Aus dem viel gescholtenen, in letzter Zeit erst in Vergessenheit geratenen, dann durch Ghaddafis Kurswechsel nach Westen wieder in die Schlagzeilen geratenen Land Libyen war mir außerhalb des musikalischen Bereichs bislang überhaupt keine künstlerische Aktivität bekannt. Grund schien einerseits die Diktatur Ghadaffis als auch der Umstand, dass es sich noch immer um ein äußerst dünn besiedeltes Land handelt, dessen bis 1969 von den Kolonial- und Feudalherren beherrschtes Volk nomadisch und ohne jede moderne Bildungseinrichtung gelebt hatte.
Um so erstaunlicher, dass uns der Schweizer Lenos Verlag mit Targi Ibrahim al-Koni schon seit langem einen Autor vorstellt, der gleich mehrere Stile der Weltliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts in solcher Vollendung beherrscht, dass man ihm eigentlich ohne Umschweife den Nobelpreis verleihen müsste. Und das obwohl oder gerade weil er von nichts anderem als dem scheinbar so eintönigen dürren Leben zwischen dem Sand, den Steinen, dem Wind, der sengenden Sonne und den kalten Sternen der Sahara schreibt.
Wieso aber geraten diese von so vielen Autoren benützten Urelemente der Wüstenbeschreibung bei al-Koni zum Hintergrund von Szenarien, deren Spannung den Leser nicht los lässt? Die Nähe entsteht, weil er mit jeder Zeile die westliche Illusion zerstört, dass das Leben der Wüstenvölker zwar ein schwerer Kampf mit der Natur, menschlich aber doch harmonischer als das unsere sei. Beharrlich zeigt er, die Kinder der Sahara leiden an denselben Formen menschlicher Entfremdung und menschlichen Wahns wie wir. Weil er die Schuld daran keiner Fremdherrschaft zuschiebt, sondern Wurzeln ewigen Zwistes offenbar in allen menschlichen Gesellschaften sieht, erscheint uns seine erzählte Welt nicht mehr wirklich fremd.
Die eigentlich dramatische Leistung al-Konis besteht denn auch darin, seine bislang zu den letzten "weißen Flecken" der literarischen Welt gehörende Heimat endgültig dem Exotismus entrissen, sie gewissermaßen normalisiert zu haben. Die Leistung der Schweiz, die traditionell weder ihre eigene Literatur noch ihre Übersetzungskultur dem Markt überlässt, sondern honorig subventioniert, ist es wiederum, so hervorragende Übertragungen aus dem Arabischen zu ermöglichen, wie Hartmut Fähndrich sie von einigen der vielen Werke des Ibrahim al-Koni angefertigt hat. Er bringt uns einen Virtuosen nahe, der eine nicht auf Ausschweifung, sondern durchaus auf Knappheit zielende moderne Sprache schreibt. Sie kommt zwar dichterisch und philosophisch daher, meidet aber auch die häufigste Krankheit arabischer Literatur: niemals nämlich gleitet sie ins Unkonkrete ab.
Der meisterliche Roman Ein Haus in der Sehnsucht schildert den Weg eines Targi in die Sesshaftigkeit, der auch deshalb scheitert, weil sich der Held nicht von den traditionellen Vorstellungen des Hochmuts befreien kann, den die nomadischen Touareg gegenüber den sesshaften Wüstenbewohnern und ihren bescheidenen Ortschaften hegen. Für den Erlös seiner Herde, zu der auch die Kamelin gehört, mit deren Milch er aufgezogen wurde und die er deshalb seine "Mutter" nannte, will er kein gewöhnliches Haus und vor allem keine Erde kaufen. Deren Bearbeitung stellt in seiner Weltsicht ein unedles Handwerk dar. Sein Haus soll nicht aus Lehm, sondern aus Stein und von unbekannter, majestätischer Schönheit sein. Es soll sich auch nicht an die anderen Häuser anschmiegen, nichts mit der aus Jahrtausenden überkommenen kollektiven Bauerfahrung der alten saharischen Städte zu tun haben. Vielmehr beauftragt er einen zwar verelendeten, aber berühmten Architekten, ein Haus auf dem Felsberg zu errichten, der die Stadt steil überragt. Einstweilen nimmt er eine Bauerntochter zur Frau und lebt mit ihr bettelarm in einer der üblichen Lehmbauten. Keine Vorstellung hat er von der Zeit, in der sein Traumhaus fertig wird. Weil er nichts tut, um seine reale Lebenslage zu verbessern, entsteht rasch Unfrieden in seiner Ehe. Und der Sohn, der ihm geboren wird, erscheint ihm von vorn herein fremd und feindlich: ein Nahrung heischendes Wesen, das nach Leben schreit, ehe er selbst gelebt hat.
Schließlich entschließt er sich zwar nicht zur Bearbeitung von Land, aber zur Arbeit in weit entfernten Minen, in denen jenes Salz gebrochen wird, mit dem die Touareg-Karawanen seit Menschengedenken erfolgreich Handel treiben. Bei der - nicht realistisch, sondern poetisch verfremdet erzählten - mörderischen Arbeit in den Minen verliert er eine Hand, kehrt aber mit Reichtum heim. Da dieser schnell zusammenschmilzt, macht er sich auf, den Rest seines Salzes im "Djungel", bei den südlich der Sahara lebenden schwarzen Stämmen gegen Goldstaub zu verkaufen, dem traditionell zweiten wichtigen Handelsgut. Die Reise gleicht einer Höllenfahrt, doch kommt er wieder mit Gewinn zurück. Als auch dieser zerronnen ist, zeigt sich, dass die Frau einen Teil des Goldes beiseite geschafft hat, ihn verlässt und für sich und den Sohn ein zwar an die Landwirtschaft gebundenes, aber recht üppiges Leben zu organisieren weiß.
Das letzte Drittel des Romans hat den Hass zum Inhalt, mit dem sich beide Ehepartner nun gegenüberstehen. Der seine besteht nur in dem bedingungslosen Wunsch, dass Frau und Sohn von der Erdoberfläche verschwinden müssten. Die Frau beherrscht eine Fülle von Strategien der Befriedung und des Kompromisses, die dem Leser als Frucht ihrer Kultur der Sesshaftigkeit bewusst werden. So rührend diese Strategien sind, der Autor entlässt den Leser niemals aus der katastrophischen Perspektive, die sich dem namenlosen Helden bietet. Für ihn stellt das weise Vorgehen der Frau immer nur Schmach und Niederlage dar, die seinen Hass weiter anstacheln. Natürlich bleibt sie am Ende die Siegerin, jedoch um den Preis ihres Kindes, das das ein für sie bestimmtes Gift verzehrt. Der elende Architekt, der einzige, der einen gewissen Gewinn aus dem Wahn des majestätischen Hausbaus gezogen zu haben scheint, dem Bauherren aber unter undurchsichtigen Vorhaltungen zeitlebens den Zutritt zur Baustelle verweigert hatte, führt ihn schließlich doch den Berg hinauf. Nun wird klar, dass der Bau von vornherein nie als Wohnung, sondern als eine Art Mausoleum angelegt worden war - dem kundigen Leser als Schloss des Franz Kafka erkenntlich
Obwohl die Geschichte in keiner bestimmten Zeit angesiedelt ist - sie könnte ebenso vor 200 Jahren wie auch heute spielen - hat al-Koni hier symbolhaft den dramatischen Niedergang der Lebensweise der Touareg-Nomaden wiedergegeben. Die banalisierende Nacherzählung verdeckt, dass al-Koni die magische Bild- und Begriffssprache seiner Kultur niemals verlässt und uns trotzdem mit großer Klarheit einen auch in unseren Breiten sehr häufigen, im Grunde sogar vorherrschenden Menschentypus vorführt: Geprägt von allerhand traditionellen oder ihm aktuell von außen aufgedrängten Ideologemen, verkennt er seine wirkliche Lage in der Welt und die ökonomischen Möglichkeiten, die ihm realiter zur Verfügung stehen. So investiert, spart beziehungsweise konsumiert er oft das Falsche im falschen Moment. Und wenn er denn kämpft, dann zumeist am falschen Ort gegen den falschen Gegner.
Von einer zugespitzten Hybris handelt auch der noch raffiniertere Roman Nachtkraut. Hier wird der offenbar in allen menschlichen Gesellschaften wirkende Gegensatz zwischen dem Eigenen und dem Fremden zugleich auf der konkreten Ebene der Welt der Touareg und auf philosophischer Ebene abgehandelt. Ein Mann sondert sich von seiner Gesellschaft ab, weil er den - mit der Farbe Weiß assoziierten - sichtbaren Umgang der Menschen untereinander nicht mehr aushält, den er für durch und durch lügnerisch hält. Er zieht sich am liebsten in die Dunkelheit seines Zelts zurück, das Weiß des Lichts ist für ihn ein für alle Mal "entehrt wie eine Jungfrau, die ihre Unschuld verloren hat ... Ein ihm sehr nahestehender Sklave behauptete, ihn nach den Qualitäten des Schwarz gefragt zu haben. Da habe er geseufzt und sich geschüttelt, habe einen Seufzer ausgestoßen ... und psalmodierend weitergesprochen: Das Schwarz, das Schwarz. Was wisst ihr schon vom Schwarz? Was seht ihr hinter dem Schwarz anderes als die Finsternis, die ihr schwarz nennt? Habt ihr euch je gefragt, was dieser edle Schleier verbirgt?".
Die Erzählung vom Rückzug aus der sichtbaren weißen Welt in die Schwärze gewinnt konkreten Furor dadurch, dass der Mann sich nun in eine schwarze Sklavin verliebt und sie auch heiratet. Eine schwarze Sklavin zu lieben, ist zwar erlaubt, ein solches Verhältnis aber durch Heirat ans weiße Licht zu bringen, ist ein Skandal für die Touareg-Gesellschaft, den sie nur hinnimmt, weil sein Urheber einen hohen sozialen Rang hat. Damit bekommt aber die zunächst philosophisch scheinende Marotte der Dialektik von Schwarz und Weiß die Konkretheit des Wechselverhältnisses zwischen Eigenem und dem Fremden, das ja stets eine erotische Komponente hat. Die Liebe zum Schwarz und zur Schwarzen gewinnt bei der Hauptfigur dieses Romans dieselbe obsessive Gewalt wie die Sucht nach dem Schloss beim obigen Helden.
Nicht nur, dass er sie mit Drogen steigert. Sie beherrscht ihn weit über das Leben der zu Tode gequälten Geliebten hinaus, und er kann nicht anders, als die gemeinsame Tochter zum Inzest zu zwingen. Erst die Enkelin, der noch einmal dasselbe Schicksal widerfährt, wagt es, sich zu wehren und ihren Protest ans "weiße" Licht zu tragen. Vergeblich. Die Hypokrisie der Gesellschaft zeigt sich darin, dass die kapitale Ungerechtigkeit, die die Frau erleidet, weitaus weniger interessiert als die oberflächliche Aufrechterhaltung des scheinbar intakten sozialen Lebens. Die aparte Lebensweise des Mächtigen wird akzeptiert, zumal er als Poet geachtet ist, der den Mut zum Außergewöhnlichen zu besingen weiß.
Aus jeder Zeile dieses schauerlich-schönen Textes spricht, dass auch bei den Touareg der Trieb zur Herrschaft und zur Akzeptanz der Herrschaft stärker ist als der Liebestrieb. Offen bleibt, ob al-Koni die entfremdeten Zustände der Menschheit für so unabänderlich wie Kafka hält oder ob er - im Sinne von Brecht - zu einer Negation der im Text dargestellten Negation anspornen will. Der Leser ist frei, in die eine oder in die andere Richtung zu denken. Er ist jedoch nicht mehr frei zu glauben, dass die Touareg glücklicher seien als wir.
Mit seinen Romanen aus den neunziger Jahren knüpfte der seit 1993 in der Schweiz lebende al-Koni souverän an die modernsten Formen des westlichen Romans an, der sich eng um einen inhaltlichen Fokus dreht und in konzentrischer Kreisbewegung immer wieder auf ihn zurückkommt. Es gelingt ihm jedoch, eine bei dieser Verfahrensweise nicht unbedingt mehr vorgesehene umfassende Gesellschaftsanalyse mitzuliefern. Sein Hauptwerk Die Magier durchbricht zwar die traditionellen linearen Formen des Erzählens und arbeitet mit surrealen Zuspitzungen. Es trägt aber noch die Spuren von al-Konis Literaturstudium, das er am Gorki-Institut in Moskau absolvierte und an das sich eine journalistische Tätigkeit in Moskau und Warschau anschloss. Nicht nur aus bürgerlicher, sondern auch aus sozialistischer Sicht sollte jedes Volk über ein umfassendes Epos seiner Geschichte verfügen und als solches stellen sich Die Magier auch dar.
Allerdings unterscheidet sich dieses Gründungsepos fundamental von den älteren Ursprungsmythen anderer Völker. Keineswegs aus triumphalistischer Sicht geschildert wird hier nämlich die schicksalhafte Verkeilung, in der sich die Welt der Touareg mit der Welt der schwarzen Völker in und südlich der Sahara stets befunden hat. Die Magier sind nämlich niemand anders als diese schwarzen Völker, die sich in einem langsamen Geschichtsprozess offensichtlich als erfolgreicher erweisen, obwohl sie vordem von den Touareg immer wieder beraubt und versklavt wurden. Dass der Raub ursprünglich nur dann erfolgte, wenn - etwa durch Naturkatastrophen oder Zusammenbruch auswärtiger Märkte - keine Möglichkeiten des Handelns mehr bestanden und auch dann nach festen, das heißt für beide Seiten kalkulierbaren Regeln vonstatten ging, verweist darauf, dass sich die Herren der Wüste bewusst waren, ihre Konkurrenten nicht vollständig vernichten zu dürfen. Diese Einsicht gehört zum archaischen philosophischen Wissen der ganzen Menschheit, das indes ausgerechnet in ihren modernsten Teilen verloren zu gehen scheint.
Die Tuareg haben nicht, wie die anderen afrikanischen Völker einen eigenen Staat bekommen. Insofern sind die Konflikte nicht beruhigt, die bei Ibrahim al-Koni geschildert werden. Seine Erzählungen umgreifen ganz selbstverständlich den gesamten geografischen Raum, den die Tuareg vor dem Ende der Kolonialzeit als den ihren betrachteten und mit Karawanen durchzogen: von Asdschirr zum Aïr, von Adrâr nach Ahahaggar und zum Tassîli. In unseren geografischen Begriffen reicht dieser Raum von der westlichen Zentralsahara und der südlich anschließenden Sahelzone, von Touat bis Timbuktu und vom Fessan bis Zinder. Diese Orte und Landschaften liegen in Libyen, Mali, Niger, Nigeria und Algerien. Erst, nachdem diese Nationalstaaten gegründet waren, wurde die Bewegungsfreiheit der Tuareg eingeschränkt, ohne ihnen genügend Möglichkeiten einer neuen Ökonomie zu geben. Ghaddafi, der sich noch in den achtziger Jahren auch mit militärischen Mitteln zum Verfechter eines Touareg-Großstaates machte, ist gescheitert. Eine andere Option, die der offenen Grenzen, hat wohl eher Zukunft.
Dass Libyen selbst mit Ghaddafi an der Spitze nicht nur politisch immer noch ein Land der Überraschungen ist, zeigt sich daran, dass Ibrahim al-Koni nicht in die Rolle des Dissidenten gezwungen zu sein scheint. Neben zahlreichen europäischen Ehrungen erhielt er auch den libyschen Staatspreis für Literatur. Am Ende von Ein Haus in der Sehnsucht ist ausdrücklich vermerkt, dass der Text im Jahre 2000 im libyschen Tripolis, im schweizerischen Hünibach und in Alicante verfasst wurde.
Bücher von Ibrahim al-Koni:
Ein Haus in der Sehnsucht. Roman aus der Wüste. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Lenos, Basel 2003, 319 S., 22,50 EUR
Die Magier. Das Epos der Tuareg. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Lenos Pocket, Basel 2002, 838 S., 16,50 EUR
Schlafloses Auge. Aphorismen aus der Sahara. Ausgewählt und aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Mit Aufnahmen von Alain und Berny Sebe. Lenos, Basel 2001, 18,90 EUR
Goldstaub. Roman aus Libyen. Lenos Pocket, Basel 1999, 164 S., 9,95 EUR
Nachtkraut. Roman aus der Sahara. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Lenos, Basel 1999, 203 S., 21,50 EUR
Blutender Stein. Drei Romane aus der Wüste. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich und Regina Karachouli. Lenos, Basel 1998, 150 S., 9,95 EUR
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