Ein Heer giftiger Ameisen

Neue Schlachtordnung Vom richtigen Verstehen der Terrorakte im Nahen Osten und in Nordafrika hängt mehr und mehr die Zukunft der Menschheit ab

Es gab weltweit nicht wenige Stimmen, die nach dem 11. September den USA rieten, auf diesen demonstrativen Akt der Gewalt gegen Unschuldige allein mit rechtsstaatlichen Mitteln der Strafverfolgung zu reagieren. Dadurch wäre das zivilisatorische Ziel der Demokratie, das der Westen als das seinige vorgibt, glaubwürdig unterstrichen worden. Statt dessen wurde eine Spirale der Gewalt gegen muslimische Kollektive in Gang gesetzt, von denen mehr oder weniger berechtigt vermutet wird, dass sie direkt oder nur indirekt mit dem Terrorakt gegen das World Trade Center in Verbindung stehen.

Allein schon die vorhersehbare Unschärfe der Treffsicherheit einer rächenden Gewalt Amerikas veranlasste viele, bereits im Herbst 2001 vor einer weltweiten Eskalation des Terrors zu warnen. Diese Sorge hat sich auf schreckliche Weise erfüllt. Der Krieg, den die USA und willige Alliierte statt dessen gegen die Muslime Afghanistans und des Irak geführt haben, führt nun zu einer Terrorserie, von der niemand weiß, wann und wie sie überhaupt zum Stillstand gebracht werden kann. Zum Urheber der Attentate von Riad und Casablanca hat sich Osama bin Laden erklärt - eine Bestrafung der muslimischen Länder sei es gewesen, deren Regierungen sich im Krieg um die Neukolonialisierung des Irak allzu willig gezeigt hätten.

Hamas und Dschihad wurden einst mit Hilfe der USA und Israels gegründet

Gleichgültig, ob es der wirkliche bin Laden war oder eine verschworene Gruppe, die lediglich das Label nutzt, ist jetzt praktisch ein Weltkrieg erklärt. Im Unterschied zu früheren Weltkriegen stehen sich diesmal freilich nicht in etwa gleichartig gerüstete Armeen gegenüber. Was stattfindet, erinnert an Huntingtons Clash of Civilisations - die von ihm prophezeite Konfrontation zwischen ethnisch und religiös definierbaren Gegnern ist tatsächlich eingetreten. Die eigentliche Gefahr jedoch besteht in der Asymmetrie der zum Einsatz kommenden Mittel. Die Supermacht kämpft mit einem High-Tech-Arsenal gegen ein Heer von giftigen Ameisen, ebenfalls in einer globalen, aber undurchschaubaren Schlachtordnung aufgestellt. Die Kämpfer der Supermacht und der ihr willigen Staaten wollen - wie es auch für frühere Weltkriege charakteristisch war - ihr Leben möglichst behalten. Die Gegner hingegen können ihren derzeitigen Perspektiven auf Erden offenbar so wenig abgewinnen, dass sie bereit sind, ihr Leben zu opfern. Obwohl diese Konstellation historisch den antikolonialen Befreiungskriegen entspricht, ist durch die weltweite Verkeilung der beiden ungleichen Heere eine qualitativ neue Lage entstanden. Es genügt, dass nur ein Bruchteil der jeweiligen Gewaltpotenziale zum Einsatz kommt, um immer größere und eigentlich unbeteiligte Menschengruppen in einen realen oder virtuellen Kriegszustand zu stürzen.

Es war Präsident Carter, der eine Politik der Menschenrechtsapologetik zum friedlichen Vehikel der Demontage des Kommunismus und der Ausbreitung der westlichen Demokratie bestimmte. Der amerikanische Journalist John K. Cooley (*) hat dazu in seiner bislang nur in englisch und französisch vorliegenden Schrift Unheilige Kriege detailliert beschrieben, wie sich die USA nach dem Vietnam-Desaster zunächst keine kriegerischen Interventionen mehr leisten konnten, aber parallel zur Menschenrechtspolitik Carters im Verborgenen weltweit Stellvertreterkriege entfachten. Ein wesentliches Ziel war es, den Ausbau sozialistischer Systeme in den islamischen Ölregionen zu verhindern. Bei Cooley kann man nachlesen, wie das Bündnis mit den Saudis funktionierte, und die USA mit ihnen gemeinsam islamistische Strukturen formierten und finanzierten. Cooley hat Dokumente zu Tage gefördert, nach denen die Sowjetunion 1979/80 regelrecht zur Invasion nach Afghanistan gelockt worden ist, um dadurch das Ende sozialistischer Experimente in Asien einzuleiten. Später war es kein Zufall, dass islamistische Gruppierungen vor allem in Ägypten und Algerien operierten: In beiden Ländern war die Konstruktion gesellschaftlicher Solidarsysteme innerhalb der islamischen Welt am weitesten fortgeschritten. Obwohl der islamistische Terror auch damals schon keineswegs als Anwalt der Menschenrechte galt, sich aber im Kampf gegen alles, was auch nur den Anschein von Sozialismus hatte, als äußerst effizient erwies, wurden seine Prätorianer im Westen ungeniert als Freiheitshelden gefeiert.

Cooley verweist auf geschichtliche Parallelen beim Gebrauch von Söldnerheeren. Da der wirkliche Kriegsherr die Kompensationserwartung der Söldner im allgemeinen nicht erfüllen könne, sei nicht zu verhindern, dass die auch im eigenen Interesse handelten - schlimmstenfalls auch gegen den Kriegsherren selbst. Genau das geschah nach dem Rückzug der Sowjets aus Afghanistan. Die USA signalisierten den aus der gesamten islamischen Welt stammenden Kämpfern rasch, dass sie die Kriegsbeute nicht mit ihnen, sondern nur mit den islamischen Ölmagnaten teilen würden - eine Allianz, die von vornherein eine neokoloniale, keineswegs eine demokratische Perspektive hatte. Es hätte dem neoliberalen Dogma eben viel zu sehr widersprochen, die Masse der islamistischen Söldner in eine postsozialistische ökonomische Perspektive einzubinden. Die Amerikaner waren unklug genug, nicht einmal Minimalerwartungen der muslimischen Gemeinschaft zu erfüllen, die nicht zuletzt auf einen einigermaßen gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina gerichtet waren. Da nichts dergleichen geschah, verwandelten sich die während des Kampfes gegen den Kommunismus zwar latent vorhandenen, aber stets gebändigten anti-amerikanischen Ressentiments der Muslime in offene Feindschaft.

Auch in Gilles Kepels Schwarzbuch des Dschihad (**) wird gezeigt, dass islamistische Formationen der Palästinenser wie Hamas und Dschihad mit Hilfe der USA und Israels gegründet wurden, um eine (nur unterschwellig) marxistisch orientierte PLO zu schwächen und verbindliche Vertragslösungen hinaus zu zögern oder gar zu verhindern. Es verwunderte daher nicht, dass Ariel Sharon nach dem 11. September 2001 eine gewalttätige Antwort der USA klar bevorzugte. Sie entsprach nicht nur eigenen Handlungsmaximen, sondern auch der Absicht, einen eskalierenden Terror der Palästinenser zu provozieren, den er als Vorwand brauchte, um die Bildung eines lebensfähigen Staates Palästina weiterhin zu blockieren.

Nicht nur Rückzugsgebiet, sondern auch strategischer Handlungsraum für al Qaida

Augenblicklich sind nur noch die tschetschenischen Islamisten für die westlichen Medien gute Terroristen, denn sie kämpfen gegen die noch immer nicht ganz gekappte Verankerung des Nordkaukasus im untergegangenen Sowjetreich. Mit der Entführung europäischer Touristen werden die algerischen Terroristen dagegen endgültig von Freiheitshelden zu Verbrechern herabgestuft. Als sie ihre Landsleute massakrierten, wollte man eher an einen Kampf gegen ein besonders repressives System glauben oder einfach nur an ein Gemetzel innerhalb eines leider barbarisch gebliebenen Volkes. Plötzlich muss man dem algerische Regime und seiner Armee dankbar sein, dass sie genügend diplomatisches Geschick und militärische Erfahrung besitzen, zumindest einen Teil der Gefangenen zu retten.

Da sich Algerien wegen seines Anti-Terror-Kampfes seit dem 11. September als Verbündeter der USA betrachtet, waren Demonstrationen gegen den Irakkrieg in Algier regierungsamtlich verboten und fanden in den kleinen Orten, in denen man sie erlaubt hatte, kaum statt. Von daher steht die Entführung der Touristen durchaus in einer gewissen Beziehung zu den Attentaten von Riad und Casablanca. Sie ist nicht nur ein Signal an den Westen, sondern auch an die algerische Regierung, die de facto zu den "willigen Koalitionären" der USA gehört. Es sollte uns nicht nur aus touristischen Gründen interessieren, dass die Sahara, die zuletzt als "terroristenfrei" galt, nun offenbar nicht nur Rückzugsgebiet, sondern auch strategischer Handlungsraum für al Qaida geworden ist.

Wenn es überhaupt noch einen Weg zum Frieden gibt, dann kommt Europa eine Schlüsselrolle zu. Auch auf die Gefahr hin, nicht mit einer Stimme sprechen zu können, muss es die von einer Mehrheit geforderte und vor dem Irak-Krieg auch von den meisten Regierungen manifestierte Politik des Gewaltverzichts fortsetzen. Wenn Kerneuropa bisher von großen Attentaten verschont blieb, ist dies zweifellos ein Anzeichen dafür, dass sich diese Politik auch auszahlt. Kontraproduktiv und gefährlich sind dagegen die jüngsten Verlautbarungen der EU, neben den USA ein eigenes antiterroristisches Militärpotenzial aufbauen zu wollen, das mit oder ohne die USA auch außerhalb Europas und der NATO agiert. Da sich der Gewaltverzicht bereits jetzt als beste Defensivmaßnahme bewährt hat, ist diese Kehrtwende auf das Energischste abzulehnen. Europa darf bei der Politik eines eigenen Gewaltverzichts nicht stehen bleiben. Nur wenn es gelingt, diese Position auch in den USA und Israel durchzusetzen, hat der Frieden eine Chance.

(*) John K. Cooley: Unholy Wars: Afghanistan, America and international terrorism, Pluto Press 2000

(**) Gilles Kepel: Das Schwarzbuch des Dschihad. Aufstieg und Niedergang des Islamismus, München 2002


Macht und Glaube

Militärische Formationen des politischen Islam

Al Qaida Das Netzwerk wurde durch den saudischen Millionär Osama bin Laden aufgebaut. Al Qaida handelt im Namen der Umma, der über fünf Kontinente verteilten "Gemeinschaft der Muslime". Rückgrat der Infrastruktur soll bis 2001 Afghanistan gewesen sein. Die Organisation wird für die Attentate vom 11. September 2001 verantwortlich gemacht. Eindeutige Beweise dafür gibt es nicht.

Hizbollah Im libanesischen Bürgerkrieg (1975 - 1983) formierte Gruppierung, die finanzielle und logistische Unterstützung aus dem Iran erhalten soll und für einen islamischen Staat im Libanon eintritt, sie ist häufig an Attentaten gegen die israelische Armee und israelische Siedlungen beteiligt. Entscheidender Impuls der Formierung waren die verlorenen Kriege der Araber gegen Israel 1967 und 1973.

Hamas und Dschihad Der Nukleus des palästinensischen Widerstandes gegen die israelische Besatzung des Westjordanlandes. Beide Formationen berufen sich auf den Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen. Hamas- und Dschihad-Mitglieder sind seit Ausbruch der al-Aqsa-Intifada (September 2000) häufig an Selbstmordattentaten gegen Israelis beteiligt. Die USA beschuldigen Syrien, Camps dieser Gruppen zu dulden.

Gamaa Islmija Militante Formation in Ägypten, die ebenfalls für einen islamischen Gottesstaat eintritt. Sie bestreitet Kontakte zu Osama bin Laden. Seit Ende der neunziger Jahre ist ein deutlich reduzierter Aktionsradius und ein verminderter Einfluss auf die Gläubigen in den Großstädten des Landes festzustellen. Die ägyptische Regierung will große Teile der Organisation inzwischen zerschlagen haben.

Armée Islamique du Salut (AIS)/ Groupe Islamique Armé (GIA) Die AIS galt seit 1992 als bewaffneter Arm des verbotenen Front Islamique du Salut (FIS) in Algerien. Die Terrorkommandos des GIA, die seit 1993 ebenfalls als Teil des islamistischen Widerstandes in Algerien gegen Armee und Regierung operieren, beriefen sich anfangs auf den FIS, sind inzwischen aber von der Bewegung abgespalten.

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