Seit einiger Zeit erregt eine unter dem Pseudonym Christoph Luxenberg erschienene Analyse der Sprache des Koran Aufsehen. Nicht nur bei den meisten Muslimen, sondern allgemein herrscht die Auffassung, dass der Koran in "reinem Arabisch" geschrieben sei. Luxenberg versucht an vielen Einzelbeispielen zu zeigen, dass die linguistische Grundlage des Koran eine Mischsprache war, die einen höheren Anteil Aramäisch enthielt, als auch Spezialisten bisher annahmen. Daraus ergeben sich aus Luxenbergs Sicht inhaltlich bedeutende Neulesungen.
Das Aramäische - damals auch als Syrisch bezeichnet - war seit 1000 v.u.Z. die Lingua Franca des heutigen Vorderen und Mittleren Ostens und - spätestens seit der im 2. Jahrhundert erfolgten Übersetzung der Bibel - die herrschende Schriftsprache. Da Christentum und Judentum auch im berberischen Nordafrika die alte Vielgötterei bereits abgelöst hatten, kann man sogar davon ausgehen, dass Aramäisch bis zum Atlantik von Klerus und Händlern verstanden wurde. Die These der vom Propheten Mohamed und der muslimischen Urgemeinde gesprochenen arabisch-aramäischen Mischsprache ist insofern plausibel, als Mekka als wichtiger Handelsknotenpunkt natürlich in engerer sprachlicher Kommunikation mit dem damals als "Syrien" bezeichneten Nahen Osten stand als andere, isolierter gebliebene Stammesgebiete der arabischen Halbinsel.
Luxenbergs Anlayse ist deshalb brisant, weil mit ihr das christliche Erbe, das der Koran bekanntermaßen enthält, eine neue Dimension bekommt. Eine solche Erkenntnis könnte dem interreligiösen Gespräch nützen oder schaden. Dass der deutsche Philologe Luxenburg unter Pseudonym publizierte, zeigt, dass er das erstere wünscht, das zweite aber befürchtet.
Arabien gehörte damals zu den letzten Teilen des Orients, in dem sich archaische Vielgötterei erhalten hatte. Die zahlreichen, aus apokryphen Quellen bekannten Anverwandlungen christlicher Legenden im Koran zeigen jedoch, dass nicht nur die verbürgten jüdischen Gemeinden, sondern auch christliche Vorstellungen in Arabien verbreitet waren, wenn auch nicht in institutionalisierten, so doch in oral vermittelten Formen. Mohamed selbst hat mehrere Karawanenreisen in das damalige "Syrien" unternommen und besaß zweifelsohne Kenntnisse im Aramäischen. Selbst wohl keiner Schriftsprache mächtig, bat er seinen Sekretär Zayd ibn Tabit, "Syrisch und Hebräisch" zu lernen, um die in diesen Sprachen verfassten Schriften genau kennen zu lernen. Ihm war klar, dass die religiöse Zersplitterung auch eine politische Schwäche gegenüber den beiden Großreichen Byzanz und Persien bedeutete, die in mehreren Anläufen versucht hatten, die Küsten zu besetzen und damit die Handelswege zu kontrollieren.
Die zur Zeit Mohameds auf der arabischen Halbinsel gesprochenen Dialekte waren zwar Nah- beziehungsweise Schwestersprachen des Aramäischen, hatten aber eine teilweise abweichende Grammatik und auch einen abweichenden Wortschatz. Manche gemeinsamen Worte wiederum hatten auch einen ganz oder teilweise anderen Sinn. Die arabische Schrift wurde überhaupt erst für den Koran geschaffen. Dessen Analyse ist nicht nur deshalb schwierig, weil es keine zeitgenössischen vergleichbaren Schriften gibt. Die ältesten, im Jemen gefundenen Exemplare sind in einer Kurzschrift verfasst, die nur 18 Konsonantenzeichen umfasste, von denen jedes bis zu fünf verschiedene Konsonanten bedeuten kann. Da der Koran vor allem mündlich kommuniziert wurde, brauchte man als Schrift zunächst nur eine Gedächtnisstütze. Erst als der Islam sich auf geographisch und sprachlich weit entfernte Gebiete ausdehnte, fügte man weitere Zeichen hinzu, unter anderem auch ein Punktsystem für Vokale. Dass es dabei zu Verlesungen kam, steht auch für die islamische Deutungstradition fest. So kannte der bis heute als Autorität anerkannte Chronist und Exeget Tabari (839-923) bis zu einem Dutzend verschiedener Deutungen einer einzigen dunklen Stelle. Solche Rätsel waren späteren islamischen Interpreten eine Bestätigung der göttlichen Herkunft des Koran.
Luxenbergs provokante These ist nun: Die ältesten Handschriften lassen sowohl arabische als auch aramäische Lesungen zu. Der Grund für spätere Verlesungen beziehungsweise die Rätselhaftigkeit dunkler Stellen könne darin liegen, dass in den verschiedenen Stufen der Verschriftlichung des Koran der aramäische Sprachanteil schon recht bald nicht mehr verstanden wurde. Tatsächlich wurde das Aramäische durch die islamische Expansion in den Vorderen und Mittleren Orient schon im 7. Jahrhundert durch das Arabische verdrängt, und zwar schon bevor der Koran in vielen Exemplaren zirkulieren konnte. Das Aramäische wurde vor allem durch arabische Umgangssprache verdrängt, die gar nicht oder weniger aramäisch durchsetzt war als die Sprache Mohameds. Dass diese mehr Aramäisch enthielt, scheint auch deshalb plausibel, weil es nie gelang, sie durch Vergleich mit der zeitgenössischen, aber ebenfalls erst später verschrifteten altarabischen Dichtung vollständig zu entschlüsseln. Durch den raschen Verlust des aramäischen Sprachverständnisses (den auch Mekka selbst ereilte, weil sich das politische Zentrum nach "Syrien" verlagerte) habe man, so Luxenberg, aramäischen Worten und Strukturen im Koran bald einen arabischen Sinn untergeschoben.
Die bislang als dunkel geltenden Stellen bekommen plötzlich grammatische Logik und einen zum Kontext passenden Sinn, wenn man die aramäischen Wortbedeutungen und/oder auch aramäische Grammatik zugrunde legt. Nicht selten passt der sich dann ergebende Sinn besser zu allgemeinen altorientalischen Vorstellungen als in den bisherigen Deutungen. Insbesondere ergeben sich wesentlich engere Bezüge zu jüdischen und christlichen Quellen, aus denen der Koran ja auch nach eigenem Verständnis schöpft. Dass er sich davon dann auch wieder abhebt, sollte man gerade im Zusammenhang mit der Luxenberg-Analyse allerdings nicht vergessen.
Luxenberg glaubt, mittels der aramäischen Wörterbücher in einigen Suren Spuren christlicher Liturgie, Hymnen und Briefliteratur erkennen zu können. So soll die 108. Sure, die seiner Auffassung nach kein arabisches Wort enthält, auf aramäisch gelesen, eine deutliche Reminiszenz an den 1. Petrusbrief, Kapitel 5, Verse 8 und 9 darstellen. Die "Fatiha", die 96. Sure, die aus islamischer Sicht die älteste ist und einen Aufruf zum Gebet darstellt, setzt Luxenberg mit der Feier des Abendmahls in Verbindung. Das hier vorkommende arabische Wort "iqtirab(a)" ist vom aramäischen "etqar-rab" abgeleitet, dem terminus technicus für die Eucharistiefeier. Diese und weitere Spuren der christlichen Liturgie lassen Luxenberg schlussfolgern, dass am Beginn der Entstehung des Korans ein "christliches Lektionar" gestanden hätte. Die islamische Tradition verbürgt, dass der Prophet selbst das Wort "Koran" - "qeryana" ausgesprochen habe, was aramäisch "liturgisches Buch" bedeutet.
Am spektakulärsten freilich scheint Luxenbergs Neulesung der dem Muslim im Paradies versprochenen sexuellen Freuden, für die ihm eine groteske Mengen großäugiger Jungfrauen zur Verfügung stehen. Tatsächlich sind die diesbezüglichen Koranstellen, arabisch gelesen, von lexikalischem und grammatischem Wirrwar geprägt. Aramäisch gelesen ergibt sich eine grammatische Logik. Und auf morphologischer Ebene würde es sich nicht um "großäugige Jungfrauen", sondern um "kristall (klare] Weintrauben" handeln. Damit entspräche das islamische Paradies besser den allgemeinen altorientalischen Paradiesvorstellungen und wäre auch dem christlichen Paradies erheblich näher gerückt.
Meiner Meinung nach wird die Explosivkraft von Luxenbergs Entdeckungen überschätzt. Seine fast nur sprachwissenschaftlich argumentierende Arbeit betrifft lediglich einen Bruchteil des Koran, enthält keine Aussagen über seine Gesamtheit. Es war eine gute Idee, dass der Verlag einen Zusatzband herausgebracht hat, in dem einzelne Wissenschaftler zu Luxenbergs Thesen und ihren möglichen Folgen im interreligiösen Gespräch Stellung nehmen. Leider scheint mir der islamkritische Ansatz der meisten Beiträge insofern verfehlt, als er dem von der Studie selbst schon auslösbaren christlichen Triumphgefühl weitere Nahrung gibt. Allein Angelika Neuwirth gibt eine Vorstellung von der imposanten Eigenstruktur, die man dem Gründungsdokument der Weltreligion Islam nicht absprechen darf.
Auch ihrer Auffassung nach weisen die biblischen Erzählungen, die sich jeweils im Zentrum der mittelmekkanischen Suren befinden auf die Struktur von Gottesdiensten, wie sie damals in der Synagoge und der Kirche abgehalten wurden. Sprecher und Hörer befanden sich offenbar in einem judenchristlichen Umfeld, in dem aber bislang eine "heidnische soziale Elite den Ton" angegeben hatte. Von einem Entwicklungsprozess der Ziele und des Selbstbildes Mohameds zeugt der Koran im Ganzen. Während sich seine Polemik zunächst gegen die Heiden richtet (das heißt gegen die alte Vielgötterei), nimmt mit der Ablehnung, die ihm aus jüdischem und auch aus christlichem Milieu entgegengebracht wurde, die Kritik an diesen Religionen zu. Schließlich kommt es zum Bruch. Er zeigt sich unter anderem in der Änderung der Gebetsrichtung von Jerusalem auf die Kaaba, deren bislang mit der Vielgötterei verbundene religiöse Legende freilich vollkommen verändert wird. Die Vertreibung der Götzenbilder durch die Muslime wird mit der Zerstörung der Götzenbilder Abrahams parallelisiert, Mekka wird zum Ort von Abrahams Heimat und Wirken gemacht - unerhört in christlichen und jüdische Augen. Damit war ein Paradigma für theologische und liturgische Änderungen gegeben, mit denen sich der Islam zwar weiterhin als Erbe, zugleich aber als einzig legitimer Wahrheitsverwalter des gesamten orientalischen Monotheismus betrachtete.
So heißt es in der 3. Sure: "Sprich: Wir glauben an Allah und an das, was er uns gesandt hat, und an das, was er dem Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und den Stämmen offenbarte und an das, was Moses, Jesus und anderen Propheten von ihrem Herrn zuteil geworden ist; wir machen zwischen keinem von diesen einen Unterschied. Wir sind Moslems. Wer eine andere Religion als den Islam sucht - nie möge er sie annehmen - der gehört im zukünftigen Leben gewiß zu den Verlorenen." Der koranische Text gibt in seiner Gesamtheit die Kommunikationssituation wieder, in der Mohamed nicht nur mit Gott, sondern auch mit seiner Gemeinde stand. Sie wird in verschiedener Form direkt angeredet, nach Intervention der Prophetengattin Umm Selma sogar als "Männer und Frauen". Manchmal werden auch Fragen und Einwände wiedergegeben. Die ganze Entwicklung der Gesetzgebung im Koran ist als Ausdruck dieses Kommunikationsprozesses erkennbar, der ja auch Revisionen kannte.
Im Ergänzungsband weist Luxenberg auf sprachwissenschaftlicher Ebene eine der grundlegenden theologischen Änderungen des Islam nach. Die 97. Sure, die beschreibt, wie der Koran Mohamed offenbart wurde, präzisiert, dass dies in einer als "at timam" bezeichneten Nacht geschah. Über diesen Begriff schreibt der arabische Philologe al -Asma´i (740-828), dass er "die längste Nacht des Winters" bezeichne, in der alle Sterne zu sehen sind. Sie sei auch die Nacht der Geburt Jesu, die deshalb von den Christen durch eine Nachtwache (Vigilien) in hohen Ehren gehalten werde. Der theologische Bruch des Islam, dessen Offenbarung demnach auf Weihnachten 609 (manchmal wird auch das Jahr 610 genannt) festgelegt werden könnte, besteht nun darin, dass in dieser Nacht nicht Gottes Sohn, sondern Gottes Wort auf die Erde gesandt wurde. Für den Islam fließt nichts von Gottes Substanz in die Welt, die somit ganz der Verantwortung des Menschen überlassen ist.
Wir täten gut daran, den in der Ablehnung der Dreifaltigkeit begründeten strengen Monotheismus des Islam als einen in der damaligen Zeit aufklärerischen Gestus anzuerkennen. Er äußerte sich unter anderem in der Bekämpfung von vielen Formen des Wunderglaubens, auch wenn diese Haltung nach dem Tode Mohameds nicht konsequent weiter verfolgt wurde. Jesus ist nicht Gottes Sohn, sondern ein Prophet, dem jedoch höchste Ehren gebühren. Dasselbe gilt für Maria, über die im Koran mehr nachzulesen ist als in der Bibel. Dass Christen dies nicht wissen, hängt auch damit zusammen, dass die Quellen dieser Legenden keine kanonischen waren, sondern von der damals ungeheuren Popularität der Apokryphen zeugen. Auch deshalb gilt Mohamed manchen Christen noch heute als Ketzer, ja, als Verkörperung des Antichrist.
Dass auch der islamische Fundamentalismus die gemeinsamen Schnittmengen der drei abrahamitischen Religionen eher zu verbergen als auszustellen sucht, bestimmt die Sorgen der meisten Kommentatoren von Luxenbergs Arbeit. Ich halte das für eine Projektion der Positionen, die sich aus christlicher und jüdischer Position gegenüber dem Islam ergeben. In Wirklichkeit ist er in der komfortablen Situation, die gesamte Bibel und ihre Propheten sowie viel apokryphes Gedankengut anzuerkennen, wofür es von den anderen beiden Religionen keine Gegenleistung gibt.
Zwar hat der Islamismus die populäre Vorstellung bestärkt, dass der Koran als arabisch geschriebenes Buch im Himmel liegt. Daneben gibt es aber die islamische Überlieferung, dass bei Mohameds Tod sieben mundartliche Varianten des Koran existierten und dass sich der Kalif Uthman für die entschied, die sich bei Hafsa befand, einer der Prophetengattinnen. Aus Sure 47 geht zudem hervor, dass der Koran das Buch Moses in arabischer Sprache "bestätigt", was bedeutet, dass Gottes Wort vordem in einer anderen Sprache verkündet worden war. Auch Muslime können also erkennen, dass sich Gott bei seinen Offenbarungen um eine Kommunikationssituation mit konkreten Menschengruppen bemühte.
Dass es im Islam heute keine dem Judentum und dem Christentum vergleichbare Religionskritik gibt - in Wirklichkeit gibt es sie, aber sie wird verfolgt - sollte uns nicht den Blick dafür verstellen, dass auch die "westliche" Religionskritik keine wirklich durchschlagenden Erfolge im eigenen Lager zu verzeichnen hat. Sprachwissenschaftliche Erkenntnisse haben bislang die Autorität der immerhin fast 500 Jahre alten Luther-Übersetzung der Bibel bei der Masse der Protestanten keineswegs in Frage gestellt. Die Entwicklung einer Religionsgemeinschaft hängt eben weit mehr von allgemeinen gesellschaftlichen Faktoren ab als von der Eigeninterpretation der religiösen Institutionen. Deshalb sollten wir die Entwicklungs- und Dialogfähigkeit von Muslimen nicht grundsätzlich anzweifeln.
Ich erinnere mich an einen Disput 1983 in meinem Philosophieseminar in Algier. Studentinnen hielten die Paradiesjungfrauen für eine die Frauenwelt beleidigende Provokation. Ausgerechnet ein vordem ziemlich schweigsamer Islamist erklärte die Vorstellung von Paradiesjungfrauen für populistisch und falsch. Im Jenseits gäbe es keine sinnlichen Freuden. Es handle sich um einen Ort, wo sich männliche und weibliche Seelen gleichberechtigt aufhielten und zwar ganz "platonisch". Natürlich sind solche Deutungen heute nicht allen islamischen oder gar islamistischen Milieus eigen. Selbstmordattentäter glauben nicht nur an überirdische Jungfrauen, sondern auch an viele andere handfeste Dinge, die ihnen im Paradies endlich zur Verfügung stehen. Ein junger Mann, der am Weihnachtstag 1994 zu den algerischen Entführern eines französischen Flugzeugs gehörte, erklärte in einem von den Polizeikräften ermöglichten Telefongespräch seiner Mutter, dass er, einmal getötet, endlich das ersehnte japanische Motorrad Yamaha bekäme.
Christoph Luxenberg: Die syro-aramäische Lesart des Koran. 2. Auflage, Schiler, Berlin 2004, 352 S., 29,90 EUR
Christoph Burgmer (Hrsg.): Streit um den Koran. Die Luxenberg-Debatte: Standpunkte und Hintergründe. 2. Aufl., Schiler, Berlin 2004, 153 S., 16 EUR
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.