch“ sei und sich der Verachtung der Nation und der Welt preisgebe. Sie hielt ihm vor, dass die Menschenwürde nicht in einer Summe von Rechten bestünde, zu denen man sich selbst ermächtigt habe, sondern in der „Verteidigung des Menschen gegen den Menschen“. Er, der schwer kranke Präsident, dürfe sich seine Würde nicht rauben und von den „Baronen des Regimes“, zu denen auch sein Bruder gehöre, nicht instrumentalisieren lassen. „Neunzehn Jahre an der Macht lassen Gehirn und Füße des beweglichsten Mufflons ermüden! Wäre Algerien ein Rechtsstaat, Ihr Bruder stünde vor Gericht für das, was er aus Ihnen macht: ein Objekt für Witze!“ Ziel dieser Botschaft war es, Bouteflika zum Verzicht auf ein fünftes Mandat vor den Präsidentschaftswahlen im April 2019 zu bewegen, „ungeachtet der ökonomischen und Machtinteressen der Räuber, die Sie umgeben“.

Der Bekundung des Mitleids mit einem Kranken folgte die Behauptung, dass Bouteflika seine unbegrenzte Macht seit neunzehn Jahren illegal in Händen halte, weil er sie missbraucht habe, „um Kriminelle und Diebe zu begnadigen“. Eine Anspielung der Journalistin auf fragwürdige Rehabilitierungen von Staatsfunktionären und Wirtschaftsoligarchen, die wieder zu Amt und Würden kamen, nachdem sie in algerischen Gefängnissen gesessen hatten oder wegen ihrer Raffgier zeitweise ins Ausland geflüchtet waren. Man denke an den Fall von Chakib Khelil, der 1999 bis 2010 Minister für den Erdöl- und Erdgassektor war und wegen Korruption von der Justiz verfolgt wurde. Nach einem mehrjährigen Exil kehrte er nach Algerien zurück und ist heute Präsident der Organisation der Zaouias. Diese vereint traditionelle religiöse Einrichtungen lokalen Zuschnitts, die Bouteflika als Gegengewicht zum Islamismus gefördert hat. Khelil hat bereits im November für ein fünftes Mandat von Bouteflika geworben. Layla Haddads Video zielt auf die Stimmung der über ein derartiges politisches Sponsoring entrüsteten algerischen Öffentlichkeit. Innerhalb von zwei Tagen brachte sie es auf über fünf Millionen Klicks.

Prompt beschwerte sich das Außenministerium in Algier über die Europäische Union. Sie müsse sich von einem Video distanzieren, das in ihren, mit den europäischen Sternen ausgestatteten Räumen aufgenommen wurde. Der EU-Repräsentant in Algier soll verlautbart haben, dass die Brüsseler Zentrale für das Video keine Verantwortung trage. Außerdem würden bei ihr akkreditierte Journalisten das volle Recht auf freie Meinungsäußerung genießen. Genau das finden auch die meisten algerischen Zeitungen, die das Eingreifen des Außenministeriums für ein Relikt des Einparteiensystems halten. Weil die öffentliche Meinung „vom Internet, aber kaum noch von den Medien als klassischen Transmissionsriemen geprägt wird“, sei es kontraproduktiv, auf Zensur oder Propaganda zurückzugreifen. „Die Autorität schadet sich damit selbst. Die Reaktion auf Layla Haddad war unnötig und überzogen“, so der Tenor aus den Redaktionen. Es sei ohne jeden Beweis suggeriert worden, es gebe einen Komplott der EU gegen Algerien. Die Meinungsfreiheit bleibe eine der unsichersten Errungenschaften der Kämpfe um Demokratie. Hingewiesen wird auf die kürzliche Verhaftung eines Journalisten und eines Bloggers, die Unzulänglichkeiten beim Management des Hafens von Oran aufgedeckt hatten.

Springt der Bruder ein?

Layla Haddads Botschaft war indes alles andere als ein sensationell mutiger Akt. Schon seit einem Jahr wird in der algerischen Presse mit kritischem Unterton darüber spekuliert, ob Bouteflika im April 2019 für ein fünftes Mandat kandidiert oder ob dafür gar sein Bruder in die Bresche springt. Immer wieder werden Karikaturen zu diesem Thema veröffentlicht. Zum Beispiel: Das Porträt an einer Hauswand zeigt ein Mischwesen aus Abdelaziz Bouteflika und seinem Bruder Said, darunter steht der Name des Letzteren. Hichem Baba Ahmed veröffentlicht am laufenden Band in der Zeitung El Watan Karikaturen, so am 2. April 2018, als die Nachricht, dass sich der Präsident darauf vorbereite, von diesem selbst als „Aprilscherz“ bezeichnet wird, aber dessen Begleiter präzisiert: „Stimmt nicht! Er strebt ein Mandat auf Lebenszeit an.“

Da nichts klargestellt, nichts dementiert wird, äußern sich mittlerweile auch die Parteien. Die Opposition – etwa der Rassemblement pour la Culture et la Démocratie (RCD) und der Front des Forces Socialistes (FFS) – ist selbstverständlich gegen ein fünftes Mandat. Baha Eddine Tliba, Mitglied der FLN, der einstigen Staats- und heute wieder stärksten Partei, wurde Anfang des Jahres vor eine Disziplinarkommission bestellt. Er hatte eine Gesellschaft gegründet, die sich für eine fünfte Amtszeit einsetzen wollte, und damit angedeutet – dies sei notwendig. Doch hatte sich schon im April Djamal Ould Abbas, seit 2016 Chef der FLN, selbst dafür ausgesprochen. Ähnlich positioniert sich der systemfreundliche Rassemblement National Démocratique (RND). Gründe, die angeführt werden, sind die unter Bouteflika erfolgte innere Stabilisierung Algeriens, die besonders von den USA und Frankreich gewürdigt werde. Der oppositionelle Journalist Mohamed Benchicou verweist stattdessen auf die kochende Volksseele, die dem Präsidenten vorwerfe, weder die wirtschaftliche Lage wirklich verbessert noch die Abhängigkeit von der Erdölrendite vermindert zu haben.

Fatiha Benabbou, Professorin für öffentliches Recht in Algier, sieht den Grund für die Differenzen um das fünfte Mandat in einer nicht abgeschlossenen „Institutionalisierung der politischen Macht“, weshalb Amt und Amtsinhaber oft als identisch wahrgenommen würden. In der Tat kann Algeriens Präsident allein hohe Mandatsträger ernennen, die folglich von ihm stark abhängig sind. In den USA müssen vergleichbare Nominierungen immerhin vom Senat gebilligt werden, in Frankreich seit 2008 von parlamentarischen Kommissionen. Die algerische Verfassung sieht solche Verfahren nicht vor. Es kann daher so weit kommen, dass keine der großen rivalisierenden Gruppen einen Gegenkandidaten aufbaut und ein schwer kranker Staatschef immer wieder gewählt wird.

Das damit einhergehende Gefühl von Stagnation und Ohnmacht erfasst die Algerier allein. Weltweit reichen heutige Formen der Demokratie nicht mehr aus, wachsenden Bevölkerungen eine zuverlässige ökonomische Perspektive zu bieten. Algerien hat zumindest eine mutige Presse, die sich der unerbittlichen Aufklärung von Wirtschaftsskandalen verschreibt. Regierungsnahe Medien mit ihrem Hang zu verhängnisvoller Verdunkelung und zu Fake News stehen genügend regierungskritische gegenüber.

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