Man hörte zuletzt viel von der drohenden humanitären Katastrophe für die Zivilbevölkerung in der Provinz Idlib. Der Regierung Assad, die angekündigt hatte, auch diese Region wieder unter ihre Kontrolle zu bringen, wurde unterstellt, bei einer anstehenden Offensive auch den Gebrauch von Giftgas zu erwägen. Außerdem wurde suggeriert, dass der russische Verbündete dies nicht verhindern werde, stehe der doch selbst unter Verdacht, skrupellos die Giftwaffe einzusetzen, selbst wenn es sich wie im Fall Skripal um ungefährliche Gegner handelt wie einen schon vor langer Zeit abtrünnig gewordenen Spion.
Da schien es dem Westen geboten, sich mit avisierten Gegenmaßnahmen in Stellung zu bringen, die Verteidigungsministerin von der Leyen auch fü
uch für Deutschland in Aussicht stellte. Dafür wäre allerdings eine Zustimmung des Parlaments notwendig wie bislang bei allen Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Zudem hat der Wissenschaftliche Dienst der Bundestages ausdrücklich darauf verwiesen, dass vom Völkerrecht nicht nur der Einsatz von Giftgas, sondern auch solcherart Racheaktionen ausgeschlossen seien. Die SPD hat sich entgegen ihrer früheren Haltung gegen ein Eingreifen verwahrt, nicht so die Grünen.Während der Schlachten um Aleppo, Ost-Ghuta bei Damaskus oder den an Israel und Jordanien grenzenden Südosten hat die Assad-Armee stets Korridore angeboten, die aus dem Inferno der Kämpfe hergeführt und dieses von vornherein verhindert hätten, wären diese Schleusen sofort genutzt worden. Es handelte sich um Durchgänge sowohl für Zivilisten als auch Rebellen, die sich ergeben wollten. Dass erstere – vor allem Frauen, Kinder und ältere Syrer– davon lange kaum Gebrauch machten, hing damit zusammen, dass sie von den Rebellen daran gehindert wurden. Man wollte Geiseln, um sie der Weltöffentlichkeit als Assads Opfer zu präsentieren. Am Ende – so ließ sich am Bildschirm beobachten – nutzten dann doch nicht wenige Rebellen den offerierten Transit, um mit ihren Familien und leichten Waffen in die Provinz Idlib gebracht zu werden, die an die Türkei grenzt. Obwohl diese Region zu einer Deeskalationszone erklärt wurde, was einer Waffenruhe gleichkam, gab es immer wieder Gefechte zwischen Rebellenverbänden und der syrischen Armee.Korridore für KombattantenMan muss dazu wissen, im März 2015 nahm die Allianz Dschaisch al Fatah den Raum Idlib fast vollständig ein, wurde aber Mitte 2017 von der Rebellengruppe Hayat Tahrir al Scham (HTS), der ehemaligen Al-Nusra-Front, aufgerieben. Kaum bekannt ist, dass die türkische Armee im Oktober 2017 – noch bevor sie Anfang 2018 das Distrikt Afrin besetzte – mit Leopard-2-Panzern und Truppentransportern in die Stadt Idlib einrückte und von der HTS wie der Freien Syrischen Armee (FSA) eskortiert wurde. Im Unterschied zum Vorstoß nach Afrin sollen die Türken in Idlib von den Friedensverhandlungen mit Russland und Iran in Astana gedeckt gewesen sein. Begründung: Damit würde das Gebiet von außen kontrollierbar. Dann aber forderten die Volksverteidigungskräfte der Kurden (YPG) wie die syrische Regierung den Abzug der Türken aus Idlib. Ankara winkte ab, man brauche diese Präsenz, um Fluchtströme in die Türkei zu verhindern.In Idlib befinden sich mittlerweile mehrere Zehntausend Rebellen. HTS – auch Komitee zur Befreiung der Levante genannt – soll mit etwa 10.000 Milizionären 60 Prozent des Territoriums kontrollieren. 14.000 Kämpfer des IS sind auf gut fünf Prozent des Terrains der Provinz konzentriert. Dazu kommen Kombattanten von Al-Qaida-Ablegern und der Freien Syrischen Armee.Die Regierungsstreitkräfte habe vor Taggen erneut das Angebot unterbreitet, Fluchtkorridore sowohl für die Zivilbevölkerung als auch kapitulationswillige Rebellen einzurichten, wodurch eine ganze Schlacht ausfallen könnte. Um Tod oder Gefangennahme der Rebellen zu verhindern, gibt es indes auch andere Lösungen: Eigentlich hätten diejenigen, die syrische Aufständische jahrelang mit Geld und Waffen alimentiert haben, diesen längst sicheres Exil anbieten müssen, wie das bei den Weißhelmen der Fall war. Das gehört sich so und sollte – da es sich bei den Rebellen angeblich überwiegend um Demokraten handelt – auch kein Problem sein. Gerade in diesem Punkt scheinen jedoch große Zweifel zu bestehen. Denn das Angebot eines Abzugs über die Türkei, der schon lange möglich ist, erging nur an wenige Rebellen aus Idlib.Jean-Yves Le Drian, Frankreichs Außenminister, spricht es offen aus: Europa fürchtet sich vor der Einreise Tausender von Islamisten. Wenn das so ist, sollte zumindest so viel Selbstbewusstsein vorhanden sein, anderen Sympathisanten und Sponsoren anzutragen, ihre Protegés aufzunehmen – etwa den USA, Saudi-Arabien und Katar. Stattdessen laufen die Propagandamühlen auf Hochtouren,Augenscheinlich besteht in Idlib nun eine andere Möglichkeit, die absolute Eskalation aufzuhalten. Wie in Moskau jüngst durch Verhandlungen mit der israelischen Regierung vereinbart wurde, dass Syriens Regierungsarmee den Südosten wieder bis zur Demarkationslinie mit Israel von 1974 kontrollieren kann, bahnt sich durch diplomatische Sondierungen auch Entspannung für Idlib an. Die Präsidenten Putin und Erdoğan haben zu Wochenbeginn in Sotschi vereinbart, einen ringförmigen Sicherheitsstreifen um die Provinz zu legen, über den sich sowohl Zivilisten als auch Kombattanten in die jeweils gewünschte Richtung absetzen können.Russland hat damit klare Prioritäten gesetzt, weil vermieden, dass durch einen Angriff auf Idlib das Verhältnis zur Türkei über Gebühr beschädigt wird. Freilich muss damit gerechnet werden, dass ein Teil der islamistischen Kämpfer nicht abzieht, sondern die Regierungsarmee attackiert. Allerdings tragen nach den Absprachen von Sotschi die türkische Armee und russische Militärpolizei gemeinsam die Verantwortung dafür, dies zu verhindern. Dennoch ist die Gefahr, dass Idlib zu einem größeren Konflikt führt, nur in Maßen geringer geworden.