Nofretete gehört zu meinen frühesten ästhetisch prägenden Erlebnissen. Nach dem Krieg wurde sie auf Initiative der amerikanischen Militärverwaltung in Wiesbaden ausgestellt, wo ich, mit meiner Mutter aus Leipzig kommend, 1953 einen Verwandtenbesuch machte. Meine Mutter wollte sie unbedingt sehen.
Weil sie begründen musste, weshalb sie mich einen langen Vormittag der Obhut meiner Urgroßmutter überließ, erzählte sie mir ausführlich von dieser phantastischen, mehrere tausend Jahre alten Büste, die die schönste Frau der Welt darstelle. Sie brachte mir auch eine Postkarte aus dem Museum mit, die meinen Schönheitsbegriff prägen sollte.
Dass sie mich damals nicht mitgenommen hatte, verzieh ich ihr immer weniger. Denn für uns Ostbürger blieb Nofretete jahrzehntelang unerreichbar. Ihr altes Domizil, das Neue Museum, lag in Schutt und Asche, direkt gegenüber dem Haus Clara-Zetkin-Straße 1, in dem ich zwischen 1967 und 1972 Romanistik studierte. Wenn ich aus dem Fenster auf die Ruine sah, ergriff mich manchmal Wut, weil sich mein Berufswunsch Archäologie nicht hatte realisieren lassen. Dann träumte ich, wenigstens einmal in die Ruine einzudringen, um dort etwas zu buddeln und vielleicht eine der vielen, in der alten Sammlung vorhanden gewesenen Uschebti-Statuetten zu finden, die in ägyptischen Gräbern massenhaft als Miniaturdiener fungiert hatten.
Hin und wieder war die Rede davon, dass das Neue Museum wieder aufgebaut werden solle. Es geschah aber nichts. Dass Nofretete einmal hierher zurückkehren könnte – ein unerfüllbar scheinender Traum!
Als ich 1982 dann zum ersten Mal im Ägyptischen Museum von Charlottenburg bewegt vor ihr stand, war ich irritiert. Mir stieß nicht nur der fabelhafte Erhaltungszustand auf, sondern auch die Einzigartigkeit der Büste im Vergleich mit den Exponaten der Amarna-Kultur im Ostberliner Bode-Museum. Beides fiel freilich in der Westberliner Ausstellung wenig auf, weil Nofretete sich hier in Nachbarschaft von scheinbar ähnlich singulären Höhepunkten der ägyptischen Kunst befand wie dem Grünen Kopf, der 1.000 Jahre nach ihr entstand.
Die schmale Nase!
In Charlottenburg hatte sich ein unhistorisches, nur nach dem vermeintlichen Kunstwert orientierendes Ausstellungskonzept quasi von selbst ergeben, weil die herausragenden Stücke der alten Preußischen Sammlung im Krieg an anderer Stelle ausgelagert gewesen waren als die Masse der – aus damaliger Sicht – weniger wertvollen Exponate. Diese fanden sich später im Osten wieder.
Dazu gehörten auch die meisten anderen Stücke aus Amarna, der von Nofretetes Gatten, Pharao Echnaton, neu errichteten Hauptstadt, in der die Vielgötterei verboten war und nur noch dem Sonnengott Aton gehuldigt werden durfte. Hier entstand auch ein neuer Stil der Kunst, der mit der Sitte brach, standardisierte Skulpturen von Persönlichkeiten herzustellen, bei denen die Nachfolger nur den Namen ausmeißeln und durch ihren eigenen ersetzen lassen mussten.
Echnaton förderte eine realistischere Kunst, die Individuelles wiedergab, auch wenn es wenig attraktiv war wie sein eigener, von Epilepsie gezeichneter Körper. Weil ich die Vergleichsstücke aus dem Bode-Museum gut kannte und 1982 direkt aus Nordafrika kam, setzte sich in mir damals der Verdacht fest, dass sich nur im Bode-Museum echte Porträts von Nordafrikanerinnen befanden, während die Charlottenburger Nofretete europäisch wirkte, eigentlich wie eine Kosmetikreklame!
Verdächtig: der im Vergleich kleine Mund, die schmale Nase, die Zartheit des Unterkiefers, ja, des ganzen Kopfes! Ich umschlich sie mehrfach. Als ich den Hals im Profil und von hinten studiert hatte, schwor ich mir, ihn mit den Hälsen der Büsten in Ostberlin zu vergleichen, an denen ich diese elegante Schwingung bislang nicht wahrgenommen hatte. Die Nofretete, vermutete ich seitdem, ist wahrscheinlich eine Fälschung, in der Jugendstil anklingt.
Zweifel an der Echtheit der Skulptur wurden immer wieder geäußert. Die hervorstechendste Besonderheit – der ausgeprägte Realismus, der zugleich idealisierend wirkt – wurde meist mit der merkwürdigen Behauptung entkräftet, dass es sich nur um die Vorstufe einer Skulptur gehandelt habe, um ein wirklichkeitsnahes Atelierbild, nach dem später die eigentliche künstlerische Abstraktion gestaltet werden sollte.
Für eine solche Arbeitsweise der alten Ägypter gibt es meines Wissens aber kein Referenzbeispiel. Immerhin besaß Ludwig Borchardt, der sie 1912 oder 1913 ausgegraben haben wollte, die Skrupel, sich zeitlebens gegen eine öffentliche Ausstellung der Büste zu wenden.
Niederschmetternder als die Vorstellung, dass er sie aus Originalmaterialien herstellen ließ, um dem Mäzen, James Simon, einem Kaiserfreund und Unternehmer aus der wilhelminischen Ära, frisches Geld für neue Grabungen abzulocken, ist die Information, dass Hitler veranlasst hatte, eine Kopie herzustellen, selbstverständlich ebenfalls aus Originalmaterialien.
Denn die Ägypter verlangten die Nofretete schon damals zurück und Hitler wollte ihnen das mittlerweile berühmte Kunstwerk – in Form der Fälschung – auch geben, womöglich um sie als Bundesgenossen gegen England zu gewinnen, unter dessen Vormundschaft das Land damals stand.
Da sich nach dem Krieg statt zweier, aber nur eine Nofretete gefunden hat, wisse man nicht – so ein Radio-Feature –, ob wir es seitdem mit Borchardts oder mit Hitlers Nofretete zu tun haben. Letzteres scheint nun ausgeschlossen. Die Büste wurde immer wieder untersucht, durchleuchtet und für absolut echt erklärt.
Nofretete beim Stillen
Erstaunlicherweise hat man aber erst kürzlich entdeckt, dass in ihrem Inneren eine zweite Büste aus Kalkstein steckt, die wohl ebenfalls die Königin Nofretete darstellt, aber ohne kosmetisches Styling. Eher dem Amarna-Stil entsprechend, soll sie eine gealterte Frau zeigen, mit der Andeutung von Falten und erschlaffter Hautpartien.
In der aktuellen Ausstellung wird die Singularität des Prestigeobjekts wirkungsvoll betont. Es steht allein in einer Rotunde und nicht dort, wo es historisch hingehört, in die Nachbarsäle nämlich, die die Exponate der Amarna-Epoche beherbergen. Allerdings würde allzu sehr ins Auge stechen, dass die dort ausgestellten Konterfeis der Königin zwar ähnlich sind, aber doch andere, eben nordafrikanische Gesichtsproportionen aufweisen: kräftigere und noch sinnlichere Lippen, rundere Kiefer und Wangen. Berührend persönlich und kunsthistorisch wirklich sensationell sind in den Amarna-Sälen jene Reliefs, die intime Szenen der Königsfamilie abbilden: Man sieht Nofretete beim Stillen oder wie sie Echnaton einen Halsschmuck anlegt.
Zurecht berühmt ist das Relief, das das Paar in zärtlicher Pose mit dreien seiner sechs Töchter zeigt. Nicht finden konnte ich Darstellungen, die Nofretete weniger sympathisch, nämlich als kriegerische Amazone offenbaren, einmal einen Streitwagen lenkend, ein andermal, wie sie mit einer Keule auf einen Gefangenen einschlägt.
Mein alter Traum ist erfüllt. Die durch den Krieg getrennten, wertvollen und angeblich weniger wertvollen Stücke der ägyptischen Sammlung der Preußen sind wiedervereinigt. Das Neue Museum ist wieder da, ein denkwürdiges Zeugnis wilhelminischer Baukunst und Museumskultur, zu der auch unverhohlene Großmannssucht gehörte. Geheilt davon sind auch die Museumsleute von heute noch nicht, wie das Ausstellungskonzept zeigt, das – durchaus nach dem Vorbild alter fürstlicher Sammlungen – eher den Kunstwert der Exponate hervorhebt, als dass es kulturhistorische Zusammenhänge zu vermittelt.
Immerhin hat der Architekt David Chipperfield mit seiner genialen Teilrekonstruktion den eindimensionalen Blick verhindert und die Brüche der Geschichte, die das Gebäude erlebte, nicht zugekleistert. Damit weist er einen Weg, der aus der Sackgasse führen kann. Ein Schritt wäre, die Nofretete zurückzugeben, wie es Ägypten erneut fordert. Die dortige Altertumswissenschaft könnte inzwischen aufgeklärt genug sein, um das Trugbild zu entzaubern und die Säge anzusetzen – wobei erfreulicherweise eine neue, bislang unbekannte Nofretete zum Vorschein käme. Wahrscheinlicher ist, dass auch dort die Rücksicht auf die Tourismusindustrie alle kunsthistorischen Skrupel überwiegt.
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