Am 14. Dezember 1942 verurteilte in Berlin das Reichskriegsgericht Ilse Stöbe und Rudolf von Scheliha – beide Mitarbeiter der Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes – wegen Landesverrats zum Tode. Am 22. Dezember 1942 wurden sie hingerichtet. Ilse Stöbe hatte etwa zehn Jahre dem Geheimdienst der Sowjetarmee Informationen übermittelt, die Scheliha und ab 1940 auch sie selbst im Ribbentrop-Ministerium abgreifen konnten – unter anderem den Termin des Unternehmens Barbarossa, des Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Obwohl es unwahrscheinlich klingt, soll Scheliha geglaubt haben, für die Engländer zu arbeiten. So wurde er 1995 rehabilitiert, während Ilse Stöbe, die „schöne Kommunistin“, bis heute nicht für würdig befunden wird, auf der neuen, seit 2000 vorhandenen großen Gedenktafel im Auswärtigen Amt erwähnt zu werden. Sie gilt weiter als Landesverräterin.
Absurde Rollenspiele
Nachdem der vom damaligen Außenminister Fischer in Auftrag gegebene Bericht Das Amt und die Vergangenheit die Kontinuität der Freund-Feind-Festlegungen im Außenministerium bis in die jüngste Zeit hinein gezeigt hat, werden Forderungen lauter, auch Ilse Stöbe unter jenen Patrioten zu führen, „die – aus welchen Motiven auch immer – die Tugend des Verrats übten und die nach 1945 vom Korpsgeist geächtet blieben“ (Die Zeit).
Ilse Stöbe wäre am 17. Mai 2011 hundert Jahre alt geworden. Es gibt bislang wenig Dokumente, die es erlauben, ihre äußerst vielschichtige Persönlichkeit zuverlässig zu rekonstruieren. Was auch daran liegt, dass diese linke Mata Hari die Kunst der Verstellung, die ihre Aufgabe verlangte, virtuos beherrschte und absurde Rollenspiele einging wie 1935 als NSDAP-Mitglied und Referentin für die kulturelle Betreuung der deutschen Diplomatengattinnen in Warschau. Oder als Erbin des reichen Schweizer Verlegers Rudolf Huber oder als Schriftleiterin eines Departments im Auswärtigen Amt. In ihrem Abschiedsbrief aus der Todeszelle in Berlin-Plötzensee an ihren letzten Lebensgefährten Karl Helfrich bedauert Stöbe, nun den Roman nicht mehr schreiben zu können, „der an der Gestalt einer Frau den Verfall einer Idee aufzeigt, die Zeit des Suchens mit ihren trügerisch üppigen und schillernden Blüten, die Wucht der Wandlung und schließlich das Sprengen der künstlich gestutzten Form, das tiefe Atemholen, das Deutschlands Brust über die alten Grenzen hinaus weitete… Und die tragende Gestalt darf ruhig, soll sogar eine Frau sein, denn sie ist mehr Gefäß als ein Mann und auch mehr Spiegel der Zeit.“ Der ebenfalls verhaftete Helfrich wird gewusst haben, dass sie sich mit diesen Zeilen nicht von ihrer Überzeugung distanzierte, sondern auch hier noch eine Nebelkerze für die Gefängniszensur warf, um ihn zu schützen. Pfarrer Harald Poelchau, der sich mit ihr als Letzter in der Todeszelle unterhielt, schrieb 1949: „Sie war ein schönes kluges Mädchen, gewöhnt, politisch zu denken und zu arbeiten.“
Wegen mangelnder Dokumente bleibt Ilse Stöbe bis heute ein Mythos, wirkt sie wie ein Opfer gegensätzlicher Instrumentalisierungen. Ein einziges Zeugnis entstand noch zu ihren Lebzeiten, ein paar Jahre vor ihrer Enttarnung. Theodor Wolff, der große Chefredakteur des linksliberalen Berliner Tageblatts, dessen Sekretärin sie bis 1933 war, hat 1937, schon im Exil, einen Roman über sie in Zürich veröffentlicht. Die Schwimmerin erzählt von der Liebe eines alten Mannes zur jungen Gerda, die – umgeben von jungen Männern – ihn in Berlin Unter den Linden anspricht und um einen Job bittet. Fasziniert von der Schönheit und dem selbstsicheren Auftreten des 16-jährigen Proletariermädchens, tut er fortan alles, sie beruflich zu fördern und im Leben zu verwöhnen – obwohl sie ihn als Mann und Bourgeois ablehnt. Theodor Wolff lässt den Leser ahnen, dass sie Kommunistin ist und für eine höhere Sache lebt. Und jetzt, da er in Nizza das Buch schreibt, fleht er sie an, sich zu ihm in Sicherheit zu bringen – vergeblich. Wolff wollte Die Schwimmerin mit Greta Garbo in Hollywood verfilmen lassen. Als das scheiterte, bot er die Rolle Elisabeth Bergner an, die ablehnte, weil ihr die politische Mission, der sich Gerda verpflichtet fühlte, zu unscharf dargestellt schien.
Irina Liebmann beschrieb 2008 in Wäre es schön? Es wäre schön!, was Wolff nicht wusste: Ilse Stöbe war seit 1928 mit ihrem Vater Rudolf Herrnstadt liiert, der von 1932 bis 1936 für das Tageblatt Korrespondent in Warschau war und dort Kontakt zum Nachrichtendienst der Roten Armee hielt. Er war es, der Scheliha und Stöbe anwarb und auch deren Verbindungsmann blieb, nachdem er sich in die Sowjetunion absetzen musste.
Weil Herrnstadt als Chefredakteur der Zeitung Neues Deutschland 1953 Forderungen der Arbeiter vor dem 17. Juni unterstützte und so in der DDR zur Unperson wurde, gab es dort lange kaum Interesse an der Widerstandskämpferin Ilse Stöbe. 1974 schrieb der sowjetische Autor Juri Korolkow den Report Die innere Front, in dem sie unter ihrem richtigen Namen auftaucht, Rudolf Herrnstadts Name aber geändert ist. Von Korolkow inspiriert, begann die Schriftstellerin Elfriede Brüning noch zu DDR-Zeiten mit Recherchen für ein Buch über Stöbe, stieß aber auf Widerstände. Ob ihr damals das Auswärtige Amt in Bonn auf die briefliche Bitte, in dessen Archiv nach Spuren von Stöbe suchen zu dürfen, geantwortet hätte, ist fraglich – doch endete die Reise des Briefes bei der Postzensur der Staatssicherheit.
Romantische Verklärung
Im Auftrag des DDR-Militärverlags erschien 1980 Gerhard Zimmermanns Roman Die große Unbekannte. Laut Klappentext war das „Vorbild für die Frauenfigur das Leben der antifaschistischen Widerstandskämpferin Ilse Stöbe“. Das als Abenteuerroman verfasste Buch irritiert besonders deshalb, weil die hübsche, kluge Hilde Göbel immer wieder wie ein kleines Mädchen von weitaus klügeren Männern instruiert wird. Der ebenfalls in deutlichem Bezug zu seinem wirklichen Namen Udo von Lewizow auftretende Rudolf von Scheliha wird als debiler Lebemann gezeigt, dem man keine jahrelange zuverlässige Spionagetätigkeit zutrauen mag. Stöbes reiches Erbe in der Schweiz tritt bei Zimmermann eine ihrer Kolleginnen vom Berliner Tagblatt an, das im Buch auch mal als „Käseblättchen“ bezeichnet wird. Im Vornamen von Hildes Liebsten Bruno – einer der Arbeiter, die sie anleiten – ist freundlicherweise das „ru“ vom echten Rudolf Herrnstadt übrig geblieben, der aber bekanntermaßen bürgerlicher Herkunft war. Wie dieser flüchtet Bruno in die UdSSR und kooperiert mit der Roten Armee. Warum aber Ulrich Sahm dann 1994 in einem Aufsatz über Ilse Stöbe Herrnstadt immer noch aussparte, wissen die Götter. Vermutlich erleichterte das die Rehabilitierung Rudolf von Schelihas. Laut Gestapo-Akten hat Ilse Stöbe unter der Folter nichts Wesentliches preisgegeben. Sie hat, wie Irina Liebmann schreibt, „nur klug geantwortet. Sie hat diejenigen belastet, die in Sicherheit waren wie Herrnstadt oder nicht mehr zu retten wie Scheliha … Dem Juden Herrnstadt sei sie sexuell hörig gewesen, und der Adlige Scheliha habe Geld gebraucht für seinen dekadenten Lebenswandel. Das saß, das wurde ihr abgenommen, damit galt sie als voll geständig.“ Einer Mitgefangenen sagte sie, „mindestens drei Männern und einer Frau das Leben gerettet“ zu haben.
Elfriede Brüning verzichtete seinerzeit auf ein Buch, publizierte 2003 aber einen Essay über Ilse Stöbe. Es gibt dort eine fast bizarr klingende Episode, die ihr Greta Kuckhoff, eine Überlebende der Schulze-Boysen-Harnack-Gruppe anvertraut hat. Sie saß in Stöbes Nachbarzelle und hatte am 14. Dezember Geburtstag. Ihren Wunsch, ein Schubert-Lied zu hören, konnte natürlich niemand erfüllen. Aber als Ilse Stöbe von ihrem Prozess mit dem Todesurteil zurückgebracht worden war, ertönte es plötzlich aus ihrer Zelle: „Du bist die Ruh’, der Friede mild, die Sehnsucht du, und was sie stillt.“ Romantische Verklärung? Auch Theodor Wolffs Schwimmerin sang mit wunderbarer Stimme klassische Lieder.
Sabine Kebir ist Schriftstellerin, Essayistin und Literaturwissenschaftlerin
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